Inhalt

Vergabekammer München, Beschluss v. 21.09.2020 – 3194.Z3-3_01-20-11
Titel:

Anwendbarkeit zivilprozessualer Regelung auf das besondere elektronische Behördenpostfach der Vergabekammer

Normenketten:
GWB § 161 Abs. 1 S. 1
ZPO § 130a Abs. 3, Abs. 4 Nr. 2
VgV § 63 Abs. 1
Leitsätze:
1. Die Regelung des § 130a Abs. 3, Abs. 4 Nr. 2 ZPO ist auf die Übermittlung von Nachprüfungsanträgen vom besonderen elektronischen Anwaltspostfach auf das besondere elektronische Behördenpostfach der Vergabekammer sinngemäß anzuwenden, weil hier eine planwidrige Regelungslücke vorliegt.
2. Ist eine Prognose des Auftragswerts bereits methodisch nicht vertretbar, da keine Methode gewählt wurde, die ein realitätsnahes Ergebnis erwarten lässt, ändert auch ein Risikozuschlag von 10% an der Unvertretbarkeit einer solchen Kostenermittlung nichts.
3. Das Aufhebungsermessen ist zumindest dann nicht ermessensfehlerfrei ausgeübt, wenn der Auftraggeber keinerlei Preisaufklärung hinsichtlich des Angebots der Antragstellerin betrieben hat, die Besonderheiten der Kalkulation des Angebots nicht kennt und keinerlei Interessenabwägung vorgenommen und dokumentiert hat.
Schlagworte:
Ermessensentscheidung, laufendes Nachprüfungsverfahren
Fundstelle:
BeckRS 2020, 27067

Tenor

1. Es wird festgestellt, dass die Aufhebung des Vergabeverfahrens „Verwertung Rechengut“ rechtswidrig war und die Antragstellerin dadurch in ihren Rechten verletzt wurde.
2. Die Antragstellerin und die Antragsgegnerin tragen die Kosten des Verfahrens gesamtschuldnerisch jeweils zur Hälfte. Ihre zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung und -verteidigung notwendigen Aufwendungen tragen die Parteien jeweils selbst.
3. Für das Verfahren wird eine Gebühr in Höhe von…,00 EUR festgesetzt. Auslagen sind nicht angefallen. Die Antragsgegnerin ist von der Zahlung der Gebühr befreit.
4. Die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten durch die Antragstellerin und die Antragsgegnerin war notwendig.

Gründe

I.
1
Die Antragsgegnerin schrieb die Verwertung des Rechengutes aus der mechanischen Reinigung des Klärwerkes A… für die Jahre 2020 - 2025 mit Bekanntmachung im Supplement des Amtsblattes der EU vom 09.01.2020 unter der Nr. 2020/S … im offenen Verfahren europaweit aus. Gemäß Ziffer II.2.5) der Auftragsbekanntmachung war der Preis das einzige Zuschlagskriterium. Der Vertrag nach Ziffer II. 2.7) sollte eine Laufzeit vom 01.07.2020 bis zum 30.06.2025 haben.
2
Bis zum Schlusstermin am 11.02.2020 gab die Antragstellerin als einzige Bieterin ein Angebot in Höhe von 1.349.460,00 Euro (brutto) ab.
3
Am 14.02.2020 stellte die Antragsgegnerin in einer internen E-Mails folgende Erwägungen für das weitere Vorgehen an:
„Rückfragen beim Bieter sowie potentiellen weiteren Bietern haben ergeben, dass die Vertragslaufzeit von 5 Jahren aufgrund der aktuellen unklaren Marktsituation bei hoher Verbrennungspreisen sehr schwer zu kalkulieren ist. Daher wurde entweder kein Angebot abgegeben, bzw. ist im Angebot ein entsprechend hoher Sicherheitsaufschlag enthalten. Angedachte weitere Vorgehensweise: Aufhebung der Ausschreibung gern. VgV § 63(1). 1. „kein wirtschaftliches Ergebnis“ […] Daher: neues offenes Verfahren mit Vertragslaufzeit 2 Jahre; Anpassung der Kostenschätzung an die offenbar aktuell gegebene Marktsituation. Durch die Reduzierung der Vertragslaufzeit erhoffen wir uns dann einen breiteren Wettbewerb sowie ggf. auch niedrigere Preise aufgrund der besseren Kalkulierbarkeit“.
4
Mit Schreiben vom 17.02.2020 teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin mit, dass die Ausschreibung nach § 63 Abs. 1 Nr. 3 VgV aufgehoben werde, da kein wirtschaftliches Ergebnis erzielt worden sei. Es sei stattdessen beabsichtigt, ein neues Vergabeverfahren mit einer reduzierten Vertragslaufzeit von nur noch 2 Jahren durchzuführen. Am 17.02.2020 veröffentlichte die Antragsgegnerin eine dementsprechende neue Auftragsbekanntmachung unter der Nr. 2020/S …, die eine Vertragslaufzeit vom 01.07.2020 bis 30.06.2022 vorsah, ansonsten aber hinsichtlich des Leistungsinhalts identisch zum streitgegenständlichen Vergabeverfahren war.
5
Daraufhin rügte die Antragstellerin am 26.02.2020 die Aufhebung der Ausschreibung als vergaberechtswidrig, da entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin das eigene Angebot auskömmlich und zuschlagsfähig sei. Die Aufhebung der streitgegenständlichen Ausschreibung sei daher aufzuheben, das Vergabeverfahren fortzuführen und die neue Ausschreibung aufzuheben.
6
Die Rüge wurde am 02.03.2020 von der Antragsgegnerin zurückgewiesen, da das Angebot der Antragstellerin „[…] die im Vorfeld der Ausschreibung dokumentierte Kostenberechnung um ein Vielfaches“ übersteige, sodass es unannehmbar sei.
7
Am 03.03.2020 teilte die Antragsgegnerin mit, dass das neue Vergabeverfahren mit einer Laufzeit von 2 Jahren aufgehoben werde, da die Aufhebung des Parallelverfahren über die Verwertung des Rechenguts noch nicht abgeschlossen sei. Es sei außerdem nicht beabsichtigt, ein neues Vergabeverfahren durchzuführen.
8
Mit Schreiben vom 04.03.2020 rügte die Antragstellerin die Rügezurückweisung durch die Antragsgegnerin als vergaberechtswidrig und forderte gleichzeitig die Aufhebung der Aufhebungsentscheidung und Fortführung des streitgegenständlichen Verfahrens durch Zuschlagserteilung an die Antragstellerin. Hierauf reagierte die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 09.03.2020 und erläuterte, dass die Aufhebung der zweiten Ausschreibung aus dem Grund erfolgt sei, dass die streitgegenständliche Ausschreibung nach den vorgebrachten Rügen noch nicht bestandskräftig aufgehoben worden sei.
