Inhalt

VGH München, Beschluss v. 01.09.2020 – 20 CS 20.1962
Titel:

Verbot des Konsums alkoholischer Getränke im öffentlichen Raum zwischen 23.00 und 6.00 Uhr

Normenketten:
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1, § 146, § 152 Abs. 1
IfSG § 28 Abs. 1 S. 1 Hs. 1
BayVwVfG Art. 35 S. 2
LStVG Art. 30
Leitsätze:
1. Die niedrige Eingriffsschwelle des § 28 Abs. 1 IfSG ist nicht auf Tatbestandsebene, sondern im Einzelfall ggf. auf der Ermessensebene zu kompensieren, indem an die Voraussetzungen der Erforderlichkeit und Angemessenheit der Maßnahme je nach deren Eingriffstiefe erhöhte Anforderungen zu stellen sind. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Verbot des Konsums alkoholischer Getränke im gesamten Stadtgebiet genügt hinsichtlich seiner Geltung auch an Orten, an denen es bisher nicht zu infektiologisch bedenklichen Menschenansammlungen gekommen ist, nicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. (Rn. 28 – 33) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Ausübung des Auswahlermessens, aufgrund der „besorgniserregenden Infektionslage“ schnell zu handeln und erst im weiteren Verlauf zu prüfen, ob bestimmte Gebiete von dem Verbot ausgenommen werden können, erweist sich als rechtsfehlerhaft. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Infektionsschutzrecht, SARS CoV-2-Pandemie, Allgemeinverfügung zum Verbot des Konsums alkoholischer Getränke im öffentlichen Raum zwischen 23.00 und 6.00 Uhr, Verhältnismäßigkeit, Erforderlichkeit für das gesamte Stadtgebiet (verneint), Angemessenheit, Aufenthaltsverbot, Alkoholkonsumverbot, Erforderlichkeit, Allgemeinverfügung, Stadtgebiet, „Hotspots“
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 28.08.2020 – M 26b E 20.3956
Fundstellen:
BeckRS 2020, 21233
COVuR 2020, 597
LSK 2020, 21233

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert wird unter Abänderung der Nr. III des Beschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 28. August 2020 für beide Rechtszüge auf jeweils 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Antragsgegnerin gegen einen Beschluss des Verwaltungsgerichts, mit dem dieses die aufschiebende Wirkung einer noch zu erhebenden Klage des Antragstellers gegen eine infektionsschutzrechtliche Allgemeinverfügung betreffend ein Verbot des Konsums alkoholischer Getränke angeordnet hat.
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Die auf § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG gestützte Allgemeinverfügung der Antragsgegnerin vom 27. August 2020 hat auszugsweise folgenden Wortlaut:
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„1. Ab dem Tag, an dem die Landeshauptstadt München erstmals den 7-Tages-Inzidenzwert für Neuinfektionen mit SARS-CoV-2 von oder über 35 pro 100.000 Einwohner in der Landeshauptstadt München veröffentlicht (abrufbar unter https://www.muenchen.de/rathaus/Stadtinfos/Coronavirus-Fallzahlen.html), gelten für die Dauer von 7 Tagen (wobei der Tag der Veröffentlichung als 1. Tag gilt) folgende Regelungen für das gesamte Stadtgebiet der Landeshauptstadt München:
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b) Der Konsum von alkoholischen Getränken ist im öffentlichen Raum täglich zwischen 23:00 Uhr bis 06:00 Uhr des Folgetages verboten.
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Ausgenommen hiervon ist der Konsum von alkoholischen Getränken im konzessionierten Bereich von Gaststätten während der jeweiligen Öffnungszeiten sowie im Rahmen von Veranstaltungen auf der Veranstaltungsfläche, soweit der Konsum von alkoholischen Getränken an Ort und Stelle gemäß § 12 Gaststättengesetz gestattet wurde oder gemäß § 3a der Bayerischen Gaststättenverordnung keiner Erlaubnis bedarf.
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2. Diese Allgemeinverfügung gilt gemäß Art. 41 Abs. 4 BayVwVfG am 27.08.2020 durch Veröffentlichung des Tenors im Rundfunk, im Internet und in der Presse als bekannt gegeben. Die Allgemeinverfügung und ihre Begründung können im Kreisverwaltungsreferat, Dienstgebäude Ruppert straße 19, Raum 42.51, 8..0337 München und im Referat für Gesundheit und Umwelt, Dienstgebäude Bayer straße 28A, 8..0335 München am Empfang nach vorheriger Terminvereinbarung eingesehen werden.
