Inhalt

LSG München, Urteil v. 22.07.2020 – L 13 R 566/19
Titel:

Zur Zulässigkeit eines Überprüfungsantrags während des gerichtlichen Verfahrens

Normenketten:
SGB X § 44 Abs. 1 S. 1
SGG § 77
Leitsätze:
1. Zur abgestuften Prüfung bei § 44 SGB X.
2. Während eines anhängigen Gerichtsverfahrens kann ein Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X zum streitbefangenen Verwaltungsakt nicht zulässig gestellt werden.
3. Ist der Verwaltungsakt im gerichtlichen Verfahren inhaltlich überprüft worden, lebt das während des gerichtlichen Verfahrens fehlende Rechtsschutzbedürfnis auch nach Abschluss des Verfahrens nicht wieder auf.
4. Ein Überprüfungsantrag kann in diesem Fall erst nach rechtskräftigem Abschluss des Ausgangsverfahrens wieder zulässig gestellt werden.
1. Bei § 44 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. SGB X geht es nur um die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der bestandskräftig gewordenen Entscheidung ohne die Verpflichtung zur Berücksichtigung neuer Tatsachen und Beweismittel. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Hat der Versicherte den streitgegenständlichen Bescheid in der Vergangenheit bereits gerichtlich überprüfen lassen, beschränkt sich die Prüfungsdichte auf evidente bzw. ins Auge fallende Fehler (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
3. Für die Anwendung des § 44 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. SGB X kommt es auf die Benennung neuer Tatsachen und Beweismittel im Rahmen eines abgestuften Verfahrens an. Die Prüfung hat sich bei der zweiten Alternative an den rechtlichen Vorgaben zu orientieren, wie sie auch im Rahmen eines gerichtlichen Wiederaufnahmeverfahrens zu beachten sind. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
4. Werden bereits keine neuen Tatsachen oder Erkenntnisse vorgetragen oder neue Beweismittel benannt, die für die Unrichtigkeit der Entscheidung sprechen könnten oder ergibt die Prüfung, dass die vorgebrachten Gesichtspunkte nicht tatsächlich vorliegen oder für die frühere Entscheidung nicht erheblich waren, darf sich die Verwaltung ohne jede Sachprüfung auf die Bindungswirkung der bestandskräftigen Entscheidung berufen. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Überprüfungsantrag, Amtsermittlungspflicht, Bindungswirkung, Prüfungsdichte, Wiederaufnahmeverfahren, Bestandskraft, Evidenz
Vorinstanz:
SG München, Gerichtsbescheid vom 21.10.2019 – S 4 KN 92/16
Fundstelle:
BeckRS 2020, 22425

Tenor

I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 21. Oktober 2019 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1
Zwischen den Beteiligten ist im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens die Anerkennung weiterer Versicherungszeiten und hieraus die Leistung einer höheren Altersrente streitig.
2
Der 1950 in der Türkei geborene Kläger hat in Deutschland seit 1974 Versicherungszeiten zurückgelegt und die deutsche Staatsangehörigkeit erworben. Vom türkischen Versicherungsträger sind außerdem Beitragszeiten vom 01.02.1966 bis 14.07.1968, vom 04.11.1970 bis 06.08.1972 (Wehrdienst) und vom 01.12.1972 bis 19.10.1973 mitgeteilt worden.
