Inhalt

LSG München, Beschluss v. 07.09.2020 – L 5 KR 348/20 ER
Titel:

Aussetzung der Vollstreckung aus nicht rechtskräftiger Entscheidung

Normenketten:
SGG § 199 Abs. 2 S. 1
ZPO § 719 Abs. 2
Leitsätze:
1. Bei der Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung durch einstweilige Anordnung nach § 199 Abs. 2 Satz 1 SGG sind die Maßstäbe des § 719 Abs. 2 ZPO - ob die Vollstreckung dem Schuldner einen nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde und nicht ein überwiegendes Interesse des Gläubigers entgegensteht - zu berücksichtigen. (red. LS Benjamin Schmidt)
2. Eine  faktische Vorwegnahme der Hauptsache, welche mit erheblicher Kostenauswirkung verbunden ist, erscheint nicht gerechtfertigt, wenn der Ausgang des Berufungsverfahrens wegen einer durchzuführenden Beweiserhebung offen ist. (red. LS Benjamin Schmidt)
Schlagworte:
Zwangsvollstreckungsrecht, Vollstreckung, vorläufige Vollstreckbarkeit, erstinstanzliche Entscheidung, nicht rechtskräftig, Titel, Aussetzung der Vollstreckung, Vorsitzender des Rechtsmittelgerichts, einstweilige Anordnung, Erfolgsaussichten des Rechtsmittels, Interessenabwägung, Vorwegnahme der Hauptsache
Vorinstanz:
SG München, Gerichtsbescheid vom 29.06.2020 – S 28 KR 1660/19
Fundstelle:
BeckRS 2020, 23909

Tenor

I. Die Vollstreckung aus dem Gerichtsbescheid des SG München vom 29.06.2020 - Aktenzeichen S 28 KR 1660/19 - wird bis zur Erledigung des Rechtsstreits in der Berufungsinstanz ausgesetzt (§ 199 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

I.
1
Mit Gerichtsbescheid vom 29.06.2020 hat das Sozialgericht München die Beklagte verurteilt, den Kläger mit einer Oberschenkelprothese mit Gemium X3 Kniegelenk sowie Triton Fuß als Hilfsmittel zu versorgen. Dagegen ist die Berufung der Beklagten vom 29.07.2020 anhängig (Az.: L 5 KR 314/20). Der Kläger hat die vorläufige Vollziehung der Erstentscheidung am 17.08.2020 begehrt. Daraufhin hat die Beklagte den gegenständlichen Antrag nach § 199 SGG gestellt und diesen im Wesentlichen damit begründet, die erstinstanzliche Entscheidung beruhe auf dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. F … Dieser habe aber keine eigene Vergleichserhebung vorgenommen zwischen der Prothesenversorgung, welche seit 2019 besteht und der kostenintensiven Prothesenversorgung, welche begehrt wird. Zudem begründe der mögliche Nassgebrauch die Versorgung nicht.
2
Dem hat sich der Kläger widersetzt und insbesondere die Gebrauchsvorteile des Gemium X3 Kniegelenks betont.
II.
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Der gem. § 199 Abs. 2 SGG statthafte und zulässige Antrag ist begründet.
4
Bei der vorliegenden Entscheidung ist eine Interessenabwägung vorzunehmen und dabei auch die Maßstäbe des § 719 Abs. 2 ZPO - ob die Vollstreckung dem Schuldner einen nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde und nicht ein überwiegendes Interesse des Gläubigers entgegensteht - einzubringen (BSG, 05.09.2001 - B 3 KR 47/01 R). Zugleich mit den Interessen der Beteiligten und den Nachteilen, die bei einer Vollstreckung für den Vollstreckungsgläubiger, das öffentliche Interesse oder Dritte entstehen würden, sind die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels zu berücksichtigen. Das allgemeine Vollstreckungsrisiko allerdings rechtfertigte eine Aussetzung nicht.
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In Anwendung dieser Grundsätze ist festzustellen, dass vorliegend der Vollzug der erstinstanzlichen Entscheidung in Anbetracht der sozialgerichtlichen Verfahrensbestimmungen und der damit einhergehenden Verfahrensdauer faktisch die Hauptsacheentscheidung vorwegnimmt. Die Anpassung und Versorgung mit einem Gemium X3 Kniegelenk über möglicherweise zwei Jahre oder gar mehr kommt einer kaum noch reversiblen Dauerversorgung äußerst nahe. Zudem sind die Versorgungskosten erheblich, sie belasten die Versicherten- und Beitragszahler in erheblichem Maße. Andererseits haben die Vorteile der zugesprochenen Versorgung auf Seiten des Klägers Berücksichtigung zu finden. Dieser hat jedoch seit Juli 2019 ein neues Kniegelenk des Herstellers erhalten, welcher ihn seit langem versorgt hatte. Nach den eigenen Angaben des Klägers und nach den Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. F. auf Grund eigener Untersuchung sind ihm - dem Kläger - mit dieser Prothese nahezu alle Aktivitäten mit hohem Gleichstellungsgrad möglich. Demgegenüber hinaus hat weder das Sozialgericht, noch der Sachverständige eigene Erhebungen getroffen, ob das strittige Gelenk für den Kläger individuell tatsächlich die Vorteile bringt, die dem Gemium X3 allgemein beizumessen sein werden. Auf diese aber kommt es streitentscheidend an, vom Schreibtisch aus zugeschriebenen Vorteile rechtfertigten die Versorgung hingegen nicht, sondern allein diejenigen, welche im konkreten Falle individuell bestehen. Ob dies vorliegend zu bejahen sein wird, ist offen und in noch eigner Beweiserhebung zu klären. Der somit offene Verfahrensausgang rechtfertigt eine weitgehende faktische Vorwegnahme der Hauptsache, welche mit erheblicher Kostenauswirkung verbunden ist, vorliegend nicht.
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In Abwägung der relevanten Entscheidungsgesichtspunkte wird deshalb die Vollstreckung aus dem Gerichtsbescheid des SG München vom 29.06.2020 ausgesetzt.
7
Diese Anordnung ist unanfechtbar; sie kann jederzeit aufgehoben werden (§ 199 Abs. 2 Satz 3 SGG).