Inhalt

VG Ansbach, Beschluss v. 22.09.2020 – AN 2 E 20.01762
Titel:

Kein Anspruch auf Distanzunterricht in Pandemiezeiten

Normenketten:
BaySchO § 19 Abs. 4, § 20
GG Art. 2 Abs. 2 S. 1
VwGO § 123
Leitsätze:
1. § 19 Abs. 4 BaySchO begründet keinen Anspruch auf Distanzunterricht. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Durchführung von Präsenzunterricht unter Einhaltung des Rahmen-Hygieneplans zur Umsetzung des Schutz- und Hygienekonzepts für Schulen des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus vom 2. September 2020 verstößt nicht gegen das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG). (Rn. 21 – 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Eilantrag, Schulrecht, Anspruch auf Distanzunterricht in Pandemiezeiten (verneint), Rechtsschutzbedürfnis, Präsenzunterricht, Hygienekonzept, Corona
Fundstelle:
BeckRS 2020, 24958

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragsteller wenden sich, vertreten durch ihre Eltern als gesetzliche Vertreter, mit ihrem Eilantrag nach § 123 VwGO gegen die Pflicht, als Schüler am Präsenzunterricht teilnehmen zu müssen und begehren ein Recht auf Distanzunterricht im Pandemiefall. Die Antragsteller sind Schüler der Grundschule … bzw. des … Mit Schreiben vom 5. September 2020, eingegangen bei Gericht am 7. September 2020, wurde beantragt,
„Recht auf Distanzunterricht für Schüler/innen im Pandemiefall“.
2
Die Antragsteller, vertreten durch ihre Eltern, führen hierzu im Wesentlichen aus, dass der Rahmen-Hygieneplan zur Umsetzung des Schutz- und Hygienekonzepts für Schulen des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus nicht das Recht auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG gewährleiste. Zudem widerspreche das Konzept den Regeln des Robert Koch Instituts. Folgeschäden und chronische Erkrankungen, ausgelöst durch das Coronavirus, seien auch bei leichten Krankheitsverläufen ohne Vorerkrankung aufgetreten. Ebenso seien auch schwere Verläufe ohne Vorerkrankung möglich. Eine Pandemie gehöre nicht zum normalen Lebensrisiko. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 GG sei essentiell und nicht abwägbar.
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Der Antragsgegner beantragte,
den Antrag abzulehnen.
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Dies wurde im Wesentlichen damit begründet, dass der Antrag nach § 123 VwGO bereits unzulässig sei, da sich die Antragsteller nicht vor Befassung des Gerichts an die beiden Schulen gewandt hätten. Ein vorheriger Behördenantrag sei notwendig. Zudem sei der Antrag unbegründet. Die Schulpflicht werde regelmäßig und vorrangig durch die Teilnahme am Präsenzunterricht erfüllt, Art. 56 Abs. 4 Satz 3 BayEUG. Eine vollständige Schließung aller Schulen solle im Schuljahr 2020/2021 grundsätzlich vermieden werden. Gleichzeitig müsse dem Gesundheitsschutz höchster Stellenwert beigemessen werden. Deshalb sehe § 16 der 6. BayIfSMV eine umfassende Pflicht zur Tragung einer Mund-Nasen-Bedeckung an Schulen bis zum 18. September 2020 vor, mit Ausnahme der Grundschüler. Zudem wies der Antragsgegner auf den aktuell geltenden Rahmen-Hygieneplan zur Umsetzung des Schutz- und Hygienekonzepts für Schulen hin sowie auf den Drei-Stufen-Plan, der entwickelt worden sei, um den Entscheidungsträgern vor Ort als Orientierungshilfe bei ihrer Entscheidung zu dienen. Die Entscheidung, ab wann welche Stufe greife, treffe das zuständige Gesundheitsamt in Abstimmung mit der Schulaufsicht. Des Weiteren wies der Antragsgegner auf die zu Schuljahresbeginn angebotene Möglichkeit zur Teilnahme an kostenlosen Reihentestungen auf COVID-19 hin. Es seien ausreichend Vorkehrungen getroffen worden, um einer Ausbreitung des Virus an Schulen wirksam vorzubeugen. Dass die Maskenpflicht nur eingeschränkt gelte, sei der Güterabwägung zwischen Gesundheitsschutz und Bildungsaber auch Erziehungsanspruch geschuldet. Denn es sei eine Tatsache, dass gerade die jüngeren Schüler/innen die persönliche und direkte sprachliche Kommunikation in besonderem Maße bräuchten, um lernen zu können.
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Ausnahmen von der Pflicht, den Präsenzunterricht zu besuchen, bestünden im Rahmen des § 20 BaySchO. So könne, wenn Personen mit Grunderkrankungen mit den Schülern in einem Haushalt leben, eine Befreiung vom Schulbesuch durch den Schulleiter auf Grundlage des § 20 Abs. 3 BaySchO erfolgen.