3
Seit 01.12.2010 erhält der Kläger von der Beklagten Altersrente für schwerbehinderte Menschen. Gegen den Rentenbescheid vom 20.12.2010 legte der Kläger Widerspruch ein und machte die Berücksichtigung weiterer Zeiten der Arbeitssuche von 1987 bis 1989 geltend. Er gab an, in dieser Zeit selbstständig tätig und daneben beim Arbeitsamt G-Stadt als arbeitssuchend gemeldet gewesen zu sein. Zugleich habe er Sozialhilfe erhalten. Nach den Ermittlungen und Feststellungen der Beklagten konnten über das Arbeitsamt G-Stadt diese Zeiten nicht bestätigt werden. Mit Widerspruchsbescheid vom 25.07.2011 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Nach erfolglos durchgeführtem Klageverfahren (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 02.04.2012 - Az. S 4 KN 141/11) legte der Kläger Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht ein (Az. L 13 R 378/12). Im Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage am 25.05.2016 wurde das Verfahren von ihm vollumfänglich für erledigt erklärt, nachdem die Berichterstatterin umfangreiche Ausführungen zu Protokoll gegeben hatte. Der Kläger wurde nach der Sitzungsniederschrift darauf hingewiesen, dass die Zeiten der Arbeitslosigkeit im Zeitraum vom September 1987 bis September 1989 nicht nachgewiesen seien. Die Nachfrage beim Landkreis G-Stadt und der Agentur für Arbeit in G-Stadt habe ergeben, dass dort keine Unterlagen mehr vorlägen. Es sei aus anderen Verfahren bekannt sei, dass die Aufbewahrungsfristen insoweit überschritten seien und deshalb keine weiteren Nachfragen veranlasst seien. Die vom Kläger in der Türkei zurückgelegten Zeiten seien im Rahmens des § 262 SGB VI nicht berücksichtigungsfähig. Weder die Verordnung der EG-Nr. 1408/ 71, die die Berücksichtigung von Zeiten in den Mitgliedsstaaten der europäischen Gemeinschaft regle, noch das Assoziierungsabkommen, auf das er sich berufe, verhelfe ihm zu diesem Anliegen. Artikel 39 des Zusatzprotokolls vom 23.11.1970 enthalte ausdrücklich die Regelung, dass Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft nicht verpflichtet werden dürften, die in der Türkei zurückgelegten Zeiten zu berücksichtigen. Das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei vom 30.04.1964 idF der Änderungs- und Zusatzabkommen sehe ebenfalls nicht vor, dass die türkischen Zeiten für § 262 SGB VI berücksichtigungsfähig seien. Im Übrigen seien Fehler bei der Rentenberechnung nicht erkennbar (Niederschrift vom 25.05.2016 - Az. L 13 R 378/12 -).
4
Bereits am 19.02.2012 stellte der Kläger den streitigen Antrag auf Überprüfung des Rentenbescheides vom 20.12.2010 hinsichtlich der Rentenhöhe bei der Beklagten, die den Antrag mit Bescheid vom 10.03.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.05.2014 ohne inhaltliche Prüfung ablehnte. Zur Begründung wurde darauf verwiesen, dass keine neuen die Sach- und/oder Rechtslage betreffenden wesentlichen Gesichtspunkte vorgetragen seien und sich auch ansonsten keine Anhaltspunkte für eine Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 20.12.2010 ergeben würden. Im Widerspruchsbescheid wurden die formalen Voraussetzungen für die Einleitung eines Überprüfungsverfahrens erläutert, die vorliegend nicht gegeben seien.
5
Anschließend hat der Kläger Klage zum Sozialgericht München erhoben (Az. ursprünglich S 4 KN 74/14). Diese Klage hat der Kläger mit einem systematischen Rentenbetrug an türkischstämmigen Bürgern aus rassistischen und gesellschaftspolitischen Gründen begründet. Er hat schwere Vorwürfe gegen den deutschen Staat erhoben und diesen als „Nazistaat“ bezeichnet. Durch künstlich herbeigeführte Mittellosigkeit und Verweigerung von medizinischen Behandlungen habe sich der deutsche Staat der Ermordung von 30.000 Türken schuldig gemacht. Weiterhin würden Türken im Vergleich zu Spätaussiedlern benachteiligt, da diese keine Nachweise beibringen müssten für die in ihren Herkunftsländern zurückgelegten Zeiten und höhere Renten erhalten würden als Türken. Das Verfahren ist zunächst ausgesetzt und unter dem Aktenzeichen S 4 KN 92/16 fortgesetzt worden. Der Antrag des Klägers auf Prozesskostenhilfe ist mit Beschluss vom 29.10.2018 abgelehnt worden, die dagegen eingelegte Beschwerde war erfolglos (Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28.01.2019 - L 13 R 746/18 B PKH -).
