Inhalt

VG Würzburg, Beschluss v. 06.10.2020 – W 8 S 20.31116
Titel:

Familienflüchtlingsschutz

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5, § 122
AsylG § 26, § 30, § 36 Abs. 4 S. 1, § 77 Abs. 2
AufenthG § 60 Abs. 5
Leitsatz:
Für die Zuerkennung des Familienflüchtlingsschutzes nach § 26 AsylG reicht eine lediglich religiös auf traditionelle Weise erfolgte Heirat nicht aus. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Sofortverfahren, algerische Staatsangehörigkeit, Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet, Bezugnahme auf Bundesamtsbescheid, familiäre Gründe, traditionell religiös verheiratete algerische Antragstellerin mit Ehemann aus Syrien, dem der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde, Eheschließung in der Türkei und kein Zusammenleben in Syrien, kein Familienflüchtlingsschutz, Sicherung des Existenzminimums bei Rückkehr, keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote, keine andere Beurteilung aufgrund Corona-Situation in Algerien, inlandsbezogene Gründe, Ehe und Familie, irrelevant, Aufenthaltsverbot, Asylanerkennung, Abschiebungsandrohung, Ausreisefrist, eheliche Lebensgemeinschaft, Lebensunterhalt, Türkei, Eheschließung
Fundstelle:
BeckRS 2020, 26046

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin ist nach eigenen Angaben algerische Staatsangehörige, die ihr Heimatland am 21. März 2019 verlassen hat. Die Antragstellerin reiste am 1. August 2020 in Deutschland ein und stellte am 4. September 2020 einen Asylantrag, den sie auf familiäre Gründe stützte. Sie haben ihren in Deutschland als Flüchtling anerkannten syrischen Ehemann am ... Juni 2014 in der Türkei religiös geheiratet und wolle jetzt zu ihm nach Deutschland ziehen. Sie sei schwanger.
2
Mit Bescheid vom 19. September 2020 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1 des Bescheides), den Antrag auf Asylanerkennung (Nr. 2) und den Antrag auf subsidiären Schutz (Nr. 3) als offensichtlich unbegründet ab. Weiter stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Die Antragstellerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Im Falle des Nichteinhaltens der Ausreisefrist wurde der Antragstellerin die Abschiebung nach Algerien oder einen anderen Staat, in den sie einreisen darf oder der zu ihrer Rücknahme verpflichtet ist, angedroht. Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung und der Lauf der Ausreisefrist wurden bis zum Ablauf der einwöchigen Klagefrist und, im Falle einer fristgerechten Stellung eines Antrags auf Anordnung einer aufschiebenden Wirkung der Klage, bis zur Bekanntgabe der Ablehnung des Eilantrags durch das Verwaltungsgericht ausgesetzt (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
3
Am 2. Oktober 2020 erhob die Antragstellerin im Verfahren W 8 K 20.31115 Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid und beantragte im vorliegenden Verfahren:
4
Die aufschiebende Wirkung der Klage wird angeordnet.
5
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte W 8 K 20.31115) sowie die beigezogene Behördenakte verwiesen.
II.
6
Bei verständiger Würdigung des Begehrens der anwaltlich nicht vertretenen Antragstellerin (§ 88 VwGO i.V.m. § 122 VwGO) ist der Antrag dahingehend auszulegen, dass sie die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 des streitgegenständlichen Bundesamtsbescheids begehrt.
7
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig, aber unbegründet, da insoweit keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides bestehen (§ 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG).
8
Das Gericht folgt den Feststellungen und der Begründung im angefochtenen Bescheid und sieht zur Vermeidung von Wiederholungen von einer nochmaligen Darstellung ab (§ 77 Abs. 2 AsylG). Die Ausführungen im Bescheid decken sich mit der bestehenden Erkenntnislage, insbesondere mit dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien vom 11.7.2020, Stand: Juni 2020; vgl. ebenso BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Algerien vom 26.6.2020; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 11, Algerien, Marokko, Tunesien, Menschenrechtslage, im Fokus: Vulnerable Personen, Stand 6/2019; Länderreport 3, Algerien, November 2018).
9
Das Vorbringen der Antragstellerin rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die angesprochene persönliche Situation ist offensichtlich nicht asyl-, flüchtlings- oder sonst schutzrelevant (vgl. § 30 AsylG), wie die Antragsgegnerin im streitgegenständlichen Bescheid zutreffend ausgeführt hat.