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3. Die sofortige Vollziehbarkeit dieser Allgemeinverfügung besteht kraft
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Gesetzes.
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4. Ordnungswidrig im Sinne des § 73 Abs. 1a Nr. 6 IfSG handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig
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b) entgegen der Nr. 1 Buchstabe b) dieser Allgemeinverfügung alkoholische Getränke im öffentlichen Raum konsumiert.
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Die Ordnungswidrigkeit kann nach § 73 Abs. 1a Nr. 6 IfSG und § 73 Abs. 2 IfSG mit einer Geldbuße bis zu fünfundzwanzigtausend Euro geahndet werden.“
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Das Verwaltungsgericht München hat mit Beschluss vom 28. August 2020 die aufschiebende Wirkung einer noch zu erhebenden Klage des Antragstellers gegen Ziffer 1b der Allgemeinverfügung vom 27. August 2020 angeordnet. Das Verbot des Konsums alkoholischer Getränke im öffentlichen Raum sei in räumlicher Hinsicht für das gesamte Stadtgebiet der Antragsgegnerin weder erforderlich noch angemessen. Als milderes, gleich effektives Mittel komme eine Beschränkung des ohnehin kurz befristeten Alkoholverbots auf einzelne Örtlichkeiten („Hotspots“) in Betracht. Ausweichverhalten, z.B. durch Absprachen unter gut vernetzten Jugendlichen, könne durch kurzfristige Erweiterung des Geltungsbereichs begegnet werden. Im Übrigen sei das Verbot des Konsums alkoholischer Getränke nicht angemessen, auch wenn es nicht tiefgreifend in die allgemeine Handlungsfreiheit der Adressaten eingreife. Seine Geltung für Alkohol jedweder Art im gesamten Stadtgebiet für alle Personen in jeder Situation erweise sich vor dem Hintergrund des Zwecks des Infektionsschutzgesetzes und der 6. Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung, Ansteckungscluster zu vermeiden, als ein nicht mehr angemessenes Mittel behördlicher Reaktion.
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Gegen diesen Beschluss hat die Antragsgegnerin am 28. August 2020 Beschwerde erhoben. Der gewählte räumliche Umgriff auf das gesamte Stadtgebiet sei erforderlich und angemessen. Die Beschränkung des Alkoholkonsumverbots auf einzelne stark frequentierte Örtlichkeiten sei nicht gleich gut geeignet, um die Infektionsgefahr durch SARS-CoV-2 zu verhindern. Durch die Festlegung einzelner Gebiete sei mit einem Verdrängungseffekt in alle nicht verbotenen Bereiche zu rechnen. Ihr Stadtgebiet biete eine Vielzahl an Flächen (etwa 1.300 Grünanlagen sowie Parks, Spielplätze, Seen usw.), die im Falle eines Konsumverbots für einen ausgewählten Bereich eine adäquate Ausweichfläche darstellten. Für eine ausführliche und zeitintensive Bewertung aller einzelnen Örtlichkeiten habe angesichts der steigenden Infektionszahlen nicht ausreichend Zeit bestanden. Die Beschränkung auf „Hotspots“ sei immer nur im Nachhinein möglich, sodass sich dort schon hunderte Personen angesteckt haben könnten. Die Dringlichkeit staatlichen Handelns ergebe sich auch daraus, dass sich zuletzt eine große Zahl junger Menschen mit SARS-CoV-2 infiziere. Durch deren hohen Grad an Mobilität und sozialer Einbindung sei zu befürchten, dass Infektionen aus dem privaten (Party-)Bereich ohne Umwege in die jeweiligen Familien getragen würden und auch die besonders vulnerable ältere Bevölkerungsgruppe gefährdet sei. Eine rechtssichere und verständliche Beschreibung von Verbotsbereichen sei schwer umsetzbar. Ein Großteil der Bevölkerung sowie Touristen verfügten nicht über ausreichende Ortskenntnis, um Straßen oder Plätze einem Verbotsbereich zuordnen zu können.