9
Nachdem den Rügen der Antragstellerin nicht abgeholfen wurde, stellte die Antragstellerin mit Schreiben vom 13.03.2020 einen Nachprüfungsantrag gem. § 160 Abs. 1 GWB. Der Nachprüfungsantrag wurde sowohl per Fax als auch vom Anwaltspostfach von Herrn Rechtsanwalt Dr. M… auf das besondere Behördenpostfach der Vergabekammer übermittelt und schließt jeweils mit dem Vermerk „Einreichung über das beA, daher ohne Unterschrift“ sowie der Namensangabe von Herrn Dr. M… Eine Unterschrift von Herrn Dr. M… befindet sich auf keinem der beiden eingegangenen Dokumente, die über Anwaltspostfach auf das besondere Behördenpostfach übermittelte Version enthält allerdings eine elektronische Signatur von Herrn Dr. M… In der Kopfzeile des Dokuments wurde Frau Rechtsanwältin W… als alleinige Sachbearbeiterin geführt.
10
Die Antragstellerin trägt vor, dass der Nachprüfungsantrag zulässig und begründet sei. Es sei bereits die Wirksamkeit der Aufhebung zu bezweifeln, da allein in der Laufzeitverkürzung für eine Neuausschreibung kein sachlicher Grund liegen könne, da es die Auftraggeber sonst in der Hand hätten durch Änderungen der Vertragslaufzeit bei sonst gleichem Leistungsinhalt, eine Vergabe so lange beliebig anzupassen bis der gewünschte Vertragspartner den Zuschlag erhalten würde oder der Zuschlag zum gewünschten Preis erfolgen würde. Es bestehe auch weiterhin der Vergabewille fort, da die Antragsgegnerin die Leistung noch immer beschaffen wolle, wenn sie auch die Vertragslaufzeit verkürzt würde. Die Aufhebung sei zudem rechtswidrig erfolgt, da kein Aufhebungsgrund nach § 63 Abs. 1 VgV vorliege, insbesondere habe die Antragstellerin ein wirtschaftliches Angebot eingereicht. Die Antragsgegnerin habe jedoch den Auftragswert vorab nicht ordnungsgemäß geschätzt, da sie die aktuelle Preisentwicklung für die thermische Verwertung von Abfällen nicht berücksichtigt habe. Hier habe es im Jahr 2019 auf Grund von Kapazitätsengpässen bei den thermischen Verwertungsanlagen deutliche Preissteigerungen gegeben, die von der Antragsgegnerin bei der Auftragswertschätzung hätten berücksichtigt werden müssen. Zudem seien die Risiken für die lange Vertragslaufzeit nicht angemessen bei der Schätzung berücksichtigt worden, da diese gerade nicht durch die Preisgleitklausel im Vertrag aufgefangen würden. Zudem habe die Antragsgegnerin ihr Aufhebungsermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt, da vor der Aufhebung nicht einmal eine Angebotsaufklärung durchgeführt worden sei.
11
Die Antragstellerin beantragt im Nachprüfungsantrag vom 13.02.2020
1.
Den Nachprüfungsantrag gem. § 163 Abs. 2 Satz 3 GWB an die Antragsgegnerin zu übermitteln,
2.
der Antragstellerin gem. § 165 GWB unverzüglich Einsicht in die Vergabeakten zu gewähren,
3.
die Aufhebung des Vergabeverfahrens Amtsblatt EU Nr. 2020/S … aufzuheben,
4.
die Antragsgegnerin zu verpflichten, das Vergabeverfahren Amtsblatt EU Nr. 2020/S. 008-… fortzuführen,
5.
hilfsweise, die Rechtswidrigkeit der Aufhebung des Vergabeverfahrens Amtsblatt EU Nr. 2020/S … festzustellen,
6.
der Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der Antragstellerin aufzuerlegen und
7.
festzustellen, dass die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin notwendig war.
12
In der mündlichen Verhandlung hielt die Antragstellerin nur noch die Anträge Nr. 5 - 7 aufrecht.
13
Die Antragsgegnerin beantragt
1. Der Vergabenachprüfungsantrag der Antragstellerin vom 13.03.2020 wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendigen Auslagen der Antragsgegnerin werden der Antragstellerin auferlegt.
3. Es wird ausgesprochen, dass die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten durch die Antragsgegnerin notwendig war.
14
Zur Begründung trägt der die Antragsgegnerin zunächst vor, dass auf dem Nachprüfungsantrag die Unterschrift fehle und die Vergabekammer die Zulässigkeit der Antragstellung diesbezüglich von Amts wegen prüfen möge.
15
Der Antrag sei aber jedenfalls unbegründet, da die Aufhebung wirksam und rechtmäßig sei. Eine wirksame Aufhebung setze lediglich einen sachlichen Grund voraus, der vorliegend in der erheblichen Überschreitung des geschätzten Auftragswerts und der daraus folgenden geplanten Reduzierung der Vertragslaufzeit liege. Dies sei so auch von der Antragsgegnerin dokumentiert worden. Durch die Reduzierung der Vertragslaufzeit ändere sich der Beschaffungsbedarf, so dass auch keine Scheinaufhebung vorliege. Eine derartige Laufzeitverkürzung würde in einem bestehenden Vertragsverhältnis eine Neuausschreibung nach § 132 Abs. 1 GWB notwendig machen, so dass diese Prinzipien dann auch vor der Zuschlagserteilung Anwendung finden müssten und eine Neuausschreibung erforderlich sei. Die Aufhebung sei auch rechtmäßig, da der Aufhebungsgrund des § 63 Abs. 1 Nr. 3 GWB vorliege, da das einzige Angebot die ordnungsgemäß erstellte Auftragswertschätzung um ungefähr das 2,5-fache übersteige. Die Auftragsschätzung sei methodisch korrekt erfolgt, die Antragsgegnerin habe den im Jahr 2019 tatsächlich (an die Antragstellerin) gezahlten Einheitspreis pro Tonne um 2% erhöht, um angenähert an den Verbraucherpreisindex eine Kostensteigerung für das Jahr 2020 zu ermitteln und diesen Einheitspreis mit einem Sicherheitszuschlag von 10% versehen, da eine bestimmte Methode der Verwertung nicht vorgeschrieben wurde und daher ein heterogener Bieterkreis erwartet wurde. Weitere Risikozuschläge für die lange Vertragsdauer seien nicht berücksichtigt worden, da der Vertrag eine an den Verbraucherpreisindex gekoppelte Preisanpassungsklausel enthielt. Der Antragsgegnerin lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass all die von der Antragstellerin aufgeführten Preiskomponenten zwingend Bestandteil eines Angebots sein müssten und diese seien in der Leistungsbeschreibung auch nicht gefordert. Zudem habe die Antragsgegnerin über den Vergleichsring vorab Erkundigungen eingeholt, welche Preise derzeit andere Kommunen für die ausgeschriebene Leistung zahlen und der geschätzte Einheitspreis der Antragsgegnerin lag dabei im Mittelfeld. Die Antragsgegnerin habe auch ihr Aufhebungsermessen ordnungsgemäß ausgeübt, welches durch den E-Mail-Verkehr vom 14.02.2020 und 17.02.2020 dokumentiert würde, da hier die entscheidenden Gesichtspunkte für die Entscheidung der Vergabestelle zum Ausdruck gekommen seien.