10
Denn nach dem eigenen Sachvortrag der Antragstellerin im behördlichen Verfahren war der wesentliche Ausreisegrund ihre familiäre Situation. Sie wolle zu ihrem syrischen Ehemann, dem in Deutschland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist und den sie am 22. Juni 2014 in der Türkei auf traditionelle Weise religiös geheiratet habe, ziehen, um hier in Deutschland mit ihm zusammenzuleben. Sie sei von ihm schwanger.
11
Die Antragsgegnerin hat insbesondere zutreffend festgestellt, dass die Voraussetzungen der Zuerkennung des Familienflüchtlingsschutzes nach § 26 AsylG offensichtlich nicht vorliegen, weil die lediglich religiös auf traditionelle Weise erfolgte Heirat für sich nicht ausreicht. Darüber hinaus habe die Ehe auch nicht im Verfolgerstaat Syrien bestanden (§ 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG). Denn eine nur nach religiösen Ritus eingegangen Verbindung, die im Heimatstaat nicht anerkannt ist, ist keine Ehe im Sinne dieser Vorschrift, zumal die Antragstellerin nicht vorgebracht hat, dass die im Drittstaat Türkei erfolgte Eheschließung in Syrien oder Algerien tatsächlich anerkannt ist oder wird und die in der Türkei geschlossene Ehe nach syrischem oder algerischen Recht wirksam ist (vgl. auch VG Bayreuth, U.v. 31.10.2018 - B 7 K 17.32826 - juris). Dass etwas Anderes gelten mag, wenn zwei syrische Staatsangehörige in Syrien nach religiösem Ritus die Ehe eingegangen sind und in Syrien zusammengelebt haben (vgl. dazu VG Berlin, U.v. 6.7.2020 - 4 K 769.16 A - juris), ist für die vorliegende, davon abweichende Fallkonstellation nicht relevant. Unabhängig von der Wirksamkeit der Eheschließung fehlt es offenkundig an der weiteren Voraussetzung des § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG, dass die Ehe schon in dem Staat, von dem die Verfolgung des Stammberechtigten ausgeht, bestanden hat und des Weiteren die eheliche Lebensgemeinschaft dort geführt worden ist (vgl. Günther in BeckOK, AuslR in Kluth/Heusch 26. Edition, Stand: 1.7.2020, § 26 AsylG Rn. 8 ff.). Die Antragstellerin hat nach der Eheschließung in der Türkei im Jahr 2014 nicht mit ihrem Ehemann zusammengelebt und erst recht nicht eine eheliche Lebensgemeinschaft in Syrien geführt.
12
Des Weiteren liegen - auch unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Corona-Pandemie - keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. 7 Satz 1 AufenthG vor. Auch insofern wird auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Bescheid, die sich das Gericht zu eigen macht, Bezug genommen und von einer weiteren Darstellung abgesehen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
13
Das Gericht hat insbesondere keine durchgreifenden Zweifel, dass der Antragstellerin im Anschluss an ihre Rückkehr nach Algerien die Sicherung ihrer wirtschaftlichen Existenz möglich sein wird. Gegenteiliges folgt nicht aus der allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Lage in Algerien, wie auch das Bundesamt im streitgegenständlichen Bescheid zutreffend ausgeführt hat. In Algerien ist die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und auch die medizinische Grundversorgung gewährleistet (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien vom 11.7.2020, Stand: Juni 2020, S. 6, 8 f., 21 f.; BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Algerien vom 26.6.2020, S. 27 ff.). Die Antragstellerin ist jung, gesund und erwerbsfähig. Ihr ist deshalb wie in der Vergangenheit zuzumuten, zur Sicherung ihres Existenzminimums den notwendigen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit zu verdienen bzw. gegebenenfalls auf die Unterstützung durch Familienangehörige der noch in Algerien lebenden (Groß-)Familie zurückzugreifen. Letztlich ist der Antragstellerin eine (Re-)Integration in die Lebensverhältnisse ihres Heimatlandes möglich und zumutbar (im Ergebnis ebenso VG München, B.v. 2.7.2020 - M 26 S 20.31428 - juris; VG Frankfurt, U.v. 5.3.2020 - 3 K 2341/19.F.A - juris; SaarlOVG, B.v. 25.9.2019 - 2 A 284/18 - juris; VG Minden, B.v. 30.8.3019 - 10 L 370/19.A - juris; U.v. 28.3.2017 - 10 K 883/16.A - juris; U.v. 22.8.2016 - 10 K 821/16.A - juris; BVerwG, U.v. 15.4.2019 - 1 C 46/18 - juris; U.v. 27.3.2018 - 1 A 5/17 - juris; VG Stade, U.v. 1.4.2019 - 3 A 32/18 - juris; VG Magdeburg, U.v. 6.12.2018 - 8 A 206/18 - juris; VG Köln, B.v. 24.8.2016 - 3 L 1612/16.A - juris).