6
Mit Gerichtsbescheid vom 21.10.2019 hat das Sozialgericht die Klage nach Anhörung der Beteiligten abgewiesen. Der Antrag auf Überprüfung des Rentenbescheides vom 20.12.2010 und der Folgebescheide sei rechtmäßig abgelehnt worden. Dabei dürfe sich die Verwaltung ohne weitere Sachprüfung auf die Bindungswirkung eines bestandskräftigen Bescheides berufen, wenn sich eine Rechtswidrigkeit weder aus dem Vorbringen noch wegen offenkundiger Mängel aufdränge. Der Kläger habe keine neuen Tatsachen und Beweismittel benannt bzw. Gründe vorgetragen, die geeignet wären, Fehler bei der Rentenberechnung zu belegen. Sein Vorbringen beschränke sich vielmehr auf unhaltbare Vorwürfe gegenüber dem deutschen Staat und seinen Gerichten.
7
Am 21.11.2019 hat der Kläger Berufung gegen den Gerichtsbescheid eingelegt. Er hat der Behauptung widersprochen, dass keine Unterlagen des Arbeitsamtes und des Landratsamtes G-Stadt mehr vorgelegen hätten. Zuständige Träger seien das Niedersächsische Ministerium und die Stiftung W. gewesen. Dort seien lückenlos von August 1987 bis September 1989 Arbeitslosigkeitszeiten eingetragen. Dazwischen habe er sechs Monate bei der Firma L. in L-Stadt im Metallbau gearbeitet. Es stelle sich die Frage, ob auch das Ausländerzentralregister in Berlin alle Daten vernichtet habe. Die Beschaffung dieser sich in staatlicher Obhut befindenden Beweismittel könne nicht ihm abverlangt werden. Würde ihm die Beklagte bestätigen, dass er 35 Jahre Versicherungszeiten und damit die Anwartschaft zurückgelegt habe, würde er den Rechtsstreit sofort beenden.
8
Der Antrag auf Prozesskostenhilfe ist wegen fehlender Erfolgsaussichten abgelehnt worden.
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Der Kläger beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 21. Oktober 2019 sowie den Bescheid der Beklagten vom 10. März 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Mai 2014 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Abänderung des Rentenbescheides vom 20. Dezember 2010 in der Fassung nachfolgend ergangener Rentenbescheide und unter Berücksichtigung weiterer Zeiten der Arbeitslosigkeit eine höhere Altersrente zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Leistungsakten der Beklagten sowie der Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

12
Die Berufung ist gemäß §§ 143,151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, insbesondere statthaft und form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist aber unbegründet.
13
Der Kläger begehrt mit seiner Klage die Berücksichtigung weiterer Zeiten der Arbeitslosigkeit, wobei es ihm neben der Anerkennung weiterer Anrechnungszeiten auch um die Erhöhung der Entgeltpunkte für Beitragszeiten im Rahmen der Mindestbewertung nach § 262 SGB VI geht. Er hat aber schon deshalb keinen Anspruch auf eine Neuberechnung seiner Rente unter Berücksichtigung weiterer Anrechnungszeiten wegen Arbeitslosigkeit, weil der Überprüfungsantrag bereits nicht zulässig gestellt worden ist. Auch unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten ist keine Neuberechnung vorzunehmen.
14
1. Der Zulässigkeit des streitigen Überprüfungsantrags vom 19.02.2012 steht entgegen, dass zu diesem Zeitpunkt hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des Rentenbescheids vom 20.12.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.07.2011 und mit dem Ziel der Anerkennung weiterer Versicherungszeiten eine Klage beim Sozialgericht München anhängig war. Auch die Frage, ob und inwiefern türkische Versicherungszeiten bei der Rentenberechnung berücksichtigt werden können und ob eine Erhöhung der Entgeltpunkte nach Erfüllung einer Wartezeit von 35 Jahren möglich ist, war bereits Gegenstand dieser Klage.