16
Am 21.09.2020 fand in den Räumen der Regierung von Oberbayern die mündliche Verhandlung statt. Die Verfahrensbeteiligten hatten Gelegenheit zum Vortrag. Die Sach- und Rechtslage wurde erörtert. Auf Nachfrage der Vergabekammer, wie die Antragsgegnerin übergangsweise die Leistung vergeben habe, teilte diese mit, dass für den Zeitraum 01.07.2020 bis 30.06.2021 eine Interimsvergabe vorgenommen worden sei. Der Vorsitzende wies darauf hin, dass schon aufgrund dieses Umstands eine Rückgängigmachung der Aufhebung, wie von der Antragstellerin im Nachprüfungsantrag beantragt, nur schwer vorstellbar sei. Dessen ungeachtet erscheine auch die von der Antragsgegnerin beabsichtigte Laufzeitverkürzung auf zwei Jahre zur Kostenreduzierung als sachlicher Grund für eine Aufhebung, was nach vorläufiger Rechtsauffassung der Vergabekammer zur Wirksamkeit der Aufhebungsentscheidung führe. Anhaltspunkte für eine missbräuchliche Aufhebung seien nicht ersichtlich. Auf Nachfrage der Vergabekammer machte die Antragstellerin nähere Ausführungen, wie sich die erhebliche Preissteigerung im Vergleich zum früheren Auftrag erklären lasse. Neben dem Wechsel des Anbieters für die thermische Verwertung, generellen Kapazitätsproblemen bei der thermischen Verwertung des Rechenguts im Jahr 2019 sowie längeren Transportwegen und höheren Lohnkosten sei als zusätzliche Preiskomponente die biologische Trocknung hinzugekommen.
17
Die Antragstellerin hielt auf die Hinweise der Vergabekammer zur Wirksamkeit der Aufhebung nur noch die Anträge Nr. 5 - 7 aus dem Nachprüfungsantrag vom 13.03.2020 aufrecht.
18
Die ehrenamtliche Beisitzerinhat die Entscheidung über die Beiladung, den Umfang der Akteneinsicht sowie im Falle einer Verfahrenseinstellung auf den Vorsitzenden und die hauptamtliche Beisitzerin übertragen.
19
Die Beteiligten wurden durch den Austausch der jeweiligen Schriftsätze informiert. Auf die ausgetauschten Schriftsätze, die Verfahrensakte der Vergabekammer, auf die Vergabeakten, soweit sie der Vergabekammer vorgelegt wurden, sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung wird ergänzend Bezug genommen.
II.
20
Die Vergabekammer Südbayern ist für die Überprüfung des streitgegenständlichen Vergabeverfahrens zuständig.
21
Die sachliche und örtliche Zuständigkeit der Vergabekammer Südbayern ergibt sich aus §§ 155, 156 Abs. 1, 158 Abs. 2 GWB i. V. m. §§ 1 und 2 BayNpV.
22
Gegenstand der Vergabe ist ein Dienstleistungsauftrag i. S. d. § 103 Abs. 1GWB. Die Antragsgegnerinist Auftraggeber gemäß §§ 98, 99 Nr. 1 GWB. Der geschätzte Gesamtauftragswert überschreitet den gemäß § 106 GWB maßgeblichen Schwellenwert in Höhe von 214.000 Euro.
23
Eine Ausnahmebestimmung der §§ 107 - 109 GWB liegt nicht vor.
24
1. Der Nachprüfungsantrag ist zulässig.
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1.1 Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin ist über das Anwaltspostfach im besonderen Behördenpostfach der Vergabekammer eingegangen, was den Formerfordernissen des § 161 Abs. 1 Satz 1 GWB in analoger Anwendung des § 130a Abs. 3, Abs. 4 Nr. 2 ZPO entspricht.
26
1.1.1 Nach § 161 Abs. 1 Satz 1 GWB ist der Nachprüfungsantrag schriftlich bei der Vergabekammer einzureichen. Allgemein anerkannt und üblich ist, dass ein Nachprüfungsantrag auch per Telefax eingereicht werden kann, wenn die Faxvorlage entsprechend § 126 BGB von dem Aussteller eigenhändig durch Namensunterschrift unterzeichnet worden ist. Das am 13.03.2020 bei der Vergabekammer eingegangene Fax erfüllt jedoch diese Anforderungen nicht. Es ist lediglich mit dem getippten Namen und der Funktionsbezeichnung des einreichenden Rechtsanwalts versehen, nicht jedoch eigenhändig unterschrieben.
27
1.1.2. Die über das besondere Behördenpostfach der Vergabekammer Südbayern eingereichte Ausfertigung des Nachprüfungsantrags ist nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur i.S.d. Art. 28 und Anhang I der VO (EU) Nr. 910/2014 versehen, so dass auch diese nicht die Anforderungen an einen schriftlichen Antrag im Sinne des § 161 Abs. 1 Satz 1 GWB unter entsprechender Anwendung des § 3a Abs. 2 Satz 1 und 2 VwVfG (wortgleich Art. 3a Abs. 2 Satz 1 und 2 BayVwVfG) erfüllt.
28
1.1.3. Die über das besondere Behördenpostfach der Vergabekammer Südbayern eingereichte Ausfertigung des Nachprüfungsantrags ist jedoch von der verantwortenden Person signiert über einen sicheren Übermittlungsweg gemäß § 130a Abs. 3, Abs. 4 Nr. 2 ZPO analog eingegangen.
29
Derzeit ist nicht geklärt, ob die Einreichung eines Nachprüfungsantrags auch mittels eines mit einer fortgeschrittenen elektronischen Signatur i.S.d. Art. 3 Nr. 11 i.V.m. Art. 26 VO (EU) Nr. 910/2014 versehenen Dokuments über den Übertragungsweg vom Anwaltspostfach auf ein besonderes Behördenpostfach der Vergabekammer rechtlich zulässig ist. Die Vergabekammer Südbayern ist jedoch der Auffassung, dass die Regelungen des § 130a Abs. 3, Abs. 4 Nr. 2 ZPO für die Übermittlung von Nachprüfungsanträgen vom besonderen elektronischen Anwaltspostfach auf das besondere elektronische Behördenpostfach der Vergabekammer analog anzuwenden sind.
