Inhalt

VG München, Beschluss v. 03.09.2020 – M 23 S 20.2827
Titel:

Anordnung der aufschiebenden Wirkung der gegen eine verkehrsrechtliche Anordnung gerichteten Klage – Tempolimit auf 120 km/h auf Isentalautobahn

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, Abs. 5 S. 1, S. 3, § 114 S. 1
StVO § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, Nr. 6, § 46 Abs. 1 Nr. 11
BayVwVfG Art. 45 Abs. 2
Leitsatz:
Die Ermächtigung des § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 StVO erfasst nicht solche Fälle, in denen die Straßenverkehrsbehörde nur eine Gefahr vermutet und ermöglicht damit keinen Gefahrerforschungseingriff (Anschluss an VGH München DAR 2007, 223; OVG Münster BeckRS 9998, 39368; Bestätigung von VG München BeckRS 2015, 42832). (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verkehrsversuch, Bundesautobahn A94, Geschwindigkeitsbeschränkung, Gefahrenverdacht, Gefahrerforschung, Lärmbelastung, Lärmbelästigung, verkehrsrechtliche Anordnung, Ermessen
Fundstellen:
DVBl 2021, 681
LSK 2020, 22626
BeckRS 2020, 22626

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der gegen die verkehrsrechtlichen Anordnungen vom 30. Januar 2020 und 31. Juli 2020 gerichteten Klage (M 23 K 20.2826) wird angeordnet.
II. Der Antragsgegner wird einstweilen verpflichtet, die aufgrund der verkehrsrechtlichen Anordnungen vom 30. Januar 2020 und 31. Juli 2020 örtlich bestehende Zeichen 274-120 umgehend und vollständig zu beseitigen oder anderweitig unkenntlich zu machen.
III. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
IV. Der Streitwert wird auf 20.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die auf der sog. I.-autobahn (A 94) im Abschnitt zwischen P. und Wi. beidseitig auf einer Strecke von jeweils etwa 35 Kilometern temporär bis zum 31. Dezember 2020 angeordnete Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit auf 120 km/h.
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Die bestandskräftig planfestgestellte A 94 wurde im Abschnitt zwischen P. und H. neu hergestellt. Am 30. September 2019 wurde der Verkehr ohne Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit freigegeben. Seit Eröffnung des Neubaus der I.-lautobahn mehrten sich Beschwerden von Anwohnern, die ihrem Begehren nach Lärmschutz unter anderem durch ihre gemeindlichen Vertretungen Ausdruck verliehen. Dabei wurden etwa fehlende bzw. unzureichende Lärmschutzvorrichtungen, Planungs- und Bauausführungsfehler, sowie als besonders störend empfundene Einzelfahrzeuge als Ursache für eine unzumutbare Lärmbelästigung angeführt. Wegen der Einzelheiten wird auf die Behördenakte Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO).
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Mit verkehrsrechtlicher Anordnung vom 30. Januar 2020 ordnete die Autobahndirektion Südbayern versuchsweise und zunächst befristet vom 1. Februar bis 31. Juli 2020 im Bereich von der Anschlussstelle P. bis zum Tunnel Wi. auf der A 94 eine beidseitige Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 120 km/h mittels sich mehrfach wiederholender Zeichen 274-120 an. Die Geschwindigkeitsbeschränkungen erstrecken sich in Fahrtrichtung Osten (P.) auf etwa 33 Kilometer und in Fahrtrichtung Westen (M.) auf etwa 35 Kilometer. Die entsprechende örtliche Beschilderung ist erfolgt.