15
Die Regelung des § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ermöglicht unter bestimmten Voraussetzungen eine ausnahmsweise Abweichung von der Bindungswirkung (Bestandskraft) unanfechtbarer und damit für die Beteiligten bindend gewordener sozialrechtlicher Verwaltungsakte, um damit materielle Rechtmäßigkeit herzustellen. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X eröffnet dazu zwei Alternativen. Entweder muss bei der Entscheidung das Recht unrichtig angewandt worden sein (erste Alternative) oder die Behörde muss beim Erlass des Verwaltungsakts von einem Sachverhalt ausgegangen sein, der sich nachträglich aufgrund des Bekanntwerdens neuer Tatsachen als unrichtig erwiesen hat (zweite Alternative). Zwar ist die Zulässigkeit eines Überprüfungsantrags nach § 44 nach dem Wortlaut nicht auf bestandskräftige Verwaltungsakte beschränkt („auch nachdem er unanfechtbar geworden ist“; vgl. auch BSG, Urteil vom 30.10.2013 - B 7 AY 7/12 R). Allerdings wird die grundsätzliche Möglichkeit eines Nebeneinanders des Verfahrens nach § 44 SGB X und des Widerspruchsverfahrens bzw. Klageverfahrens für den vorliegenden Fall des Antrags auf Überprüfung durch den Betroffenen von der h.M. zu Recht verneint (vgl. v.a. Steinwedel in KassKomm, SGB X, § 44 SGB X Rn. 6). Hier wird das Verfahren nach § 44 SGB X „nicht benötigt“ (BSG, Urteil vom 27.07.2004 - B 7 AL 76/03 R - juris Rn. 17 - SozR 4-4300 § 330 Nr. 2). Nach anderer Begründung fehlt es jedenfalls an einem Rechtsschutzbedürfnis für die Durchführung eines Überprüfungsverfahrens (Merten in Hauck/Noftz, SGB X, § 44 SGB X Rn. 51). Dies gilt jedenfalls dann, wenn hinsichtlich der Überprüfung des streitigen Bescheids wie vorliegend bereits ein Klageverfahren anhängig war und eine Überprüfung des Bescheids durch die Beklagte in der Sache erfolgt ist. Auch im Urteil des BSG vom 30.10.2013 (a.a.O.) ist ein fehlendes Rechtschutzbedürfnis angenommen worden, soweit und solange das Ziel der Klage mit der einfacheren Anfechtungs- und Leistungsklage zu erreichen ist (Rn. 19 nach juris). Vorliegend war im Zeitpunkt der Einleitung des Klageverfahrens nach Erlass des die Überprüfung ablehnenden Bescheids vom 10.03.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.05.2014 noch die Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht (Az. L 13 R 378/12) anhängig. Ein Rechtsschutzbedürfnis ist auch nachträglich nicht neu entstanden. Denn auch im gerichtlichen Verfahren ist der Rentenbescheid vom 20.10.2010 einer inhaltlichen Entscheidung unterzogen worden. Eine der Entscheidung des BSG vom 30.10.2013 vergleichbare Situation, wo es ein Nebeneinander von bestandskräftigen und nicht bestandskräftigen Grundverwaltungsakten und Zahlungsverfügungen gab, weswegen die Durchführung eines einheitlichen Überprüfungsverfahrens als prozessökonomisch angesehen worden ist, ist vorliegend nicht gegeben. Ein Antrag auf Überprüfung des Rentenbescheids vom 20.10.2010 hätte damit vom Kläger erst nach Abschluss der Berufungsverfahrens Az. L 13 R 378/12 wieder zulässig gestellt werden können (vgl. auch Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 13.11.2013 - L 16 AS 270/13 -, juris zur Zulässigkeit eines während eines anhängigen Überprüfungsverfahrens gestellten weiteren Überprüfungsantrags).