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Der räumliche Umfang des Alkoholverbots sei auch angemessen, weil die damit verbundenen Nachteile nicht außer Verhältnis zum angestrebten Zweck stünden. An Orten, die nicht als „Hotspots“ bekannt seien, seien nur wenige Bürger betroffen. Außerdem bleibe es jedem unbenommen, in konzessionierten Gaststätten oder Veranstaltungen nach 23 Uhr Alkohol zu konsumieren. Das Verbot gelte zudem nur für sieben Tage. Das Verwaltungsgericht habe auch zu Unrecht unberücksichtigt gelassen, dass an den 7-Tages-Inzidenzwert von 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner weitere Folgen geknüpft seien, insbesondere durch den Rahmenhygieneplan des Freistaats Bayern für den Betrieb an Schulen und Kindertageseinrichtungen. Insgesamt sei der Schutz der Bevölkerung vor weiteren Infektionsgefahren bei Weitem höher zu gewichten als die nur sehr geringfügig eingeschränkte Freiheit des Einzelnen.
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Der Antragsteller tritt der Beschwerde entgegen und verteidigt im Ergebnis den angegriffenen Beschluss. Das Alkoholkonsumverbot sei - unabhängig von der fehlenden räumlichen Begrenzung - für den Infektionsschutz bereits ungeeignet. Das infektionsschutzrechtliche Motiv sei nur vorgeschoben; tatsächlich gehe es der Antragstellerin um die Durchsetzung von Lärm- und Anwohnerschutz. Dass die angestiegenen Infektionszahlen mit dem nächtlichen Alkoholkonsum an öffentlichen Plätzen zusammenhingen, sei durch nichts belegt. Im Gegenteil belegten die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Robert-Koch-Instituts andere Hauptursachen für Ausbrüche, insbesondere Reiserückkehrer sowie Übertragungen in privaten Haushalten, an Arbeitsplätzen oder in Krankenhäusern. Das Freizeitgeschehen spiele demgegenüber eine sehr untergeordnete Rolle. Das Verbot verlagere den Alkoholkonsum in geschlossene, schlecht belüftete Privaträume. Es sei auch nicht vollziehbar, weil Alkohol in andere Flaschen umgefüllt werden könne und ein isoliertes Alkoholkonsumverbot ohne Aufenthaltsverbot nicht durchsetzbar sei. Insgesamt fehle es an einem tauglichen Gesamtkonzept.
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Die fehlende Erforderlichkeit des Verbots habe das Verwaltungsgericht überzeugend dargestellt. Es bestünden diverse gleich geeignete, mildere Mittel gegenüber einem stadtweiten Generalverbot (Maskenpflicht, Betretungsverbote, Verkaufs- und Konsumverbote für bestimmte Orte oder Personengruppen, Durchsetzung des § 2 Abs. 1 und 2 6. BayIfSMV). Die von der Antragsgegnerin angeführten Verdrängungseffekte seien nicht näher belegt. Im Übrigen könne sie die Allgemeinverfügung den örtlichen Erfordernissen tagesaktuell anpassen. Die „leichte Erkennbarkeit“ des Verbotsbereichs verlange keine stadtweite Geltung, wie viele andere Regelungen (etwa Parkverbotszonen oder die Verordnung über das Verbot des Verzehrs und des Mitführens alkoholischer Getränke auf öffentlichen Flächen im Bereich des Hauptbahnhofs) belegten. Auch die Rechtslage in Bamberg (vgl. BayVGH, B.v. 13.8.2020 - 20 CS 20.1821) zeige, dass ein räumlich begrenztes Verkaufsverbot ausreichend sei.