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Dies wurde - gestützt auf § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und 6 Alt. 1 der Straßenverkehrsordnung (StVO) - im Wesentlichen mit dem Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm begründet. Das zumutbare Maß der Lärmbelastung sei nach Meinung der beschwerdeführenden Anwohner und Gebietskörperschaften überschritten. Die vorliegenden und die gesamte Neubaustrecke betreffenden Beschwerden würden den Schluss nahelegen, dass der Verkehr auf der Neubaustrecke den allgemeinen Ordnungsvorstellungen zuwiderlaufe. Ein Eingreifen sei zum Schutz der Gesundheit geboten. Überdies begründe sowohl die Lage der Neubaustrecke in einem Flusstal (I.) als auch das Fehlen einer V.-straße auf der gewählten Trassenführung und die damit einhergehende schlagartig entstandene Lärmbelastung besondere örtliche Verhältnisse. Die Maßnahme sei auch verhältnismäßig. Insbesondere bleibe die Verkehrsfunktion der A 94 als Bundesautobahn erhalten. Die Fahrgeschwindigkeit auf der (beschränkten) Neubaustrecke sei weiterhin deutlich höher als noch zuvor auf der Bundesstraße 12. Ermittlungsziel des Verkehrsversuchs sei insbesondere festzustellen, ob und inwieweit die von den Anwohnern als übermäßig und damit im Eindruck der örtlichen Verhältnisse als unzumutbar empfundene Lärmbeeinträchtigung auf die Spitzengeschwindigkeiten einzelner, besonders schnell fahrender Fahrzeuge zurückgehe. Hierzu sollen Geschwindigkeitsmessungen während der Versuchsphase durchgeführt werden. Diese Ergebnisse sollen im Anschluss an die Testphase mit Geschwindigkeitsmessungen abgeglichen werden, die von Geschwindigkeitsbeschränkungen unbeeinflusst seien. Straßenbaulicherseits werde die Bauausführung und -planung überprüft. Auch werde die Lärmwirkung der Fahrbahnoberfläche geprüft sowie ein Lärmgutachten erstellt, um die Lärmberechnung der Planfeststellung zu verifizieren. Nach Abschluss der Überprüfungen solle entschieden werden, ob die Geschwindigkeitsbeschränkungen geeignet und erforderlich seien, die Situation auf Dauer zu entschärfen.
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Mit am 25. Juni 2020 beim Bayerischen Verwaltungsgericht M. eingegangenem Schriftsatz erhob der Antragsteller gegen die verkehrsrechtliche Anordnung vom 30. Januar 2020 Klage (M 23 K 20.2826), über die bislang nicht entschieden wurde, und beantragte gleichzeitig - zuletzt mit Schriftsatz vom 15. Juli 2020 - für das vorliegende Verfahren
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„die Durchführung eines Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes im Eilverfahren, um die aufschiebende Wirkung wiederherzustellen. Alternativ Herstellung des ursprünglichen Zustandes durch Anordnung des Gerichts.“
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Hierzu stellte der Antragsteller mit Schriftsatz vom 26. August 2020 klar, dass der Eilantrag auch auf umgehende Entfernung der Verkehrszeichen gerichtet ist. Zur Begründung führt der Antragsteller - ergänzend mit Schriftsatz vom 15. Juli 2017 - im Wesentlichen aus, es lägen über die Beschwerden hinaus keine konkreten Anhaltspunkte für eine unzumutbare Lärmbelastung vor. Ein von der Gemeinde L. in Auftrag gegebener immissionstechnischer Bericht habe sogar ergeben, dass der Mittelungspegel deutlich unter dem ortsspezifischen Immissionsgrenzwert der 16. Bundesimmissionsschutz-Verordnung (16. BImSchV) liege. Auch seien nachträgliche Lärmmessungen angesichts der sich im Planfeststellungsverfahren ergebenden Lärmwerte nicht erforderlich. Lärmmessungen könnten im Übrigen auch bei unbeschränkter Höchstgeschwindigkeit durchgeführt werden. Insgesamt seien die angeordneten Geschwindigkeitsbeschränkungen ungeeignet und angesichts der Länge der Teststrecke unverhältnismäßig. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Begründung und ihre Anlagen Bezug genommen.
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Die Antragsgegnerin beantragte schriftsätzlich am 23. Juli 2020,
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den Antrag abzulehnen.
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Mit - ergänzend auf § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 Alt. 3 StVO gestützter - verkehrsrechtlicher Anordnung vom 31. Juli 2020 verlängerte der Antragsgegner die Geltungsdauer der ursprünglich bis zum 31. Juli 2020 befristeten verkehrsrechtlichen Anordnung auf den 30. Dezember 2020, da angesichts des während der Corona-Pandemie erheblich zurückgegangenen Verkehrsaufkommens die zur Erstellung des bezweckten Lärmgutachtens erforderlichen Messungen nicht hätten sinnvoll durchgeführt werden können. Diese stünden aus und seien abhängig von den Witterungsverhältnissen im Zeitraum September/Oktober ab der 36. Kalenderwoche geplant. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf die Anordnung Bezug genommen.