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2. Allerdings hat das Sozialgericht zu Recht darauf hingewiesen, dass auch die Voraussetzungen nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht vorliegen (zur gerichtlichen Prüfungskompetenz im Rahmen des § 44 SGB X vgl. Voelzke/Hahn, SGb 2012, 686 ff.):
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2.1. Ausgangspunkt ist die gesetzliche Regelung des § 77 SGG, wonach ein Verwaltungsakt für die Beteiligten in der Sache bindend wird, wenn ein Rechtsbehelf nicht oder erfolglos eingelegt wird. Diese Bestandskraft (Unanfechtbarkeit) ist ein wesentliches Prinzip der Rechtsordnung. Mit der Bestandskraft wird Rechtssicherheit geschaffen, weil die Beteiligten wissen, woran sie sind, nämlich dass die Regelung des Verwaltungsakts sie bindet, und Rechtsfrieden garantiert, weil weiterer Streit über den Verwaltungsakt ausgeschlossen ist. Für den Adressaten des Verwaltungsakts ist damit keine unangemessene Benachteiligung verbunden, hat er doch die Möglichkeit, sich mit den zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfen gegen einen Bescheid zu wehren und dessen Rechtmäßigkeit überprüfen zu lassen. Nicht Sinn und Zweck des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist es, Fristenregelungen im Zusammenhang mit der Frage der Bestandskraft von Entscheidungen der Verwaltung oder auch der Gerichte auszuhebeln und die mit der Bestandskraft bezweckte Rechtssicherheit und den Rechtsfrieden in das Belieben der Beteiligten zu stellen. § 44 SGB X kann kein Mittel sein, um die Behörde durch wiederholte Anträge immer wieder zu Sachentscheidungen (deren Ergebnis wegen der bereits getroffenen Entscheidung absehbar ist) zu zwingen, die dann wiederum gerichtlich in der Sache überprüfbar wären. Würde man dies zulassen, hätte eine Behörde keinerlei Möglichkeit, sich vor wiederholenden Anträgen mit dem sich daraus ergebenden möglicherweise massiven Verwaltungsaufwand, der nicht nur Personal bindet, sondern auch Kosten verursacht, zu schützen.
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a. Bei der ersten Alternative des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X geht es nur um die rechtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der bestandskräftig gewordenen Entscheidung, bei der es auf den Vortrag neuer Tatsachen und Beweismittel nicht ankommt und die von Amts wegen zu erfolgen hat (vgl. BSG, Urteil vom 05.09.2006 - Az. B 2 U 24/05 R -). Das bedeutet jedoch nicht, dass in jedem Fall eine vollständige Überprüfung des Sachverhalts erfolgen müsste. Es ist vielmehr aus rein rechtlicher Sicht zu würdigen, ob der der bestandskräftig gewordenen Entscheidung zu Grunde liegende Sachverhalt rechtlich zutreffend beurteilt und rechtlich in nicht zu beanstandender Weise bewertet worden ist.
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Weitergehende Sachermittlungen sind im Rahmen der ersten Alternative nicht geboten. Dies ergibt sich eindeutig aus der Systematik der gesetzlichen Regelung in § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Denn mit der Differenzierung zwischen den aufgezeigten zwei Alternativen (unrichtige Rechtsanwendung einerseits und ursprünglich unrichtig zu Grunde gelegter Sachverhalt andererseits) hat der Gesetzgeber deutlich gemacht, dass nicht in jedem Fall eine völlige Überprüfung unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten zu erfolgen hat. Dem liegt die Überlegung zu Grunde, dass die Verwaltung nicht durch aussichtslose Überprüfungsanträge, die beliebig oft wiederholt werden können, immer wieder zu einer neuen Sachprüfung gezwungen werden soll (vgl. BSG, Urteil vom 06.03.1991 - Az.: 9b RAr 7/90 -). Würde bereits im Rahmen der ersten Alternative eine umfassende Sachprüfung, d.h. eine umfassende Neuermittlung des zugrunde liegenden Sachverhalts verlangt, wären die gesetzlichen Anforderungen für die zweite Alternative, nämlich die Benennung neuer Tatsachen und Beweismittel entbehrlich. Im Rahmen der ersten Alternative sind daher die tatsächlichen Feststellungen, wie sie dem bestandskräftigen Bescheid zu Grunde gelegen haben, auch im Überprüfungsverfahren zu beachten und lediglich zu prüfen, ob auf diesen Tatsachen aufbauend, unabhängig von ihrer Richtigkeit, die rechtlichen Schlussfolgerungen zutreffend sind. Insofern erfolgt eine rein rechtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit, zu der von Seiten des Klägers zwar Gesichtspunkte beigesteuert werden können, die aber letztlich umfassend von Amts wegen erfolgen muss.