30
Es existiert eine Regelungslücke in Bezug auf die Zulässigkeit der Einreichung eines Nachprüfungsantrags über den sicheren Übermittlungsweg vom besonderen elektronischen Anwaltspostfach auf das besondere elektronische Behördenpostfach der Vergabekammer, da diese Thematik weder im GWB selbst noch durch Verweisung auf andere Rechtsvorschriften geregelt ist und auch das Bayerische Verwaltungsverfahrensgesetz auf Grund der expliziten Regelung des § 170 GWB nicht herangezogen werden kann.
31
Eine dem § 130a Abs. 3, Abs. 4 Nr. 2 ZPO oder dem § 55a Abs. 3, Abs. 4 Nr. 2 VwGO entsprechende Regelung, welche es in den entsprechenden gerichtlichen Verfahren ermöglicht, schriftlich einzureichende Anträge stattdessen als elektronisches Dokument von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg einzureichen, existiert im GWB nicht. Das GWB ordnet zwar über die Verweisungskette §§ 163 Abs. 2 Satz 5, 57 Abs. 2 bzw. 61 die Anwendbarkeit einzelner Normen der ZPO explizit an, die dortige Regelung zu elektronischen Dokumenten jedoch nicht.
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Ein Rückgriff auf Art. 3a BayVwVfG kommt bereits auf Grund der Regelung des § 170 GWB nicht in Frage, wonach auf Grund von landesrechtlichen Regelungen zum Verwaltungsverfahren nicht von den Vorschriften der §§ 160-169 GWB abgewichen werden darf. Darüber hinaus wäre zudem keiner der im Art. 3a BayVwVfG aufgeführten Fälle einschlägig, da weder das Bayerische Verwaltungsverfahrensgesetz noch das Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes die Übermittlung vom besonderen elektronischen Anwaltspostfach zum besonderen elektronischen Behördenpostfach thematisieren. Insbesondere existiert in Bayern offenbar auch keine Art. Art. 3a Abs. 2 Satz 4 Nr. 4 BayVwVfG ausfüllende Rechtsverordnung zu sonstigen sicheren Verfahren zum Ersatz der Schriftform, die das vergaberechtliche Nachprüfungsverfahren betreffen.
33
Diese Regelungslücke ist auch planwidrig. Offenbar hat der Gesetzgeber schlicht im Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 10. Oktober 2013 bzw. in der Neufassung des vierten Abschnitts des GWB im Jahr 2016 die Änderung des § 161 GWB oder einen Verweis auf die Regelung des § 130a ZPO vergessen. Es ist auch nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber die Aufnehme bewusst deshalb unterlassen hat, weil die Vergabekammern keine Gerichte, sondern gerichtsförmig arbeitende Verwaltungsbehörden sind, da durch dieses Gesetz nicht nur die Zivilprozessordnung, das Arbeits- und das Sozialgerichtsgesetz sowie die Verwaltungs- und die Finanzgerichtsordnung geändert wurden, sondern beispielsweise auch der § 125a des Patentgesetzes und der § 95a des Markengesetzes angepasst wurden. Der Gesetzgeber hat damit offensichtlich nicht ausschließlich die Möglichkeit schaffen wollen, dass elektronische Dokumente nur im klassischen gerichtlichen Rechtsverkehr verwendet werden können, sondern auch bei den Antragsverfahren vor dem Patent- und Markenamt.
34
Ein entsprechender Verweis für die Verfahren vor den Kartellbehörden unterblieb jedoch, wohl deshalb, weil für die Einleitung eines Verfahrens vor der Kartellbehörde nach § 54 GWB kein schriftlicher Antrag notwendig ist, sondern dieser formlos gestellt werden kann oder die Kartellbehörde von Amts wegen tätig wird. Daher spricht alles dafür, dass die Regelungen für das vergaberechtliche Nachprüfungsverfahren, das zwar auch im GWB geregelt ist, jedoch einen schriftlichen Antrag erfordert, bei der Gesetzgebung übersehen wurden.
35
Hinweise dafür, dass eine beabsichtigte Regelungslücke des Bundesgesetzgebers vorliegt sind nicht ersichtlich. Insbesondere wurden niemals Pläne oder Gründe dafür angeführt, dass das vergaberechtliche Nachprüfungsverfahren explizit von den Regelungen zum elektronischem Rechtsverkehr ausgenommen werden soll. Dass das auf maximale Verfahrensbeschleunigung ausgelegte vergaberechtliche Nachprüfungsverfahren in diesem Punkt formstrenger ausgestaltet werden sollte, als alle gerichtlichen Verfahren, erscheint abwegig. Es ist auch nicht zu vermuten, dass der Bundesgesetzgeber die Regelung des elektronischen Rechtsverkehrs im Vergabenachprüfungsverfahren durch das Landesverwaltungsrecht ausgestalten lassen wollte. Letzteres ist zudem ausdrücklich nicht möglich, da § 170 GWB explizit keine abweichende Regelung durch Landesrecht zulässt.
36
Darüber hinaus ist die Antragstellung im vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren in rechtlicher Hinsicht soweit mit dem vom Gesetzgeber geregelten Tatbestand vergleichbar. Insbesondere hat der Gesetzgeber im Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten nicht nur bei gerichtlichen Verfahren neue Regelungen zu elektronischen Dokumenten und Anträgen eingeführt, sondern auch bei anderen durch Bundesgesetz geregelte Antragsverfahren. Beispielsweise ist der Einspruch im Patentverfahren, genau wie das vergaberechtliche Nachprüfungsverfahren, ein gerichtsähnliches Verfahren innerhalb der Verwaltung, in welchem durch Beschluss entschieden wird. Dabei ist ebenfalls nicht der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten eröffnet, sondern mit den Patentgerichten ein zivilrechtlicher Rechtsweg bis zum BGH.
37
Nach Auffassung der Vergabekammer Südbayern ist daher die Stellung eines Nachprüfungsantrags durch Einreichung eines mit einer fortgeschrittenen elektronischen Signatur i.S.d. Art. 3 Nr. 11 i.V.m. Art. 26 VO (EU) Nr. 910/2014 versehenen Dokuments über den sicheren Übertragungsweg vom Anwaltspostfach auf ein besonderes Behördenpostfach der Vergabekammer entsprechend § 130a Abs. 3, Abs. 4 Nr. 2 ZPO rechtlich zulässig.
