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BayObLG, Urteil v. 19.02.2020 – 207 StRR 2415/19
Titel:

Die asylrechtliche Aufenthaltsgestattung ist kein Aufenthaltstitel im Sinne des AufenthG 

Normenketten:
EMRK Art. 6 Abs. 1 S. 1
AsylG § 63
AufenthG § 95 Abs. 2 Nr. 2
Leitsatz:
Ein Asylbewerber macht sich nicht nach § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG strafbar, wenn er im Asylverfahren unrichtige Angaben macht. (Rn. 9 – 14)
Schlagworte:
Anerkennung, Asylverfahren, Aufenthaltsgestattung, terroristische Vereinigung, Duldung, unrichtige Angaben
Vorinstanz:
LG München I, Urteil vom 04.04.2019 – 23 Ns 381 Js 154724/18
Fundstelle:
BeckRS 2020, 2282

Tenor

I. Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 4. April 2019 wird als unbegründet verworfen.
II. Die Staatskasse trägt die Kosten des Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Angeklagten.

Entscheidungsgründe

I.
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Das Amtsgericht München erließ am 10. August 2018 einen Strafbefehl, der folgenden Sachverhalt enthielt:
„Sie sind somalischer Staatsangehöriger und unterliegen demzufolge den besonderen Bestimmungen des Asylsowie des Aufenthaltsgesetzes.
Am 26.01.2017 tätigten Sie im Rahmen Ihrer Anhörung zu Ihrem Asylverfahren gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, ..., bewusst wahrheitswidrig die nachfolgenden Angaben:
Sie seien am 10.11.2014 in der somalischen Stadt ... nach einer Entführung aus der Schulde von Angehörigen der „Al-Shabab“ Miliz in ein Ausbildungslager der terroristischen Vereinigung „al Shabab“ in der Nähe der somalischen Stadt Afgooye verbracht und dort ideologisch geschult worden. Nach etwa einem Monat seien Sie in ein weiteres Ausbildungslager in der Nähe von Mogadishu verlegt worden. Nach weiteren etwa zwei Monaten seien Sie in ein drittes Ausbildungslager in dem Stadtteil Gerisbaarley gekommen und dort weiter im Umgang mit Sprengstoffwesten geschult und zum Sprengstoffattentäter ausgebildet worden. Während Ihres gesamten Aufenthalts dort seien Sie durch die Androhung von körperlicher Gewalt zum Bleiben motiviert worden. Anlässlich eines Angriffs der somalischen Regierungstruppen sei Ihnen schließlich am 10.04.2015 die Flucht aus dem Ausbildungslager gelungen.
Die vorgenannten Angaben waren von Ihnen frei erfunden worden, da Sie sich hierdurch bessere Aussichten im Asylverfahren versprachen.“
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Der Strafbefehl wertete dieses Verhalten als Erschleichen eines Aufenthaltstitels gem. § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG.
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Auf fristgemäßem Einspruch des Angeklagten hin terminierte das Amtsgericht das Verfahren und sprach den Angeklagten mit Urteil vom 12. Dezember 2018 frei. Die zulässige Berufung der Staatsanwaltschaft verwarf das Landgericht mit Urteil vom 4. April 2019. Beide freisprechende Urteile beruhen auf der Rechtsansicht, dass falsche Angaben im Asylverfahren zur Erlangung des Asylstatus nicht gem. § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG strafbar seien.
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Gegen das Urteil des Landgerichts wendet sich die Revision der Staatsanwaltschaft.
II.
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Die zulässige Revision der Staatsanwaltschaft ist unbegründet.
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1. Soweit das Landgericht keinen Sachverhalt festgestellt hat, ist dies vorliegend ausnahmsweise unschädlich. Zwar ist dies grundsätzlich bei einem freisprechenden Urteil erforderlich. Diese Pflicht ist allerdings nicht Selbstzweck, sondern reicht nur soweit, als das Gericht gemäß § 244 Abs. 2 StPO gehalten ist, zur Erforschung der Wahrheit alle die Umstände aufzuklären, die für die Entscheidung von Bedeutung sind. Das Gericht ist damit nicht zu einer überschießenden Aufklärung verpflichtet. Insbesondere hat eine weitere Beweisaufnahme zu unterbleiben, wenn feststeht, dass der Angeklagte freigesprochen werden muss (BayObLG, Beschluss vom 28.1.2003 - 5 StRR 9/03 bei juris Rn. 7). Somit sind Feststellungen entbehrlich, wenn bereits der angeklagte Sachverhalt nicht strafbar ist. Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK hat jede Person ein Recht auf eine Verhandlung innerhalb angemessener Frist. Diese angemessene Frist wird dann überschritten, wenn eine Beweisaufnahme über den angeklagten Sachverhalt durchgeführt wird, obwohl von vorneherein aus Sicht des Gerichts feststeht, dass keine Straftat vorliegt. In einem derartigen Fall muss die Eröffnung des Strafverfahrens bzw. der Erlass eines Strafbefehls abgelehnt werden. Geschieht dies nicht, so hat das Gericht baldmöglichst freizusprechen, um die Rechte des Angeklagten zu wahren. Hiermit unvereinbar wäre es, zu verlangen, dass das Gericht noch das tatsächliche Vorliegen des angeklagten Sachverhalts überprüft.
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Ein derartiger Fall liegt hier vor. Dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ist zu entnehmen, dass das Landgericht aus rechtlichen Gründen freigesprochen hat, weil aus seiner Sicht der angeklagte Sachverhalt keinen Straftatbestand erfüllt.