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Die Landesanwaltschaft Bayern als Vertreter des öffentlichen Interesses hat keinen eigenen Antrag gestellt, hält die Allgemeinverfügung der Antragsgegnerin aber für rechtmäßig. Deren Verbot, innerhalb des Stadtgebiets zu bestimmten Zeiten im öffentlichen Raum alkoholische Getränke zu konsumieren, sei im konkreten Fall als notwendige Schutzmaßnahme i.S.d. § 28 Abs. 1 IfSG einzuordnen. Das Verbot setze insoweit - als weitergehende örtliche Maßnahme i.S.d. § 23 6. BayIfSMV - das Veranstaltungsverbot des § 5 Abs. 1 6. BayIfSMV weiter um. Der Senat habe mit Beschluss vom 13. August 2020 (Az. 20 CS 20.1821 - juris Rn. 31 ff.) darauf abgestellt, dass die Möglichkeit des Konsums von Alkohol die Anziehungskraft des öffentlichen Raums gerade in Zeiten geschlossener Clubs, Bars und Diskotheken erhöhe. Zwar sei nicht das gesamte Münchner Stadtgebiet flächendeckend von Personenansammlungen betroffen gewesen, sondern vor allem bestimmte Plätze wie der G.platz oder die I. Bei einer Beschränkung des Alkoholverbots auf bestimmte „Hotspots“ sei aber mit einem Ausweichen und einer Verlagerung in andere Bereiche zu rechnen. Im Gegensatz zu Art. 30 LStVG ermögliche § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG auch flächendeckende Maßnahmen. Im Hinblick auf die seit Anfang Juli 2020 wieder steigenden Infektionszahlen, dem Ende der bayerischen Sommerferien mit dem 7. September 2020 (Gefahrerhöhung durch Reiserückkehrer) und die zeitliche Befristung des Verbots auf nur sieben Tage sei das Verbot, nach 23 Uhr im öffentlichen Raum Alkohol zu trinken, weniger schwerwiegend.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
II.
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Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg.
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1. Die nach § 146 VwGO statthafte Beschwerde ist entgegen der Auffassung des Antragstellers zulässig, auch wenn sie nicht beim Verwaltungsgericht (vgl. § 147 Abs. 1 VwGO), sondern beim Verwaltungsgerichtshof als Beschwerdegericht eingelegt wurde (vgl. Guckelberger in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 147 Rn. 2; Rudisile in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Januar 2020, § 147 Rn. 3).
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2. Die Beschwerde hat in der Sache aber keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die aufschiebende Wirkung der vom Antragsteller noch zu erhebenden Klage gegen Nr. 1b der Allgemeinverfügung vom 27. August 2020 zu Recht angeordnet.
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a) Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn die Klage - wie hier (vgl. § 28 Abs. 1 und 3 i.V.m. § 16 Abs. 8 IfSG) - keine aufschiebende Wirkung hat. Der Verwaltungsgerichtshof hat bei seiner Entscheidung eine originäre Interessenabwägung auf der Grundlage der sich im Zeitpunkt seiner Entscheidung darstellenden Sach- und Rechtslage darüber zu treffen, ob die Interessen, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung streiten, oder diejenigen, die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts sprechen, überwiegen. Dabei sind die Erfolgsaussichten der Klage im Hauptsacheverfahren wesentlich zu berücksichtigen, soweit sie bereits überschaubar sind. Nach allgemeiner Meinung besteht an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer voraussichtlich aussichtslosen Klage kein überwiegendes Interesse. Wird dagegen der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein, ist regelmäßig die aufschiebende Wirkung anzuordnen (BayVGH, B.v. 27.3.2019 - 8 CS 18.2398 - ZfB 2019, 202 = juris Rn. 25 m.w.N.).
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b) Das Beschwerdevorbringen, auf das sich die Prüfung des Senats beschränkt (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigt keine Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung. Das Verwaltungsgericht hat die aufschiebende Wirkung der zu erhebenden Klage gegen Nr. 1b der Allgemeinverfügung vom 27. August 2020 zu Recht angeordnet. Das von der Antragsgegnerin für das gesamte Stadtgebiet angeordnete Verbot des Konsums alkoholischer Getränke im öffentlichen Raum ist nach vorläufiger Prüfung der Rechtslage und summarischer Prüfung der Sachlage (vgl. BVerwG, B.v. 23.2.2018 - 1 VR 11.17 - Buchholz 402.45 VereinsG Nr. 74 - juris Rn. 15) rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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aa) Zwar findet die Allgemeinverfügung voraussichtlich in § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG eine geeignete Rechtsgrundlage. Die Norm verpflichtet die Behörde zum Handeln, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen vorliegen (sog. gebundene Entscheidung). Sie setzt tatbestandlich lediglich voraus, dass Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder es sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war. Diese Voraussetzungen liegen dem Grunde nach angesichts der anhaltenden SARS-CoV-2-Pandemielage unzweifelhaft vor. Weitere tatbestandliche Anforderungen an ein Tätigwerden stellt § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG nicht. Die niedrige Eingriffsschwelle der Norm ist auch nicht auf Tatbestandsebene, sondern im Einzelfall ggf. auf der Ermessensebene zu kompensieren, indem an die Voraussetzungen der Erforderlichkeit und Angemessenheit der Maßnahme je nach deren Eingriffstiefe erhöhte Anforderungen zu stellen sind (BayVGH, B.v. 13.8.2020 - 20 CS 20.1821 - juris Rn. 24 f.).