38
1.2. Der Fortsetzungsfeststellungsantrag der Antragstellerin ist auch nach Erledigung des Vergabeverfahrens zulässig, da sie bei Einleitung des Nachprüfungsantrags noch die Fortführung des aufgehobenen Vergabeverfahrens als Primärrechtsschutz begehrte.
39
Nach § 168 Abs. 2 S. 2 GWB stellt die Vergabekammer auf Antrag eines Beteiligten eine Rechtsverletzung fest, wenn sich das Nachprüfungsverfahren unter anderem durch Aufhebung erledigt hat. Wie schon der Wortlaut der Bestimmung zeigt, ist Voraussetzung für einen Fortsetzungsfeststellungsantrag allerdings, dass die Erledigung nach Beginn des Nachprüfungsverfahrens eingetreten ist (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 19. März 2019 - 13 Verg 1/19). Dem liegt zugrunde, dass Sinn und Zweck des Fortsetzungsfeststellungsverfahrens ist, die Früchte eines bereits begonnenen Nachprüfungsverfahrens zu erhalten. Hat ein Verfahren jedoch noch gar keine Früchte erbracht, gibt es keine Notwendigkeit, das Vergabenachprüfungsverfahren zu eröffnen (vgl. VK Berlin, Beschluss vom 20.09.2019 - VK B 2-26/19). In den Fällen, in denen ein Antragsteller mit dem Ziel der Erlangung primären Vergaberechtschutzes die Aufhebung des ausgeschriebenen Vergabeverfahrens zum Gegenstand einer Nachprüfung macht, ist die Vergabekammer bei Vorliegen eines Feststellungsinteresses des Antragstellers auf dessen Antrag auch zur Entscheidung der durch die Aufhebung eingetretenen Rechtsverletzung befugt, wenn sich nach der Entscheidung der Vergabekammer herausstellt, dass trotz eines Vergabeverstoßes aufgrund des dem Auftraggeber zustehenden Entscheidungsspielraums eine auf die Fortsetzung des aufgehobenen Vergabeverfahrens gerichtete Anordnung nicht ergehen kann (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 10. März 2016 - 13 Verg 5/15).
40
Die Antragstellerin hatte zunächst im Nachprüfungsantrag auch die Fortsetzung des aufgehobenen Vergabeverfahrens beantragt und diesen Antrag erst nach einem rechtlichen Hinweis in der mündlichen Verhandlung fallen lassen und nur die hilfsweise gestellten, aussichtsreicheren Feststellungsanträge weiterverfolgt. Unter diesen Umständen war es zulässig, dass die Antragstellerin nur noch den Fortsetzungsfeststellungsantrag weiterverfolgt hat. Die Vergabekammer musste sich, um den rechtlichen Hinweis zu erteilen, bereits umfassend mit der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Aufhebung befassen, so dass aus Gründen der Prozessökonomie die Antragstellerin im vorliegenden Fall nicht verpflichtet war, einen aussichtslosen Antrag aufrecht zu erhalten, um die bisher erreichten Ergebnisse des Prozesses behalten zu können.
41
Die Antragstellerin hat auch das erforderliche Rechtsschutzinteresse an der begehrten Feststellung. Ein Feststellungsinteresse rechtfertigt sich durch jedes nach vernünftigen Erwägungen und nach Lage des Falles anzuerkennende Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art, wobei die beantragte Feststellung geeignet sein muss, die Rechtsposition des Antragstellers in einem der genannten Bereiche zu verbessern und eine Beeinträchtigung seiner Rechte auszugleichen oder wenigstens zu mildern. Dieses kann sich aus der nicht auszuschließenden Möglichkeit eines Schadensersatzanspruchs des Bieters gegen den öffentlichen Auftraggeber im Falle des Vorliegens eines Vergaberechtsverstoßes ergeben, es sei denn ein Schadensersatzanspruch ist offensichtlich nicht gegeben und eine auf seine Durchsetzung gerichtete Klage aussichtslos (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 07.08.2019 - Verg 9/19).
42
Die Antragstellerin hat hierzu ausgeführt, dass sie das Nachprüfungsverfahren auch zur Vorbereitung von Schadensersatzansprüchen wegen entgangenen Gewinns durchführe. Dieser Vortrag genügt für die Annahme eines Feststellungsinteresses hinsichtlich der behaupteten Vergabeverstöße. Ein Schadensersatzprozess ist nach dem Vortrag der Antragstellerin nicht offensichtlich aussichtslos.
43
1.3. Die Antragstellerin ist auch antragsbefugt. Gemäß § 160 Abs. 2 GWB ist ein Unternehmen antragsbefugt, wenn es sein Interesse am Auftrag, eine Verletzung in seinen Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB und zumindest einen drohenden Schaden darlegt. Die Antragstellerin hat ihr Interesse am Auftrag durch die Abgabe eines Angebots nachgewiesen. Es ist nicht erkennbar, dass sie mit diesem Nachprüfungsantrag einen anderen Zweck verfolgt, als den, den strittigen Auftrag zu erhalten. Die Antragstellerinhat eine Verletzung in ihren Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB insbesondere durch eine rechtswidrige Aufhebung der Vergabe geltend gemacht.
44
1.4. Der Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags steht auch keine Rügepräklusion nach § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 GWB entgegen, da die Antragstellerin die geltend gemachten Verstöße gegen das Vergaberecht innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Frist von zehn Kalendertagen nach Aufhebung der Vergabe gegenüber der Antragsgegnerin gerügt hat.
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2. Der Nachprüfungsantrag ist auch hinsichtlich der aufrecht erhaltenen Anträge begründet. Die Aufhebung des Vergabeverfahrens ist wirksam aber rechtswidrig, da die Voraussetzungen des § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 VgV von der Antragsgegnerin nicht hinreichend belegt wurden und das Aufhebungsermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt wurde.
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2.1. Die - zuletzt nicht mehr angegriffene - Aufhebung der Ausschreibung ist wirksam, da die Antragsgegnerin mit der geplanten Laufzeitverkürzung zur Kostenersparnis einen sachlichen Grund für die Aufhebung hatte.