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Mit Schriftsatz vom 24. August 2020 begründete der Antragsgegner die beantragte Antragsablehnung und äußerte angesichts des Ablaufs der am 30. Januar 2020 angeordneten Geltungsdauer Bedenken an der Zulässigkeit der Klage und des Eilantrags. Die Anordnungen seien jeweils selbstständig tragend aus § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO und § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 Hs. 2 StVO begründet. Die tatbestandlichen Voraussetzungen lägen vor. Da es sich um eine Neubaustrecke handle, stelle sich die im Rahmen des § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO zu bewertenden Ortsüblichkeit als offen dar. Auf allgemeine Erfahrungswerte können nicht zurückgegriffen werden. Die topografischen Gegebenheiten im Isental erforderten eine individuelle Betrachtung der Gesamtsituation, welche durch die mit Lärmmessungen begleiteten Geschwindigkeitsbeschränkungen gewährleistet sei. Im Hinblick auf die selbstständig tragende Rechtsgrundlage des § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 Hs. 2 StVO bedürfe es für Erprobungsmaßnahmen keiner besonderen örtlichen Gefahrenlage im Sinne des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO. Letztlich sei die Verhältnismäßigkeit gewahrt, da weiterhin ein zügiger Verkehrsfluss gewährleistet sei. Die Beeinträchtigung der Verkehrsteilnehmer sei gering, wohingegen die Anwohner über das zumutbare Maß hinaus durch den auf Spitzengeschwindigkeiten zurückzuführenden Lärm beeinträchtigt seien.
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Der Antragsteller erklärte schriftsätzlich am 26. August 2020, die verkehrsrechtliche Anordnung vom 31. Juli 2020 sowohl in das Klagewie auch in das vorliegende Eilverfahren einzubeziehen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Gerichts- und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
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Der Antrag des anwaltlich nicht vertretenen Antragstellers war sachdienlich (§§ 86 Abs. 1, § 88, § 122 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO) dahingehend auszulegen, dass er neben der Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 2 VwGO) der erhobenen Klage (M 23 K 20.2826) auch die mit Aufstellung der Zeichen 274-120 erfolgte Vollziehung der verkehrsrechtlichen Anordnungen mittels einstweiliger Anordnung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO aufzuheben begehrt.
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Der Antrag hat Erfolg.
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I. Der nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO statthafte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist zulässig. Die vom Antragsteller erhobene Anfechtungsklage hat entgegen der Grundregel des § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO keine aufschiebende Wirkung, da die angeordnete und mittels Aufstellung der Verkehrszeichen bekanntgegebenen Geschwindigkeitsbeschränkung mit einer von Polizeivollzugsbeamten angeordneten Maßnahme gleichsteht und demnach unaufschiebbar ist, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VwGO (BVerwG, U.v. 9.4.2014 - 3 C 5/13 - juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 28.6.2018 - 11 CS 18.964 - juris Rn. 9).
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1. Entgegen der vom Antragsgegner kundgetanen Bedenken besteht das Rechtsschutzbedürfnis fort, auch wenn der Geltungszeitraum der Geschwindigkeitsbeschränkungen mit verkehrsrechtlicher Anordnung vom 30. Januar 2020 - zunächst - lediglich bis zum 31. Juli 2020 bezeichnet war. Mit Überschreiten dieses Datums hat sich die verkehrsrechtliche Anordnung vom 30. Januar 2020 aber nicht durch Zeitablauf gem. Art. 45 Abs. 2 des Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetzes (BayVwVfG) erledigt, da die Autobahndirektion die darin angeordnete Geltungsdauer mit verkehrsrechtlicher Anordnung vom 31. Juli 2020 ausdrücklich verlängert hat. Damit hat die Autobahndirektion davon abgesehen, eine eigenständige verkehrsrechtliche Anordnung zu treffen. Zudem hat der Antragsteller die verkehrsrechtliche Anordnung vom 31. Juli 2020 in seine Klage und seinen Eilantrag mit Schriftsatz vom 26. August 2020 sachlich einbezogen. Eine auf ihre Sachdienlichkeit hin zu bewertende Antragsänderung wurde damit nicht bewirkt.