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bb) Hinsichtlich Art und Umfang der Bekämpfungsmaßnahmen - das „Wie“ des Eingreifens - ist der Behörde ein Auswahlermessen eingeräumt. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass sich die Bandbreite der Maßnahmen nicht im Vorfeld bestimmen lässt. Der Gesetzgeber hat die Vorschrift daher als Generalklausel ausgestaltet. Das behördliche Ermessen wird dadurch beschränkt, dass es sich um „notwendige Schutzmaßnahmen“ handeln muss. Zudem sind dem Ermessen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Grenzen gesetzt (vgl. BVerwG, U.v. 22.3.2012 - 3 C 16.11 - BVerwGE 142, 205 - juris Rn. 24; BayVGH, B.v. 13.8.2020 - 20 CS 20.1821 - juris Rn. 27).
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Ausgehend davon genügt das Verbot des Konsums alkoholischer Getränke hinsichtlich seiner Geltung an Orten, an denen es bisher nicht zu infektiologisch bedenklichen Menschenansammlungen gekommen ist, nicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
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(1) Zwar ist es auch an solchen Orten - gerade in Zeiten geschlossener Clubs, Bars und Diskotheken - geeignet, die Anziehungskraft des öffentlichen Raums für Personengruppen zum gemeinsamen Aufenthalt (§ 2 Abs. 1 6. BayIfSMV) oder zum Feiern (vgl. § 2 Abs. 2 BayIfSMV) - insbesondere im Innenstadtbereich - zu verringern. Hierfür genügt es, dass die Maßnahme zur Zweckerreichung beiträgt (vgl. BVerwG, U.v. 2.8.2012 - 7 CN 1.11 - NVwZ 2013, 227 - juris Rn. 29). Dass es sich bei dem Verbot des Konsums von Alkohol im öffentlichen Raum nur um eine ergänzende Maßnahme zu der prioritär gebotenen Überwachung und Durchsetzung der Einhaltung der Verbote der 6. BayIfSMV - insbesondere die Kontaktbeschränkung nach § 2 Abs. 1 6. BayIfSMV und das Verbot von Feiern auf öffentlichen Plätzen und Anlagen nach § 2 Abs. 2 6. BayIfSMV - handelt, ändert daran nichts (vgl. auch BayVGH, B.v. 13.8.2020 - 20 CS 20.1821 - juris Rn. 34). Die von der Antragsgegnerin angestrebte Verhütung von Menschenansammlungen trägt dazu bei, Ansteckungen mit SARS-CoV-2 zu verhindern. Ansammlungen bergen typischerweise ein erhebliches Risiko der Weiterverbreitung von Infektionskrankheiten. Der Gesetzgeber hat die Beschränkung von Ansammlungen in § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG deshalb beispielhaft als geeignete Schutzmaßnahme herausgehoben (vgl. BVerwG, U.v. 22.3.2012 - 3 C 16.11 - BVerwGE 142, 205 - juris Rn. 26 unter Verweis auf BT-Drs. 8/2468 S. 27 f. und BR-Drs. 566/99 S. 169 f.; vgl. auch BayVGH, B.v. 28.7.2020 - 20 NE 20.1609 - juris Rn. 48; BayVerfGH, E.v.15.5.2020 - Vf. 34-VII-20 - juris Rn. 12). Nach der Einschätzung des Robert-Koch-Instituts (RKI) besteht bei größeren Menschenansammlungen auch im Freien ein erhöhtes Übertragungsrisiko mit SARS-CoV-2, wenn der Mindestabstand von 1,5 m ohne Mund-Nasen-Bedeckung unterschritten wird (vgl. täglicher Lagebericht vom 31.8.2020, S. 11 unten, vgl. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuarti-ges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-08-31-de.pdf? blob=publicationFile). Hinzu kommt, dass Alkoholkonsum im Einzelfall aufgrund seiner enthemmenden Wirkung zu im Hinblick auf den Infektionsschutz problematischen Verhaltensweisen (Schreien, lautes Reden, geringere Distanz zwischen Einzelpersonen etc.) im Rahmen einer Ansammlung führen kann.