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Hat der Versicherte, wie vorliegend der Kläger, den streitgegenständlichen Bescheid in der Vergangenheit bereits gerichtlich überprüfen lassen, beschränkt sich die Prüfungsdichte auf evidente bzw. ins Auge fallende Fehler. Es ist nicht Aufgabe der Verwaltung und der Gerichte, bei Überprüfungsanträgen ungefragt in eine Fehlersuche einzutreten und mit einer rechtlichen Prüfung von vorne zu beginnen, wenn sich eine Rechtswidrigkeit des zu überprüfenden Bescheides weder aus dem Vorbringen noch wegen offenkundiger Mängel aufdrängt (zur ungefragten Fehlersuche vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 31.05.2002 - 7 B 11/02 -; BVerwG, Urteil vom 08.03.2017 - 4 CN 1/16 -). In diesen Fällen besteht eine gesteigerte Überprüfungsfestigkeit des Verwaltungsaktes. Die in diesen Fällen erzeugte, gleichsam „mehrschichtige Rechtssicherheit“ schließt zwar eine erneute Überprüfung nicht schlechthin aus, sie führt jedoch zu einer gesteigerten Substanziierungslast des Betroffenen (Breitkreuz/Merten, SGb 2014, 113 ff.). Ist danach der bestandskräftige Verwaltungsakt nicht offensichtlich unrichtig, darf sich die Verwaltung ohne jede weitere Sachprüfung auf die Bindungswirkung (§ 77 SGG) berufen.
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b. Für die zweite Alternative des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X kommt es auf die Benennung neuer Tatsachen und Beweismittel im Rahmen eines abgestuften Verfahrens an (vgl. BSG, Urteil vom 03.02.1988 - Az.: 9/9a RV 18/86 -, das auch im Urteil des BSG vom 05.09.2006 - B 2 U 24/05 R - nicht infrage gestellt worden ist). Die Prüfung hat sich bei der zweiten Alternative an den rechtlichen Vorgaben zu orientieren, wie sie auch im Rahmen eines gerichtlichen Wiederaufnahmeverfahrens zu beachten sind. Werden bereits keine neuen Tatsachen oder Erkenntnisse vorgetragen oder neue Beweismittel benannt, die für die Unrichtigkeit der Entscheidung sprechen könnten, darf sich die Verwaltung ohne jede Sachprüfung auf die Bindungswirkung der bestandskräftigen Entscheidung berufen. Werden zwar neue Tatsachen oder Erkenntnisse vorgetragen und neue Beweismittel benannt, ergibt aber die Prüfung, dass die vorgebrachten Gesichtspunkte nicht tatsächlich vorliegen oder für die frühere Entscheidung nicht erheblich waren, darf sich die Behörde ebenfalls auf die Bindungswirkung stützen.
22
Eine Behörde ist daher nur dann dazu verpflichtet, ohne Rücksicht auf die Bindungswirkung erneut zu entscheiden, wenn die Prüfung zu dem Ergebnis führt, dass ursprünglich nicht bekannte Tatsachen oder Erkenntnisse vorliegen, die für die Entscheidung wesentlich sind (vgl. BSG, Urteil vom 03.02.1988 - 9/9a RV 18/86 -).