47
Bei der rechtlichen Überprüfung einer Aufhebung eines Vergabeverfahrens ist zwischen der Wirksamkeit und der Rechtmäßigkeit der Aufhebungsentscheidung des öffentlichen Auftraggebers zu unterscheiden. Der öffentliche Auftraggeber kann nicht von den Nachprüfungsinstanzen gegen seinen Willen verpflichtet werden, trotz der ausdrücklich erklärten Aufhebung einen der Ausschreibung entsprechenden Auftrag zu erteilen. Das gilt selbst dann, wenn kein Aufhebungsgrund im Sinne des hier einschlägigen § 63 Abs. 1 VgV vorliegt. Denn es kann unabhängig von den in dieser Vorschrift aufgeführten Tatbeständen viele Gründe geben, die den öffentlichen Auftraggeber daran hindern, eine einmal in die Wege geleitete Ausschreibung ordnungsgemäß mit der Erteilung eines Zuschlags an einen Bieter zu beenden. Dies ist Folge der Vertragsfreiheit, die auch für im Wege öffentlicher Ausschreibungen vergebene Aufträge gilt. Notwendige Voraussetzung für die Aufhebung einer Ausschreibung ist deshalb nur, dass der öffentliche Auftraggeber für seine Aufhebungsentscheidung einen sachlichen Grund hat, so dass eine Diskriminierung einzelner Bieter ausgeschlossen und seine Entscheidung nicht willkürlich ist oder lediglich zum Schein erfolgt (BGH, Urteil vom 18. Februar 2003, X ZB 43/02; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10. November 2010, VII-Verg 28/10).
48
Eine Ausnahme von dem fehlenden Kontrahierungszwang gilt nach der Rechtsprechung nur, wenn es sich um eine missbräuchliche Scheinaufhebung handelt, die seitens des Auftraggebers gezielt zur Diskriminierung eines Bieters eingesetzt wird, um insbesondere bei unverändertem Vergabewillen einem anderen, bevorzugtem Bieter den Auftrag im Verhandlungsverfahren zu erteilen (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Februar 2003, X ZB 43/02).
49
Hierfür ist vorliegend nichts ersichtlich oder vorgetragen. Die Antragsgegnerin plant in einer erneuten Ausschreibung die Vertragslaufzeit auf zwei Jahre zu reduzieren, da sie sich dadurch sowohl eine Kosteneinsparung durch Wegfall von Risikozuschlägen bei der Kalkulation der Bieter als auch einen größeren Bieterkreis und damit mehr Wettbewerb erhofft. Dies hat die Antragsgegnerin auch so in der internen E-Mail vom 14.02.2020 dokumentiert. Die Überlegung der Antragsgegnerin ist auch nicht zu beanstanden, da sie bereits dadurch gestützt wird, dass die Antragstellerin selbst in ihrer Kalkulation insbesondere für das vierte und fünfte Vertragsjahr Risikozuschläge von 5% bzw. 7% kalkuliert hat. Zudem hat die Antragsgegnerin in der internen Mail vom 14.02.2020 dokumentiert, dass sie von mehreren potentiellen Bietern die Information bekommen habe, diese haben sich auf Grund des mit der langen Vertragslaufzeit verbundenen Kalkulationsrisikos nicht beteiligt.
50
2.2. Die wirksame Aufhebung war jedoch rechtswidrig. Die Aufhebung ist nicht durch einen der Aufhebungsgründe des § 63 Abs. 1 Satz 1 VgV gedeckt, insbesondere wurden von der Antragsgegnerin Gründe für eine sanktionsfreie Aufhebung nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 VGV nicht ermessensfehlerfrei geprüft und dokumentiert.
51
Es bleibt der Antragsgegnerin zwar unbenommen, von einem Beschaffungsvorhaben auch dann Abstand zu nehmen, wenn dafür keiner der in § 63 Abs. 1 Satz 1 VgV anerkannten Aufhebungsgründe vorliegt. Sofern die Aufhebung aber nicht von einem der in § 63 Abs. 1 Satz 1 VgV genannten Gründe gedeckt ist, ist diese rechtswidrig und kann gegebenenfalls Schadensersatzansprüche der sich an der Ausschreibung beteiligenden Unternehmen begründen (vgl. BGH, Beschluss vom 20.03.2014 - X ZB 18/13.). Die sanktionsfreie Aufhebung des streitgegenständlichen Vergabeverfahrens ist damit nur aus den dort genannten Gründen zulässig, welche eng auszulegen und abschließend sind. Für das Vorliegen von Aufhebungsgründen trifft den Auftraggeber die Darlegungs- und Beweislast (KG Berlin, Beschluss vom 17.10.2013 - Verg 9/13).
52
Die Antragsgegnerin hat nach den vorliegenden Unterlagen weder eine ordnungsgemäße Kostenschätzung vorgenommen noch, die Aufhebungsentscheidung ermessensfehlerfrei getroffen. Eine Ausübung des gebotenen Aufhebungsermessens auf einer zutreffenden Tatsachengrundlage ist nicht erkennbar.
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§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 VgV erlaubt eine Aufhebung des Vergabeverfahrens dann, wenn kein wirtschaftliches Ergebnis erzielt wurde. Ein unwirtschaftliches Ergebnis liegt vor, wenn auch das wirtschaftlichste Angebot erheblich über dem Preis liegt, der nach einer ordnungsgemäßen Schätzung des Auftragswertes nach § 3 VgV ermittelt worden war. Der Auftraggeber muss dafür die Kostenschätzung unter Berücksichtigung aller verfügbaren Daten in einer der Materie angemessenen und methodisch vertretbaren Weise erarbeiten. Aus der Sicht der Beteiligten sind die Ergebnisse der Kostenschätzung hinzunehmen, wenn sie aufgrund der bei ihrer Aufstellung objektiv vorliegenden und erkennbaren Daten als vertretbar erscheint. Daran wird es regelmäßig fehlen, wenn sie auf erkennbar unrichtigen Daten beruht, insbesondere, wenn sie eine vorhersehbare Kostenentwicklung unberücksichtigt lässt, wichtige Aspekte außer Acht lässt oder ungeprüft und pauschal auf anderen Kalkulationsgrundlagen beruhende Werte übernimmt (BGH, Beschluss vom 20.11.2012, Az.: X ZR 108/10; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29.08.2018 - Verg 14/17; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 13.03.2019, Az.: Verg42/18).
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2.2.1. Auch wenn die Kostenermittlung als eine der eigentlichen Ausschreibung vorgeschaltete Prognose naturgemäß mit Unsicherheiten und Unwägbarkeiten behaftet ist, kann vorliegend nicht davon ausgegangen werden, dass die Antragsgegnerin die Einheitspreise für die Entsorgung einer Tonne Rechengut mit der erforderlichen Sorgfalt veranschlagt hat. Insgesamt kann die Vergabekammer aus den eingereichten Unterlagen und den ergänzenden Vorträgen nicht erkennen, dass die Kostenschätzung methodisch korrekt durchgeführt wurde.
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Die maßgebliche Kostenschätzung der Antragsgegnerin beruhte auf den für das Jahr 2019 für die Dienstleistung bezahlten Einheitspreisen pro Tonne aus einem Vertrag mit der Antragstellerin. Für die Kostenschätzung hatte die Antragsgegnerin diesen Betrag um 2% erhöht, um Kostensteigerungen abzubilden, weil dies in etwa der durchschnittlichen Kostensteigerung pro Jahr nach Verbraucherpreisindex entsprach.