14
Des Weiteren wird angemerkt, dass auch die weltweite COVID 19-Pandemie kein Abschiebungshindernis begründet, weil nach den aktuellen Fallzahlen in Algerien - auch im Vergleich zu Deutschland - keine hohe Wahrscheinlichkeit der Gefahr der Ansteckung oder gar eines schweren oder lebensbedrohlichen Verlaufs besteht, so dass nicht ersichtlich ist, dass die Antragstellerin bei einer Rückkehr nach Algerien krankheitsbedingt einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben oder sonst einer extremen materiellen Not mit der Gefahr der Verelendung ausgesetzt wäre. Dies gilt gerade, wenn die Antragstellerin die vom algerischen Staat getroffenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie sowie individuelle Schutzmaßnahmen (Einhaltung von Abstand, Hygieneregeln, Mund-Nasen-Schutzmasken usw.) beachtet und die bestehenden Hilfemöglichkeiten in Anspruch nimmt, zumal der algerische Staat nicht tatenlos geblieben ist und Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sowie Hilfemaßnahmen getroffen hat (siehe Auswärtiges Amt, Algerien: Reise- und Sicherheitshinweise; Deutsche Botschaft Algier, aktuelle Corona-Maßnahmen in Algerien; BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation, Afrika, COVID-19 - aktuelle Lage, vom 9.7.2020, S. 14 f.; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Algerien, vom 26.6.2020, S. 30; siehe auch VG München, B.v. 2.7.2020 - M 26 S 20.31428 - juris; vgl. zum Ganzen ausführlich VG Würzburg, B.v. 22.9.2020 - W 8 S 20.31066 - BeckRS 2020, 25104; B.v. 13.8.2020 - W 8 S 20.30940; B.v. 6.8.2020 - W 8 S 20.30912 - juris; jeweils m.w.N.).
15
Abgesehen davon hat die Antragstellerin keinerlei Angaben gemacht, wie sich aktuell die Lage zur Ausbreitung von Covid-19 in Algerien darstellt, insbesondere wie viele Menschen sich dort mit dem zugrundeliegenden Krankheitserreger Sars CoV 2 infiziert haben, hierdurch schwer erkrankt oder gar verstorben sind, von wie vielen Ansteckungsverdächtigen derzeit auszugehen ist, welche Schutzmaßnahmen und welche Effektivität der algerische Staat zur Eindämmung der Pandemie ergriffen hat, um beurteilen zu können, ob und welche Wahrscheinlichkeit für eine möglicherweise befürchtete Ansteckung mit COVID-19 im Fall einer Rückkehr besteht. Denn für die Beurteilung ist auf die tatsächlichen Umstände des konkreten Einzelfalls abzustellen, zu der auch eine eventuelle - bei der Antragstellerin nicht gegebene - Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe gehört (vgl. OVG NRW, B.v. 23.6.2020 - 6 A 844/20.A - juris).
16
Das Gericht verkennt - auch unter Berücksichtigung der Corona-Pandemie -nicht die mitunter schwierigen Lebensverhältnisse in Algerien. Diese betreffen jedoch algerische Staatsangehörige in vergleichbarer Lage in gleicher Weise.
17
Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass die Ausländerbehörde (und nicht die Antragsgegnerin) zuständig ist, über eventuelle inlandsbezogene Abschiebungshindernisse - wie Ehe und Familie (Art. 6 GG) - zu entscheiden (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Infolgedessen ist der Hinweis der Antragstellerin auf ihre familiären Gründe, insbesondere auf ihren in Deutschland lebenden Ehemann, mit dem sie auf traditionelle religiöse Weise verheiratet ist, sowie auf ihre Schwangerschaft, im vorliegenden Verfahren gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge rechtlich ohne Belang. Insoweit ist sie gehalten, sich an die zuständige Ausländerbehörde zu wenden.
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Der Antrag war daher nach alledem mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG abzulehnen.