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(2) Das Verbot erweist sich, soweit es auch für bislang nicht durch infektiologisch bedenkliche Menschenansammlungen oder Verhaltensweisen auffällig gewordene Orte gilt, als nicht erforderlich. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend zu der Auffassung gelangt, dass eine Beschränkung des Verbots zum Konsum alkoholischer Getränke auf einzelne stark frequentierte Örtlichkeiten des öffentlichen Raums („Hotspots“) ein gleich geeignetes, den Adressatenkreis des Verbots weniger belastende Mittel darstellt (vgl. BVerfG, B.v. 8.3.2011 - 1 BvR 47/05 - NVwZ 2011, 743 - juris Rn. 21; BayVerfGH, E.v. 29.10.2018 - Vf. 21-VII-17 - BayVBl 2019, 374 - juris Rn. 47).
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(a) Das Beschwerdevorbringen, die Erstreckung auf das gesamte Stadtgebiet sei erforderlich, um eine Verlagerung des Geschehens an neue Örtlichkeiten zu vermeiden, überzeugt den Senat nicht. Die Antragsgegnerin hat bewusst in Kauf genommen, dass das Verbot auch an Orten gilt, die sich aufgrund ihrer Lage oder der dortigen Bevölkerungsstruktur als „Ausweichfläche“ wenig eignen (vgl. Begründung der Allgemeinverfügung, S. 8). Die Ausübung des Auswahlermessens, aufgrund der „besorgniserregenden Infektionslage“ schnell zu handeln und erst im weiteren Verlauf zu prüfen, ob bestimmte Gebiete von dem Verbot ausgenommen werden können, erweist sich als rechtsfehlerhaft. Die für diese Vorgehensweise angeführte Begründung der Allgemeinverfügung, die Beeinträchtigungen durch das Verbot seien in solchen Gebieten so gering, dass sie im Hinblick auf den Schutz der Allgemeinheit und der kurzen Geltungsdauer hingenommen werden könnten, betrifft die Frage der Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) und kann die fehlende Erforderlichkeit der Maßnahme nicht ersetzen. Soweit die Beschwerde geltend macht, für eine ausführliche und zeitintensive Bewertung, ob einzelnen Örtlichkeiten nicht als Ausweichfläche in Betracht kämen, habe nicht ausreichend Zeit bestanden, verkehrt sie das verfassungsrechtliche Gebot, dass jeder Eingriff in Grundrechte zu rechtfertigen ist, in sein Gegenteil.
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Der Antragsgegnerin steht es frei, einem etwaigem Ausweichverhalten durch Anpassung des räumlichen Geltungsbereichs der zeitlich ohnehin kurz befristeten Allgemeinverfügung Rechnung zu tragen. Das Gebot eines effektiven Infektionsschutzes wird dadurch nicht infrage gestellt. Der Vorhalt der Antragsgegnerin, eine solche Reaktion „im Nachhinein“ sei unzureichend, weil sich bis dahin bereits hunderte Menschen mit dem Virus angesteckt haben könnten, greift zu kurz. Er lässt außer Acht, dass die Überwachung und Durchsetzung der Einhaltung der Verbote der 6. BayIfSMV durch die Polizei- und Ordnungsbehörden kein Alkoholverbot voraussetzt. Abgesehen davon erweist sich die Vorgehensweise der Antragsgegnerin auch insoweit als inkongruent, als sie es trotz der von ihr geschilderten monatelangen Verstöße gegen die Vorgaben der 6. BayIfSMV versäumt hat, früher ortsbezogen mit dem Erlass eines Verbots des Konsums alkoholischer Getränke (nur) an „Hotspots“ tätig zu werden. Dass ein Überschreiten des 7-Tage-Inzidenzwerts für Neuinfektionen mit SARS-CoV-2 im Stadtgebiet erst am 24. August 2020 gedroht haben mag, ändert daran nichts, zumal dieser Anhaltswert weder auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht noch Voraussetzung einer notwendigen Schutzmaßnahme nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG ist.