23
2.2. Danach hat es die Beklagte ungeachtet der Frage, ob der Überprüfungsantrag überhaupt zulässig gestellt worden ist, zu Recht abgelehnt, den Rentenbescheid einer erneuten Überprüfung zu unterziehen. Vorliegend ergeben sich auch zur Überzeugung des Senats keine Anhaltspunkte für eine offensichtliche Rechtswidrigkeit des Rentenbescheids vom 20.12.2010 und der entsprechenden Folgebescheide, durch die der Kläger beschwert sein könnte. Insbesondere liegt kein ins Auge fallender Fehler vor. Die von der Beklagten frühzeitig durchgeführten Ermittlungen haben keine weiteren Zeiten der Arbeitslosigkeit ergeben. Dass eine andere Stelle (heute) noch über entsprechende Nachweise verfügen sollte, erscheint daher mehr als unwahrscheinlich, wobei nicht ersichtlich ist, welche andere Stelle dies sein könnte. Ein zentrales Ausländerregister, in dem alle denkbaren Daten gespeichert sind, wie vom Kläger vermutet, gibt es jedenfalls nicht. Ministerien und Stiftungen sind keine für die regelmäßige Meldung als Arbeitssuchender zuständigen Stellen. Ob die streitigen Zeiten der Arbeitslosigkeit mangels Anschlusses an Pflichtbeitragszeiten überhaupt als Anrechnungszeiten berücksichtigt werden könnten, ist danach unerheblich. Im Versicherungsverlauf sind jedenfalls Zeiten der Arbeitslosigkeit mit Leistungsbezug, die geeignet wären, den Anschluss an die letzte Pflichtbeitragszeit zu wahren, nur bis Dezember 1985 gespeichert. Die Voraussetzungen für eine Erhöhung der Entgeltpunkte für Beitragszeiten auf eine Mindestbewertung nach § 262 SGB VI die (35 Jahre mit rentenrechtlichen Zeiten) sind auch deshalb nicht erfüllt, weil die vom Kläger in der Türkei zurückgelegten Zeiten auch im Rahmen des § 262 SGB VI weder nach europäischem Recht noch nach dem Assoziierungsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei vom 30. April 1964 idF der Änderungs- und Zusatzabkommen Berücksichtigung finden können (vgl. dazu auch die Ausführungen in der Sitzungsniederschrift vom 25.05.2016).
24
Da der Rentenbescheid vom 20.12.2010 nicht ersichtlich unrichtig ist, durfte sich die Verwaltung bei der Prüfung der ersten Alternative von § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X auf dessen Bindungswirkung (§ 77 SGG) berufen und auf die Ausführungen im Klageverfahren Az. S 4 KN 141/11 und im anschließenden Berufungsverfahren Az. L 13 R 378/12 verweisen (KassKomm/Steinwedel, 95. EL Juli 2017, SGB X § 44 Rn. 43 mwH). Da der Kläger im Verwaltungsverfahren auch keine neuen Tatsachen oder Beweismittel benannt oder vorgelegt hat, aus denen sich eine für ihn günstigere Entscheidung ergeben könnte, durfte sich die Beklagte auch bei der Prüfung der 2. Alternative des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X auf die Bindungswirkung des bestandskräftigen Rentenbescheids vom 20.12.2010 und des anschließenden sozialgerichtlichen Verfahrens berufen und hat es zu Recht abgelehnt, in der Sache erneut zu entscheiden.
25
Hat eine Behörde in zutreffender Anwendung des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X eine erneute Sachprüfung und Sachentscheidung abgelehnt, kann sich das Gericht über diese Entscheidung nicht hinwegsetzen und den gesamten Sachverhalt einer wiederholten Sachprüfung unterziehen. Die gerichtliche Überprüfungskompetenz ist in diesem Fall eingeschränkt (Bayerisches Landessozialgericht Urteil vom 18.02.2014 - L 15 VK 3/12 -; Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 11.04.2004 - L 8 U 115/02 -). Denn § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X gibt nur der Verwaltung selbst, nicht aber dem Gericht die Möglichkeit, sich über eine frühere negative Entscheidung zu Gunsten des Versicherten hinwegzusetzen. Daher kann es auch zu keiner anderen Beurteilung führen, wenn der Kläger, dessen Vorbringen sich bisher im Wesentlichen auf allgemeine Unzufriedenheitsäußerungen und Verunglimpfungen beschränkt hat, erstmals im Berufungsverfahren konkrete Ermittlungen angeregt hat. Die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids wird dadurch nicht berührt.
26
Die Kostenentscheidung (§ 193 SGG) beruht auf dem Ausgang des Verfahrens.
27
Gründe, die Revision zuzulassen (vgl. § 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.