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Der neu eingeführte Absatz 4 des § 19 BaySchO hingegen vermittle keinen Anspruch auf eine Befreiung vom Präsenzunterricht. Dort werde festgelegt, an welchen Schularten und unter welchen Voraussetzungen Distanzunterricht durchgeführt werden könne. Ein Anspruch auf Genehmigung des Distanzunterrichts könne jedoch nicht auf diese Norm gestützt werden. Anordnung oder Genehmigung des Ausschlusses vom Präsenzunterricht müssten demnach im Vorfeld auf Grundlage einer zutreffenden Ermächtigung, beispielsweise durch die Gesundheitsämter (Anordnung Quarantäne), getroffen worden sein. Die Anordnungen nach § 33 IfSG ergingen nach pflichtgemäßem Ermessen. Die Entscheidung über die Einrichtung des Distanzunterrichts und in welchem Umfang dieser eingerichtet werden solle, treffe die Schule oder die Schulaufsichtsbehörde.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakte verwiesen.
II.
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Der Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO ist unzulässig und unbegründet.
9
Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Verwaltungsgericht, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn die Gefahr besteht, dass durch die Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Eine einstweilige Anordnung kann auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis getroffen werden, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern, oder aus sonstigen Gründen geboten ist.
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Der Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung setzt nach § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO voraus, dass die Antragsteller sowohl glaubhaft machen können, einen Anspruch auf Distanzunterricht zu haben (Anordnungsanspruch), als auch, dass die Notwendigkeit besteht, Rechtsschutz zu gewähren, bevor eine gerichtliche Entscheidung in der Hauptsache ergeht (Anordnungsgrund).
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1. Der Antrag ist unzulässig. Er scheitert bereits am fehlenden Rechtsschutzbedürfnis.
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Das Rechtsschutzbedürfnis fehlt regelmäßig dann, wenn der Antragsteller sich mit seinem Begehren nicht zuvor an die zuständige Verwaltungsbehörde gewandt hat und diese sich im Prozess nicht in der Sache einlässt. Dabei soll für die Bejahung des Rechtsschutzinteresses ausreichen, dass überhaupt ein Antrag an die Behörde gestellt wird, und sei es gleichzeitig mit dem Antrag bei Gericht […]. Ein Antrag an die Behörde ist entbehrlich, wenn er, etwa angesichts einer bereits anderweitig dokumentierten ablehnenden Haltung der Behörde, offensichtlich aussichtslos ist und eine bloße Förmlichkeit darstellt (Wysk, VwGO, 3. Auflage 2020, § 123 Rn. 13).
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Die Antragsteller haben mit Schreiben vom 10. September 2020 eine vorherige Befassung der beiden Schulen - deren Zuständigkeit sich bezüglich der Teilnahme am Unterricht aus § 20 Bayerische Schulordnung (BaySchO) ergibt - mit ihrem Anliegen verneint. Deshalb ist auch nicht ersichtlich, ob diese eine ablehnende Haltung haben, beziehungsweise ob ein Antrag bei den zuständigen Behörden offensichtlich aussichtlos wäre. Der fehlende vorherige Behördenantrag führt bereits zur Unzulässigkeit.
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2. Darüber hinaus ist der Antrag auch unbegründet. Die Antragsteller haben schon das Bestehen eines Anordnungsanspruchs nicht ausreichend glaubhaft gemacht. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung haben die Antragsteller keinen Anspruch auf Beschulung in Form von Distanzunterricht.
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a) Eine Ausnahme von der Pflicht, den stattfindenden Präsenzunterricht zu besuchen, kann unter den Voraussetzungen des § 20 BaySchO gewährt werden. So können Schüler auf schriftlichen Antrag hin in begründeten Ausnahmefällen vom Unterricht in einzelnen Fächern befreit oder vom Schulbesuch beurlaubt werden, § 20 Abs. 3 BaySchO. Ein solcher Grund für die Annahme eines Ausnahmefalls kann - den Ausführungen des Antragsgegners zufolge - beispielsweise eine im selben Haushalt lebende Person mit vorbestehenden Grunderkrankungen sein. Im Fall der Antragsteller scheitert ein solcher Anspruch schon daran, dass weder eine solche Erkrankung der Antragsteller selbst noch deren Eltern oder anderer Mitglieder des gemeinsamen Hausstandes vorgetragen wurde.
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Zudem wird seitens der Antragsteller betont, dass ausdrücklich nicht die Befreiung von der Schulpflicht beantragt wird. Eine Befreiung nach § 20 BaySchO entspräche somit auch nicht dem Begehren der Antragsteller.