56
Anhand der Vergabeakte und des Vorbringens der Antragsgegnerin im Nachprüfungsverfahren kann die Vergabekammer jedoch nicht nachvollziehen, ob die Ermittlung des Auftragswertes ordnungsgemäß erfolgte. Zwar ist der Ansatz der Antragsgegnerin, von den aktuell selbst gezahlten Preisen auszugehen, nicht prinzipiell zu beanstanden, jedoch darf nicht automatisch davon ausgegangen werden, dass der Preis, den man aktuell selbst zahlt, dem aktuellen Marktpreis der Leistung (noch) entspricht. Der Antragstellerin hätte hierbei verschiedene Methoden zur Verfügung gestanden, diese Annahme zu überprüfen, wie beispielsweise Anfragen bei Verbrennungsanlagen in der Umgebung nach den aktuell verlangten reinen Entsorgungskosten oder ein Vergleich mit den Preisen, die andere Kommunen für eine vergleichbare Leistung auf Grund kürzlich ausgeschriebener Verträge bezahlen. Die Antragsgegnerin hat zwar vorgetragen, sie hätte ihren geschätzten Auftragswert mit den Preisen diverser anderer Kommunen vergleichen, jedoch ist hierzu keine ausführliche Dokumentation vorhanden oder nachgereicht worden. Ein weiteres gewichtiges Indiz dafür, dass die Vergabekammer nicht von einer ordnungsgemäßen Erstellung der Kostenermittlung ausgehen kann sind die von der Antragsgegnerin auf Nachfrage der Vergabekammer eingereichten Zahlen des sog. Vergleichsrings. Diese reichten einerseits nur bis in das Jahr 2018 und berücksichtigen damit aktuelle Entwicklungen nicht, andererseits war nicht aufgeschlüsselt ob es sich um erst kürzlich abgeschlossene Verträge gehandelt hat oder ob diese längere Laufzeiten hatten. Zudem existiert keine Dokumentation darüber, welche Schlussfolgerungen genau die Antragsgegnerin aus den so erhaltenen Zahlen gewonnen haben will, da eine vertiefte Auseinandersetzung damit offenbar nicht stattgefunden hat und sich die nachträgliche Dokumentation während des laufenden Nachprüfungsverfahrens darauf beschränkt lediglich festzustellen, dass bei 13 Kläranlagen die bestehenden Einheitspreise zwischen 120 € (brutto) und 200 € (brutto) lagen. Es wurde sich dabei pauschal auf die Marktkenntnis des Betriebsleiters berufen, eine weitere Analyse oder Beschäftigung mit der doch nicht unerheblichen Preisspanne fand laut den eingereichten Unterlagen nicht statt.
57
Ebenso wenig konnte die Antragsgegnerin erklären, warum sie die Preissteigerung über eine Anlehnung an den Verbraucherpreisindex ermittelt hat, anstatt bei einer solchen Spezialdienstleistung die einschlägige Preisentwicklung in diesem speziellen Sektor zu ermitteln und gegebenenfalls zu berücksichtigen. Der Verbraucherpreisindex dient der Ermittlung durchschnittlichen prozentualen Veränderung des Preisniveaus bestimmter Waren und Dienstleistungen, die von privaten Haushalten für Konsumzwecke gekauft werden. Daraus können keinerlei belastbare Rückschlüsse auf die Preisentwicklung für die gewerbliche thermische Verwertung von Abfällen gezogen werden.
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Zudem hat die Antragsgegnerin auch für die lange Vertragslaufzeit keinen Risikoaufschlag einberechnet. Auch wenn die Ausschreibungsunterlagen eine an den Verbraucherpreisindex gekoppelte Preisgleitklausel enthalten, deckt diese höchstens sehr allgemeine Preisschwankungen ab, jedoch nicht das spezifische Risiko bei längerfristigen vertraglichen Bindungen in diesem speziellen Markt.
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Die Antragsgegnerin konnte somit keinen ausreichenden Nachweis dafür liefern, dass die zur Grundlage der Aufhebungsentscheidung gemachte Auftragswertermittlung ordnungsgemäß und innerhalb des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums erstellt worden ist. Die eher pauschalen Aussagen der Antragsgegnerin, die Auftragswertermittlung sei ordnungsgemäß und methodisch korrekt erstellt worden, ist kammerseitig anhand der vorliegenden Unterlagen nicht nachzuvollziehen und in den vorgelegten Unterlagen finden sich gewichtige Anhaltspunkte für methodische Fehler. Dies geht zu Lasten der Antragstellerin.
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Auch der vorgenommene weitere Risikozuschlag von 10% führt nicht zu einer vertretbaren Kostenschätzung, da ein solcher auf die methodisch korrekt ermittelten prognostizierten Kosten aufzuschlagen ist (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29.08.2018, VII - Verg 14/17) und jedenfalls im nicht zur Heilung der methodischen Fehler dienen kann.
61
2.2.2. Nach Auffassung der Vergabekammer kann das Vorliegen der Voraussetzung einer ordnungsgemäßen Kostenschätzung für den Aufhebungsgrund des § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 VgV, es sei kein wirtschaftliches Ergebnis erzielt worden, letztlich aber offenbleiben. Denn die Aufhebung der Ausschreibung durch die Antragsgegnerin ist jedenfalls deshalb vergaberechtswidrig, weil die Antragsgegnerin das ihr durch § 63 Abs. 1 Satz 1 VgV eingeräumte Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt hat. Auch wenn ein die Aufhebung des Vergabeverfahrens rechtfertigender Grund vorliegen sollte, führt dies nicht automatisch zur Aufhebung des Verfahrens. Der Auftraggeber hat vielmehr zu überlegen und abzuwägen, ob er die Ausschreibung aufhebt. Er hat sämtliche für und gegen eine Aufhebung des Vergabeverfahrens sprechenden Belange seiner selbst und der Bieter gegeneinander abzuwägen.