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2. Der Freispruch ist auch im Übrigen nicht zu beanstanden. Der angeklagte Sachverhalt ist nicht strafbar, insbesondere nicht gemäß § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG.
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Gemäß § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG macht sich strafbar, wer unrichtige oder unvollständige Angaben macht oder benutzt, um für sich oder einen anderen einen Aufenthaltstitel oder eine Duldung zu beschaffen. Die Angaben des Angeklagten im Asylverfahren erfolgten der Anklageschrift zufolge zwar, um Asyl zu erlangen, sie dienten jedoch nur mittelbar dazu, einen Aufenthaltstitel zu erlangen. Dies genügt nicht.
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a) Allgemein anerkannt und auch von der Staatsanwaltschaft nicht in Frage gestellt ist, dass unrichtige Angaben eines Asylbewerbers zur Erlangung einer Aufenthaltsgestattung im Asylverfahren (§ 63 AsylG) nicht über die allgemeine Strafvorschrift im Ausländerrecht erfasst sind (vgl. BGH NJW 1997, 333; Lutz InfAuslR 1997, 384, 388). Die asylrechtliche Aufenthaltsgestattung ist kein Aufenthaltstitel im Sinne des AufenthG (KG, Beschluss vom 22.12.2009 - (3) 1 Ss 410/08 bei juris).
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b) Die vom Asylbewerber erstrebte Anerkennung als Asylberechtigter und damit der letztlich beabsichtigte Erhalt eines Aufenthaltstitels gemäß § 6 AsylG, § 25 AufenthG ist bereits vom Wortlaut des § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG nicht erfasst. Es handelt sich bei dieser Vorschrift um ein abstraktes Gefährdungsdelikt, da der Aufenthaltstitel tatsächlich nicht aufgrund der falschen Angaben erteilt worden sein muss. Vielmehr reicht es aus, wenn die Angaben für das Verfahren allgemein von Bedeutung sind und damit grundsätzlich zur Verschaffung eines unrechtmäßigen Aufenthaltstitels führen können (BGH, Beschluss vom 2.9.2009 - 5 StR 266/09 bei juris Rn. 19; Hohoff in: BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.8.2019, § 95 AufenthG Rn. 91).
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Wegen dieser vorausgesetzten allgemeinen Bedeutung der Angaben für das Verfahren muss sich aber auch die Absicht des Täters, für sich oder einen anderen einen Aufenthaltstitel oder eine Duldung zu beschaffen, auf dieses Verfahren beziehen, das die Erteilung des Aufenthaltstitels zum Gegenstand hat. Somit muss ein funktionaler Zusammenhang zwischen seinen Angaben und der Erteilung des Aufenthaltstitels bestehen (zur Erfordernis des funktionalen Zusammenhangs bei dem vergleichbaren abstrakten Gefährdungsdelikt des § 239a StGB vgl. Fischer, StGB 66. Aufl. § 239a Rn. 11 m. w. Nachw.). Das Asylverfahren ist gerade kein ausländerrechtliches Verfahren zur Erteilung eines Aufenthaltstitels, auch wenn es hierfür eine Rolle spielt. In einem Verfahren zur Erteilung eines Aufenthaltstitels sind eine Vielzahl von Informationen bedeutsam. Die unrichtigen Angaben mögen sich dahin auswirken, dass in der Folge ein Aufenthaltstitel erteilt wird. Dies ist jedoch lediglich die mittelbare Folge des Asylverfahrens. Würde es für eine Strafbarkeit ausreichen, wenn irgendwo in anderen Verfahren falsche Angaben zur Erlangung eines Aufenthaltstitels gemacht werden, die nur mittelbar für dessen Erteilung relevant sind, so würde dies den Wortlaut der Strafvorschrift überdehnen.
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c) Auch aus der Systematik und dem Willen des Gesetzgebers ergibt sich, dass unrichtige Angaben eines Asylbewerbers im Asylverfahren nicht von der Norm des § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG umfasst sind. Im AsylG finden sich in den §§ 84, 84a und 85 Strafvorschriften, die gerade keinen derartigen Straftatbestand vorsehen. Nachdem noch der Gesetzentwurf eine entsprechende Strafvorschrift in § 32 Nr. 5 vorgesehen hatte (BT-Drs. 9/875, S. 8, 26 f.), strich sie der Rechtsausschuss mit ausführlicher Begründung, weil er insoweit gerade keine Strafbarkeit des Asylbewerbers befürwortete (BT-Drs. 9/1630, S. 28). Zwar mag der Bundesrat im Rahmen der Anrufung des Vermittlungsausschusses davon ausgegangen sein, dass die allgemeine Vorschrift im Ausländerrecht auch diesen Sachverhalt umfasse (BT-Drs. 9/1705, S. 7). Angesichts des deutlich geäußerten Willens des Rechtsausschusses des Bundestages hätte es jedoch einer ausdrücklichen Verweisung im Asylrecht bedurft, um die allgemeine Strafbarkeitsvorschrift des Ausländerrechts anwenden zu können.
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d) Diese Rechtsauffassung wird im Ergebnis auch einhellig in der Rechtsprechung (OLG Brandenburg, Beschluss vom 16.10.2019 - 1 Ss 69/19 bei juris Rn. 22f.; OLG Bamberg, Beschluss vom 28.2.2014 - 2 Ss 99/13 - bei juris Rn. 20; LG Aachen, Beschluss vom 2.4.2019 - 66 Qs 18/19 bei juris) sowie im Schrifttum (Schmidt-Sommerfeld in: MüKo-StGB 3. Aufl. § 82 AsylG Rn. 2f.; Hohoff in: BeckOK Ausländerrecht Stand: 1.8.2019 Vorb. zu § 84 AsylG; Hadamitzky/Senge in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtl. Nebengesetze § 84 AsylG Rn. 2; Hörich in: Huber, Aufenthaltsgesetz 2. Aufl. § 95 Rn. 231) geteilt.
III.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1, Abs. 2 StPO.