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2. Der Antrag hat auch in der Sache Erfolg.
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Das Gericht trifft im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO aufgrund der Sach- und Rechtslage im Entscheidungszeitpunkt eine eigene Ermessensentscheidung. Bei dieser Entscheidung wägt das Gericht ab zwischen dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage (Aussetzungsinteresse) und dem - vorliegend - gesetzlich angelegten öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Allgemeinverfügung (Vollzugsinteresse). Maßgeblich sind dabei regelmäßig die Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO allein erforderliche aber auch ausreichende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 VwGO aufgrund des dort bereits gesetzlich angelegten öffentlichen Interesses in der Regel das Interesse des Antragstellers zurück, ohne dass es eines besonderen Vollzugsinteresses bedarf (Eyermann/Hoppe, 15. Aufl. 2019, VwGO § 80 Rn. 91). Erweist sich die angefochtene Anordnung bei dieser Prüfung dagegen als rechtswidrig, besteht regelmäßig kein Interesse an deren sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es - vorbehaltlich einer Interessenabwägung - in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 VwGO regelmäßig bei der gesetzlich vorgegebenen Vollziehbarkeit.
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Vorliegend überwiegt das Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung jedoch das öffentliche Interesse des Antragsgegners, da sich die verkehrsrechtlichen Anordnungen als voraussichtlich rechtswidrig erweisen (hierzu a.). Das Vollzugsinteresse überwiegt auch nicht ausnahmsweise aufgrund der für das Straßenverkehrsrecht besonders zu berücksichtigenden öffentlichen Belange (hierzu b.)
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a. Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage bestehen gegen die angeordneten Geschwindigkeitsbeschränkungen durchgreifende rechtliche Bedenken, die der Klage voraussichtlich zum Erfolg verhelfen dürften. Die angeordneten Geschwindigkeitsbeschränkungen dürften sich zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt als rechtswidrig erweisen (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Maßgeblicher Zeitpunkt der Beurteilung der Sachund Rechtslage ist vorliegend der der Entscheidung des Gerichts, wie auch sonst regelmäßig bei der Anfechtung von Dauerverwaltungsakten - wie sie Verkehrszeichen darstellen - der Zeitpunkt der tatsachengerichtlichen Entscheidung maßgeblich ist (BVerwG, U.v. 23.9.2010 - 3 C 32/09 - juris Rn. 19; VG M., U.v. 29.9.2014 - M 23 K 14.3323 - juris Rn. 33; BeckOK StVR, 8. Ed. 1.7.2020, StVO § 39 Rn. 61).
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Der Antragsgegner kann die Anordnung weder auf Nr. 3 noch auf Nr. 6 des § 45 Abs. 1 Satz 1 und 2 StVO stützen. Danach können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten. Das gleiche Recht haben Sie zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen (Nr. 3) und zur Erforschung des Unfallgeschehens, des Verkehrsverhaltens, der Verkehrsabläufe sowie zur Erprobung geplanter verkehrssichernder oder verkehrsregelnder Maßnahmen (Nr. 6). Allgemein gilt für Verkehrszeichen, dass Anordnungen durch Verkehrszeichen nur dort getroffen werden dürfen, wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend geboten ist, § 39 Abs. 1 StVO. Zwingend geboten ist ein Verkehrszeichen nur dann, wenn das Verkehrszeichen die zur Gefahrenabwehr unbedingt erforderliche und allein in Betracht kommende Maßnahme ist (BayVGH, U.v. 28.9.2011 - 11 B 11.910 - juris Rn. 25). Damit haben die Vorschriften als Voraussetzung stets eine konkrete Gefahrenlage gemein (BayVGH, B.v. 7.12.2006 - 11 CS 06.2450 - juris Rn. 52). Dies gilt auch für Versuchsanordnungen nach § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StVO (vgl. VG M., U.v. 29.9.2014 - M 23 K 14.3323 - juris Rn. 36). Bei der Feststellung einer konkreten Gefahr trifft die Straßenverkehrsbehörde eine besondere Darlegungslast. Sie ist vor Erlass einer verkehrsrechtlichen Anordnung zu einer Prüfung der objektiven Gefahrenlage für die öffentliche Sicherheit und Ordnung verpflichtet (VG M., U.v. 8.7.2014 - M 23 K 13.3214 - juris; BeckOK StVR, 8. Ed. 1.7.2020, StVO § 39 Rn. 54).