62
Aus der eingereichten Vergabeakte und den im Nachprüfungsverfahren ergänzten Unterlagen ergibt sich für die Vergabekammer das Bild, dass die Antragsgegnerin vor Aufhebung der Ausschreibung keinerlei Preisaufklärung hinsichtlich des Angebots der Antragstellerin und keinerlei Interessenabwägung vorgenommen und dokumentiert hat. Insbesondere hätte sich hier die Antragsgegnerin im Rahmen einer Angebotsaufklärung mit der Angebotskalkulation der Antragstellerin auseinander setzten müssen. Die Antragsgegnerin hat jedoch eine solche Aufklärung im Vorfeld der Ausschreibung gar nicht betrieben und hat auch während des Nachprüfungsverfahrens nicht mit der von der Antragstellerin von sich aus eingereichten Kalkulation auseinandergesetzt. Insbesondere blieben bei der Kalkulation der Antragstellerin wesentliche Punkte ungeklärt, nämlich insbesondere warum allein die Kosten für sonstige Leistungen, Verwaltungskosten und Gewinn die eigentlichen Kosten der Hauptleistung übersteigen und damit bereits höher liegen als das Gesamtangebot der Antragstellerin für den vorhergehenden identischen Auftrag. Daneben hätte sich die Antragsgegnerin die hohen Kalkulationskosten für die thermische Verwertung erläutern lassen müssen und wäre somit in der Lage gewesen den Vortrag der massiv gestiegenen Entsorgungskosten zu widerlegen oder zu verifizieren und ihre eigene Kalkulation gegebenenfalls daran anzupassen.
63
Die Antragsgegnerin hat vorliegend das ihr zustehende Aufhebungsermessen nur insoweit erkannt und (ansatzweise) dokumentiert, als sie einen sachlichen Grund für die Aufhebung in der Verkürzung der Vertragslaufzeit zur Vermeidung von Risikozuschlägen gesehen hat. In der Identifikation eines sachlichen Grundes erschöpft sich jedoch das auszuübende Aufhebungsermessen nicht. Der Auftraggeber hat - nach Ermittlung des relevanten Sachverhalts - sämtliche für und gegen eine Aufhebung des Vergabeverfahrens sprechenden Belange seiner selbst und der Bieter gegeneinander abzuwägen. Zur Ermittlung des relevanten Sachverhalts hätte sich die Antragstellerin zumindest inhaltlich mit dem Angebot der Antragstellerin auseinandersetzen müssen und die Gründe für die massiven Abweichungen des Angebots von der Kostenschätzung aufklären müssen. All dies ist nicht ansatzweise erfolgt, selbst als die Antragstellerin im Schriftsatz vom 17.04.2020 von sich ihre Kalkulation offenlegte, erfolgte keine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Preisbestandteilen. So hat sich die Antragsgegnerin bis zur mündlichen Verhandlung offenbar nicht damit auseinandergesetzt, dass im Einheitspreis der Antragstellerin von 2020 andere Preisbestandteile vorhanden waren, als im Angebotspreis der Antragstellerin aus dem Vorauftrag. Die Aufhebungsentscheidung beruhte daher nicht auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage.
64
Im Übrigen ist die Ermessensentscheidung weitgehend gar nicht dokumentiert. Ausführungen im Sinne einer Interessenabwägung, die vor der Entscheidungsfindung erfolgt ist, sind weder der Vergabeakte noch den im laufenden Nachprüfungsverfahren eingereichten Dokumenten oder Schriftsätzen zu entnehmen. Es muss daher vorliegend auch nicht entschieden werden, ob völlig fehlende Bestandteile der Dokumentation im Verfahren nachgereicht werden können.
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3. Kosten des Verfahrens
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Die Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer hat gemäß § 182 Abs. 3 S. 1 GWB derjenige zu tragen, der im Verfahren vor der Vergabekammer unterlegen ist. Dies ist in Bezug auf die ursprünglich verlangte Aufhebung der Aufhebung die Antragstellerin, ansonsten die Antragsgegnerin.
67
Das Nichtaufrechterhalten der Anträge auf Aufhebung der Aufhebung in der mündlichen Verhandlung kommt einer Teilrücknahme des Nachprüfungsantrags gleich, der bzgl. des Hauptantrags auch keine Aussicht auf Erfolg hatte. Gem. § 183 Abs. 3 Satz 1 GWB war daher die Kostenteilung geboten.
68
Die Gebührenfestsetzung beruht auf § 182 Abs. 2 GWB. Diese Vorschrift bestimmt einen Gebührenrahmen zwischen 2.500 Euro und 50.000 Euro, der aus Gründen der Billigkeit auf ein Zehntel der Gebühr ermäßigt und, wenn der Aufwand oder die wirtschaftliche Bedeutung außergewöhnlich hoch sind, bis zu einem Betrag vom 100.000 Euro erhöht werden kann. Die Höhe der Gebühr richtet sich nach dem personellen und sachlichen Aufwand der Vergabekammer unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Bedeutung des Gegenstands des Nachprüfungsverfahrens. Billigkeitsgründe für eine Reduzierung der Gebühr sind nicht ersichtlich. Für das Verfahren wird eine Gebühr in Höhe von…,00 EUR festgesetzt.
69
Die Antragsgegnerinist als Gemeinde von der Zahlung der Gebühr nach § 182 Abs. 1 S. 2 GWB i. V. m. § 8 Abs. 1 Nr. 3 VwKostG (Bund) vom 23. Juni 1970 (BGBl. I S. 821) in der am 14. August 2013 geltenden Fassung befreit.
70
Von der Antragstellerinwurde bei Einleitung des Verfahrens ein Kostenvorschuss in Höhe von 2.500 Euro erhoben. Dieser Kostenvorschuss wird nach Bestandskrafterstattet.
71
Die Entscheidung über die Tragung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin beruht auf § 182 Abs. 4 S. 1 GWB.
72
Die Zuziehung eines anwaltlichen Vertreters wird für beide Parteien als notwendig i. S. v. § 182 Abs. 4 S. 4 GWB i. V. m. Art. 80 Abs. 2 S. 3, Abs. 3 S. 2 BayVwVfG angesehen. Die anwaltliche Vertretung war erforderlich, da die Antragstellerin in ihrem Unternehmen keinen Spezialisten für vergaberechtliche Fragestellungen vorhält und die Prüfung der Wirtschaftlichkeit von Ausschreibungsergebnissen sowie der Rechtmäßigkeit von Aufhebungsentscheidungen vertiefte vergaberechtliche Kenntnisse erfordert, die weit über die üblichen Kenntnisse von Bietern, welche sich regelmäßig an europaweiten Ausschreibungen beteiligen, hinausgehen.
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Die Antragsgegnerin ist zwar eine große Kommune, die auch über mit dem Vergaberecht vertraute Juristen verfügt und von der zu erwarten ist, dass sie vergaberechtliche Standardfälle, insbesondere zur Wertung und zum Ausschluss von Angeboten auch ohne anwaltliche Beratung vor der Vergabekammer vertreten kann.
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Der vorliegende Fall eines Nachprüfungsantrags gegen eine Aufhebungsentscheidung geht jedoch aus den oben genannten Gründen über vergaberechtliche Standardfälle hinaus, so dass auch aus Gründen der prozessualen Waffengleichheit mit der anwaltlich vertretenen Antragstellerin die Zuziehung eines anwaltlichen Vertreters wird für die Antragsgegnerin als notwendig erachtet werden kann.