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b) Auch auf § 19 Abs. 4 BaySchO kann das Begehren der Antragsteller nicht gestützt werden. Gemäß § 19 Abs. 4 BaySchO ist Distanzunterricht Unterricht, der in räumlicher Trennung von Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern stattfindet. Dieser wird grundsätzlich durch elektronische Datenkommunikation unterstützt. Die Durchführung von Distanzunterricht an einer Schule oder in einzelnen Klassen oder Kursen der Schule ist nur zulässig, (1.) wenn die zuständigen Behörden zum Schutz von Leben oder Gesundheit (a) die Schulschließung oder den Ausschluss einzelner Klassen oder Kurse anordnen und das Einvernehmen der Schulaufsicht vorliegt oder (b) den Ausschluss einzelner Personen anordnen oder genehmigen, (2.) soweit auf Grund außergewöhnlicher witterungsbedingter Ereignisse der Präsenzunterricht an Schulen ausfällt oder (3.) sofern einzelne Schulordnungen dies vorsehen. Bei Distanzunterricht nach Satz 1 ist sicherzustellen, dass eine gleichwertige Teilnahmemöglichkeit aller Schülerinnen und Schüler besteht. Die Schule legt die im Rahmen des Distanzunterrichts eingesetzten elektronischen Verfahren fest, die nach Zweck, Umfang und Art den in Anlage 2 Abschnitt 4 und 7 geregelten Vorgaben entsprechen müssen.
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Einen Anspruch auf Distanzunterricht kann § 19 Abs. 4 BaySchO allerdings nicht vermitteln. § 19 Abs. 4 BaySchO regelt lediglich, ob und wie Distanzunterricht stattfinden darf, falls es beispielsweise durch infektionsschutzrechtliche Maßnahmen zu Schulschließungen oder dem Ausschluss einzelner Personen kommt.
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So ist Voraussetzung für die Erteilung von Distanzunterricht nach § 19 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1a) BaySchO, dass die zuständigen Behörden zum Schutz von Leben oder Gesundheit die Schulschließung oder den Ausschluss einzelner Klassen oder Kurse anordnen und das Einvernehmen der Schulaufsicht vorliegt. Für die Anordnung sämtlicher auf das Infektionsgeschehen gestützter Maßnahmen betreffend Schulen oder sonstiger Ausbildungseinrichtungen sind die Gesundheitsämter oder die übergeordneten Behörden zuständig, siehe §§ 33 ff. IfSG. Eine solche Anordnung ist hier nach Aktenlage nicht ergangen.
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Nach § 19 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1b) BaySchO ist Distanzunterricht zudem zulässig, wenn der Ausschluss einzelner Personen durch die zuständigen Behörden zum Schutz von Leben oder Gesundheit angeordnet oder genehmigt wurde. Eine derartige Anordnung durch das zuständige Gesundheitsamt wäre typischerweise die Anordnung von Quarantänemaßnahmen gegenüber Schülern/Lehrkräften. Eine solche Anordnung oder eine andere infektionsschutzrechtliche Anordnung oder Genehmigung gegenüber den Antragstellern ist nach Aktenlage nicht ersichtlich und auch nicht vorgetragen.
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c) Zuletzt vermag das Gericht eine Verletzung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG aufgrund der Durchführung von Präsenzunterricht unter Einhaltung des Rahmen-Hygieneplans zur Umsetzung des Schutz- und Hygienekonzepts für Schulen des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus vom 2. September 2020 nicht zu erkennen.
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Bei der Erfüllung ihrer Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG kommt staatlichen Stellen ein erheblicher Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Eine Verletzung solcher Schutzpflicht kann nur dann festgestellt werden, wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben (BVerfG, B.v.19.5.2020 - 2 BvR 483/20 - juris).
23
Die vom Antragsgegner ausführlich beschriebenen Maßnahmen des Rahmen-Hygieneplans zur Umsetzung des Schutz- und Hygienekonzepts für Schulen des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus vom 2. September 2020 stellen Schutzvorkehrungen dar, die geeignet und ausreichend sind, um das gebotene Schutzziel zu erreichen. Nach Ansicht der Kammer kann das Risiko einer Infektion mittels der dort dargestellten Maßnahmen (u.a. Maskenpflicht auf dem Schulgelände, feste Gruppenbildung, regelmäßiges Lüften, regelmäßiges Händewaschen, versetzte Pausenzeiten, Drei-Stufen-Plan gekoppelt an die Sieben-Tage-Inzidenz) auf ein vertretbares Maß begrenzt werden. Anhaltspunkte dafür, dass eine Teilnahme der Antragsteller am Präsenzunterricht unter den derzeitigen Bedingungen aufgrund persönlicher Gegebenheiten (eigene Vorerkrankungen oder Vorerkrankungen von Mitgliedern des eigenen Hausstands) schlechterdings unvertretbar wäre, sind weder ersichtlich noch glaubhaft gemacht.
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Die Verfassung gebietet keinen vollkommenen Schutz vor jeglicher […] Gesundheitsgefahr. Dies gilt umso mehr, als ein gewisses Infektionsrisiko mit dem neuartigen Corona-Virus derzeit für die Gesamtbevölkerung zum allgemeinen Lebensrisiko gehört […] (BVerfG, B.v. 19.5.2020 - 2 BvR 483/20 - juris).
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Nach alledem ist der Antrag abzulehnen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1, 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5 des Streitwertkataloges.