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Hieran anknüpfend belegen die vom Antragsgegner angeführten Tatsachen aber keine konkrete Gefahr. Dagegen spricht schon, dass die erforderliche konkrete Gefahr bezogen auf die hier in Rede stehende unzumutbaren Lärmbelastungen weder konkret ermittelt noch die entsprechenden Beschwerden verifiziert wurden. Der Antragsgegner geht - der ständigen Rechtsprechung unter anderem der erkennenden Kammer folgend (vgl. VG M., U.v. 19.1.2016 - M 23 K 14.1931 - juris Rn. 49 ff) - zu Recht davon aus, dass die Grenzwerte der Lärmschutz-Richtlinien-StV und der 16. BImSchV lediglich Orientierungspunkte bei der Bewertung einer unzumutbaren Lärmlage begründen, Schutz also nicht erst dann zu gewähren ist, wenn der Lärm einen bestimmten Lärmpegel überschritten hat. Es genügt vielmehr, dass der Lärm Beeinträchtigungen mit sich bringt, die jenseits dessen liegen, was unter Berücksichtigung der Belange des Verkehrs im konkreten Fall als ortsüblich hingenommen und damit zugemutet werden muss (BVerwG, U.v. 4.6.1986 - 7 C 76/84 - juris Rn. 13; VG M., U.v. 26.6.2019 - M 23 K 18.545 - juris). Dennoch bedarf es aber vor der Anordnung jedenfalls einer ordnungsgemäßen Bestandsaufnahme des „Ist-Zustandes“, um die Beeinträchtigung überhaupt erst feststellen zu können. Hieran fehlt es vorliegend vollständig. Vielmehr hat sich der Antragsgegner auf die bloßen subjektiven - und damit nicht messbaren - Empfindungen und Wahrnehmungen von Anwohnern gestützt, mögen diese angesichts der erstmaligen Inbetriebnahme der I.-lautobahn bei bis dahin gewohnter weitgehender Ruhe und Idylle auch subjektiv nachvollziehbar sein. Indem der Antragsgegner in der Anordnung vom 30. Januar 2020 (S. 7) maßgeblich davon ausgeht, „die vorliegenden und die gesamte Neubaustrecke betreffenden Beschwerden legen den Schluss nahe, dass die Führung des Verkehrs auf der Bundesautobahn im Neubauabschnitt aufgrund der hierdurch verursachten Lärmemissionen den allgemeinen Ordnungsvorstellungen zu wider läuft“, hat der Antragsgegner kundgetan, ausschließlich die subjektiven Beschwerden zum Anlass seines Handelns genommen zu haben, ohne eigene Ermittlungen einer tatsächlichen Gefahrenlage anzustellen, insbesondere da von den Beschwerdeführern verschiedene Lärmquelle und -ursachen bezeichnet wurden (z.B. mangelhafte Planung und Bauausführung, unzureichende Lärmschutzvorrichtungen). Auch hat der Antragsgegner nicht ansatzweise sonstige durchgreifende und eine konkrete Gefahr begründende Umstände dargelegt, die eine von der planfestgestellten I.-lautobahn ausgehende unzumutbare Lärmbelastung begründen würden. Vielmehr beließ es der Antragsgegner dabei, sich die seiner Auffassung nach aus den Beschwerden zu schlussfolgernde Gefahr daraus zu erschließen, dass die Neubaustrecke der Bundesautobahn einerseits topografisch in einem Flusstal gelegen sei und, dass es andererseits an einer V.-straße fehle, was folglich eine schlagartig über die zuvor gegebenen Verhältnisse hinausgehende Belastung mit sich bringe. Aus diesen Umständen Rückschlüsse auf die in der Tat vorliegenden zahlreichen Beschwerden zu ziehen mag zwar richtig sein. Allerdings durfte der Antragsgegner die Beschwerden nicht unmittelbar zum Anlass für die Verkehrsbeschränkung nehmen, sondern es hätten zunächst valide Ermittlungen zur Erforschung der tatsächlich vorhandenen Emissionen durchgeführt werden müssen, wie dies beispielsweise die Gemeinde L. mit dem vom Antragsteller vorgelegten immissionstechnischen Bericht eines Ingenieurbüros vom 17. März 2020 getan hat. Im Übrigen sei angemerkt, dass sich anhand dieses Berichts selbst für der I.-lautobahn nahegelegene Standorte im Januar - und damit vor Umsetzung der Geschwindigkeitsbeschränkungen - eine Überschreitung der Orientierungswerte der 16. BImSchV nicht feststellen lässt. Dies dürfte erst Recht für weiter entfernt bewohnte Bereiche gelten; jedenfalls hätte eine valide Gefahrenerforschung nahegelegen, was aber durch den Antragsgegner unterblieben ist.