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(b) Soweit die Beschwerde auf den hohen Anteil junger Infizierter im Stadtgebiet hinweist und eine Gefahr des Hineintragens von SARS-CoV-2 in deren Familien mit besonders vulnerablen Personengruppen sieht, ist bereits nicht erkennbar, inwiefern dies die infektionsschutzrechtliche Geeignetheit örtlich beschränkter Verbote infrage stellen könnte.
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(c) Das weitere Beschwerdevorbringen, ortsbezogene Verbote seien ungeeignet, weil ein Großteil der Bevölkerung sowie Touristen nicht über eine ausreichende Ortskenntnis verfügten, um einzelne Straßen und Plätze zuzuordnen, erweist sich als nicht nachvollziehbar. Maßgeblich ist alleine, ob der Regelung ihr Geltungsbereich eindeutig entnommen werden kann. Dies kann insbesondere auch mithilfe des Abdrucks einer Karte geschehen (vgl. auch BayVGH, B.v. 13.8.2020 - 20 CS 20.1821 - juris Rn. 3).
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(3) Auf die Angemessenheit des stadtweiten Verbots des Konsums alkoholischer Getränke im öffentlichen Raum kommt es nach alldem nicht mehr an. Gleichwohl teilt der Senat die verwaltungsgerichtliche Einschätzung, dass bei der Beurteilung der insoweit maßgeblichen Frage, ob die Folgen des Verbots für die Adressaten in einem vernünftigen Verhältnis zu dem mit der Maßnahme verfolgten Zweck stehen, nicht nur die Intensität des Eingriffs bei einzelnen Grundrechtsträgern, sondern auch die Zahl der hiervon Betroffenen in den Blick zu nehmen ist. Insoweit hat das Verwaltungsgericht erkannt, dass das Verbot eine sehr breite Wirkung entfaltet, indem es situations- und personenunabhängig die Handlungsfreiheit einer großen Zahl Betroffener einschränkt.
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cc) Keiner abschließenden Entscheidung bedarf die Frage, ob die angegriffene Allgemeinverfügung ihren zeitlichen Geltungsbereich mit ausreichender Bestimmtheit festlegt (Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG) bzw. ob dieser ordnungsgemäß bekannt gegeben wurde (Art. 41 Abs. 4 BayVwVfG). Aus der Allgemeinverfügung selbst ist nicht zu entnehmen, ab wann das Alkoholkonsumverbot gilt. Stattdessen soll dieses für die Dauer von sieben Tagen (wobei der Tag der Veröffentlichung als erster Tag gilt) dann „gelten“, wenn die Antragsgegnerin auf ihrer Internetseite erstmals einen Inzidenzwert für Neuinfektionen mit SARS-CoV-2 von oder über 35 pro 100.000 Einwohner veröffentlicht (abrufbar unter https://www.muenchen.de/rathaus/Stadtinfos/Coronavirus-Fallzahlen.html). Erst aus dieser Veröffentlichung ist zu erkennen, dass die Allgemeinverfügung ab Freitag, 28. August 2020, „wirksam“ wurde. Zwar ist anerkannt, dass der Eintritt einer Belastung nach Art. 36 Abs. 2 Nr. 2 BayVwVfG von dem ungewissen Eintritt eines zukünftigen Ereignisses abhängig gemacht werden kann, soweit es sich dabei um eine äußere Tatsache handelt, die für die Adressaten ohne Weiteres erfassbar ist (BVerwG, U.v. 16.6.2015 - 10 C 15.14 - BVerwGE 152, 211 - juris Rn. 12). Dieser Fragenkomplex muss vorliegend mangels Entscheidungserheblichkeit aber nicht weiter vertieft werden.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1, 2 i.V.m. § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Da das Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz die Hauptsacheentscheidung vorwegnimmt, ist eine Reduzierung des Streitwerts nicht angezeigt (vgl. Nr. 1.5 Satz 2 Streitwertkatalog). Die erstinstanzliche Streitwertfestsetzung war deshalb abzuändern (§ 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG).
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).