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Im Hinblick auf die Erforschung und Erprobung verkehrssichernder und verkehrslenkender Maßnahmen wird zwar nicht zu fordern sein, dass die hierzu eingesetzte Versuchsmaßnahme als endgültige Regelung rechtmäßig angeordnet werden darf (OVG NW, B.v. 19.12.1995 - 25 B 2750/95 - juris Rn. 15). Allerdings dient die Ermächtigung des § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StVO der Zielrichtung, mehr Sicherheit im Straßenverkehr zu gewinnen. Erfasst werden sollten also solche Fälle, in denen nicht die Frage zweifelhaft ist, ob überhaupt eine Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung des Straßenverkehrs vorliegt, sondern solche, in denen noch geklärt werden muss, welche Maßnahmen zur Abwehr dieser Gefahr geeignet und erforderlich sind. Es genügt also nicht, dass die Straßenverkehrsbehörde nur eine Gefahr vermutet. Ein Gefahrerforschungseingriff ist damit nicht ermöglicht (BayVGH, B.v. 7.12.2006 - 11 CS 06.2450 - juris RN. 52; OVG NW, B.v. 19.12.1995 - 25 B 2750/95 - juris Rn. 7; VG M., U.v. 29.9.2014 - M 23 K 14.3323 - juris Rn. 36; MüKoStVR/Steiner, 1. Aufl. 2016, StVO § 45 Rn. 35; Kralik, in PdK Bund, Die Aufgaben der unteren und örtlichen Straßenverkehrsbehörden, 2. Auflage 2018, S. 60 m.w.N.). Ein bloßer Gefahrenverdacht, d.h. eine Sachlage, in der möglichweise eine Gefahr vorliegt, deren Feststellung (oder Ausschluss) aber weiterer Untersuchungen bedarf (OVG Lüneburg, B.v. 9.7.2017 - 12 ME 249/16 - juris Rn. 96), reicht nicht aus. Die Beschwerden von Anwohnern rechtfertigen vorliegend aber allenfalls einen Gefahrenverdacht.
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Infolgedessen erweisen sich die angeordneten Geschwindigkeitsbeschränkungen als ermessensfehlerhaft (§ 114 Satz 1 VwGO), da der Antragsgegner seiner Entscheidung keine belastbaren Tatsachen einer Gefahrenlage zugrunde gelegt hat und überdies auch nicht für das Auswahlermessen dargelegt ist bzw. ersichtlich wäre, weshalb sich der Antragsgegner die versprochenen Erkenntnisse gerade durch Tempo 120 km/h (und nicht etwa durch die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h) verspricht.
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Zuletzt dürften die angeordneten Geschwindigkeitsbeschränkungen auch gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Die Erprobung geplanter verkehrssichernder oder verkehrsregelnder Maßnahmen nach § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 StVO unterliegt zwar geringeren Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit als die endgültige Anordnung der erprobten Maßnahme (BayVGH, B.v. 28.6.2018 - 11 CS 18.964 - juris Rn. 12). Gleichwohl setzt dieser doch voraus, dass der Verkehrsversuch geeignet und erforderlich ist, um das angestrebte Ermittlungsziel zu erreichen (BayVGH, B.v. 28.6.2018 - 11 CS 18.964 - juris Rn. 12; OVG NW, B.v. 19.12.1995 - 25 B 2750/95 - juris Rn. 13; Kralik, in PdK Bund, Die Aufgaben der unteren und örtlichen Straßenverkehrsbehörden, 2. Auflage 2018, S. 61).
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Um die Anforderungen an die Erforderlichkeit zu wahren darf aber kein mindestens gleich geeignetes aber weniger eingriffsintensives Mittel bestehen. Angesichts einer geschwindigkeitsbeschränkenden Länge von jeweils etwa 35 km erscheint es dem Gericht als überaus zweifelhaft, dass es einer Teststrecke dieses Ausmaßes bedarf, um die gewünschten Feststellungen zu treffen. Dies gilt besonders mit Augenmerk darauf, dass die I.-lautobahn wesentlich durch eine ländliche Umgebung geprägt ist, teilweise fernab einzelner Gehöfte liegt und die in der verkehrsrechtlichen Anordnung bezeichnete Tallage keinesfalls für den gesamten betroffenen Straßenabschnitt besteht (z.B. nicht westlich von L. und östlich von Schwindegg). Dies legt jedenfalls ein Blick in den allgemein im Internet zugänglichen Bayernatlas sowie weiterer Geo- und Kartenportale nahe.
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Ungeachtet dessen und der rechtlichen Einordnung in die Kategorien der Geeignetheit oder Erforderlichkeit erschließt sich weiter nicht, weshalb der Antragsgegner sein Erprobungsziel nicht auch ohne Geschwindigkeitsbeschränkungen zu erreichen vermag. Will doch der Antragsgegner nach eigenem Bekunden feststellen, ob die - von ihm angenommene - unzumutbare Lärmbelastung von Spitzengeschwindigkeiten einzelner Fahrzeuge ausgeht, so erschließt sich nicht, weshalb die erhoffte Erkenntnis nicht zunächst und vorrangig bei beibehaltener unbeschränkter Geschwindigkeit gewonnen werden kann.
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b. Das Vollzugsinteresse des Antragsgegners überwiegt auch nicht ausnahmsweise aufgrund der für das Straßenverkehrsrecht besonders zu berücksichtigenden öffentlichen Belange. Neben den Erfolgsaussichten der Klage berücksichtigt das Gericht bei seiner Ermessensentscheidung und Bewertung des öffentlichen Interesses an der vorläufigen Aufrechterhaltung der vollzogenen Geschwindigkeitsbeschränkungen auch, dass sich die Verkehrsteilnehmer inzwischen auf diese Regelung eingerichtet haben. Das Gericht verkennt nicht, dass es in der Regel mit den Belangen der Verkehrssicherheit nicht zu vereinbaren sein dürfte, dass innerhalb eines kürzeren Zeitraums durch Aufstellen, Entfernen und einer möglicherweise erneuten Beschilderung wiederholt neue Verkehrsregelungen getroffen werden, welche dem Verkehrsteilnehmer jeweils wechselnde Verpflichtungen auferlegen (vgl. VGH Mannheim, B.v. 26.10.1994 - 5 S 2344/94 - juris Rn. 5; VG Freiburg, B.v. 29.11.2012 - 4 K 2158/12 - juris Rn. 10). Dennoch tritt das öffentliche Vollzugsinteresse vorliegend zurück, auch wenn dem Antragsteller für den verbleibenden Geltungszeitraum die Einhaltung der Geschwindigkeitsbeschränkungen nicht unzumutbar erscheint. Da nämlich die angefochtenen Geschwindigkeitsbeschränkungen ohnehin nur noch für einen überschaubaren Zeitraum von einigen Monaten gelten, kommt dem Interesse an einer andauernden Kontinuität verkehrsrechtlicher Anordnungen geringeres Gewicht zu, sodass auch die mit der vorliegenden Entscheidung faktisch verbundene Vorwegnahme der Hauptsache zu rechtfertigen ist. Hinzu kommt, dass das Recht eines Verkehrsteilnehmers auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz) eine entsprechende sachliche Entscheidung bereits im Eilverfahren erfordert, da er ansonsten Gefahr liefe, aufgrund des bevorstehenden Ablaufs des Geltungszeitraums keinen sachlich-inhaltlichen Rechtsschutz mehr zu erlangen, zumal sich ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse voraussichtlich weder mit einem schwerwiegenden Grundrechtseingriff, einem Amtshaftungsanspruch, einem Rehabilitationsinteresse noch mit einer Wiederholungsgefahr begründen ließe. Gerade ein sich aus einer Wiederholungsgefahr begründendes Fortsetzungsfeststellungsinteresse ist nicht erkennbar, da ein Verkehrsversuch ersichtlich nur der (vorübergehenden) Erprobung verkehrsregelnder Maßnahmen dient, sodass regelmäßig keine erneute Versuchsanordnung zu erwarten ist.
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Aufgrund der von Antragsgegnerseite bewusst einheitlich vorgenommenen Regelung sieht sich das Gericht gehindert, die aufschiebende Wirkung nur streckenweise anzuordnen.
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II. Der Antragsgegner ist auch einstweilen zu verpflichten, die aufgrund der verkehrsrechtlichen Anordnungen vom 30. Januar 2020 und 31. Juli 2020 örtlich bestehenden Zeichen 274-120 umgehend und vollständig zu beseitigen oder anderweitig unkenntlich zu machen.
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Auch wenn an sich keine Besorgnis besteht, dass der Antragsgegner seiner eigentlich bereits aus der Anordnung der aufschiebenden Wirkung folgenden Verpflichtung zur Unkenntlichmachung der angeordneten und aufgestellten Verkehrszeichen nicht Folge leisten wird, war im Tenor zu II. aus Gründen der Rechtssicherheit auch die Aussetzung der Vollziehung im Wege der Vollzugsfolgenbeseitigung anzuordnen. Dabei verkennt das erkennende Gericht nicht, dass damit faktisch ein Popularziel erreicht wird, was dem Straßenverkehrsrecht aber im Hinblick auf die Anfechtung von Verkehrszeichen ohnehin innewohnt. Nur so ist eine mit der durch die aufschiebende Wirkung geschaffenen Lage übereinstimmende Rechtslage (für alle Verkehrsteilnehmer) herbeizuführen. Somit war der Antragsgegner nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO zu verpflichten, die aufgrund der streitgegenständlichen Anordnungen örtlich aufgestellten Zeichen 274-120 zu entfernen oder auf andere Weise unkenntlich zu machen. Ohne eine entsprechende Anordnung hätte die gerichtlich angeordnete aufschiebende Wirkung nämlich zur Konsequenz, dass das Verkehrszeichen lediglich für den Antragsteller keine Regelungswirkung entfaltet (§ 121 VwGO analog), für die übrigen Verkehrsteilnehmer hingegen schon. Dieser Konflikt ist vorliegend nicht dadurch zu beseitigen, dass dem Antragsteller eine Ausnahmegenehmigung gem. § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO gewährt wird (vgl. hierzu VGH Hessen, B.v. 12.11.1992 - 2 TG 1527/92 - juris Rn. 3). Dies widerspräche nicht nur dem Grundsatz der Privilegienfeindlichkeit im Straßenverkehrsrecht, sondern würde überdies gerade eine nicht hinzunehmende Verkehrsunsicherheit bedingen, würden verkehrsrechtliche Anordnungen nur teilweise gelten.
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III. Dem Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 und 2 des Gerichtskostengesetzes und berücksichtigt die Empfehlungen des Bundesverwaltungsgerichts im Streitwertkatalog 2013 in den Nummern 1.5 sowie 46.15. Dabei legt das Gericht für die in beide Fahrtrichtungen bestehenden Geschwindigkeitsbeschränkungen aufgrund deren Länge jeweils einen Wert von 10.000 Euro zugrunde. Den sich damit in der Hauptsache ergebenden Streitwert in Höhe von 20.000 Euro übernimmt das Gericht auch im vorliegenden Eilverfahren, da mit der Entscheidung faktisch eine Vorwegnahme der Hauptsache verbunden ist (Nr. 1.5 Satz 2 Streitwertkatalog).