Inhalt

LG München I, Endurteil v. 27.08.2020 – 31 O 1712/20
Titel:

Ganz überwiegendes Eigenverschulden des Fahrgasts bei einem Unfall im Zusammenhang mit dem Einsteigen in ein Schienenfahrzeug

Normenketten:
BGB § 254, § 823 Abs. 1
HPflG § 1, § 4, § 6, § 12
Leitsätze:
Der Betreiber eines Schienenfahrzeuges verstößt nicht gegen seine Verkehrssicherungspflicht, wenn sich zwischen Bahnsteigkante und Fahrzeug ein gewisser Spalt befindet. Verletzt sich ein Fahrgast aufgrund eines Sturzes in einen solchen Spalt, ist eine Haftung des Betreibers in der Regel auch nach dem Haftpflichtgesetz ausgeschlossen, und zwar wegen überwiegenden Eigenverschuldens des Fahrgastes. Denn mit einem solchen Spalt muss man grundsätzlich rechnen und sich hierauf einstellen. (Rn. 20 – 21 und 31 – 35)
Unfälle im Zusammenhang mit dem Ein- und Aussteigen sind dem Betrieb eines Schienenfahrzeugs im engeren Sinne zuzuordnen, wenn sich der Unfall unmittelbar beim Ein- oder Aussteigen ereignet. Ein (ausreichender) Zusammenhang im weiteren Sinne ist gegeben, wenn der Unfall mit der eigentlichen Beförderungstätigkeit jedenfalls zusammenhängt und sich eine dem Bahnverkehr eigentümliche Gefahr verwirklicht hat. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Schienenfahrzeug, Einstieg, Unfall, Verkehrssicherungspflicht, Schadensersatz, Bahnsteigkante, Bahnverkehr
Fundstellen:
MDR 2020, 1444
BeckRS 2020, 20745
LSK 2020, 20745

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist für die Beklagte gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 22.257,72 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Die Klägerin macht Schadensersatzansprüche aus einem Unfall im Zusammenhang mit dem Versuch, in ein Schienenfahrzeug der Beklagten einzusteigen, geltend.
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Die Beklagte betreibt Schienenverkehr unter anderem auf der Strecke zwischen München Hauptbahnhof/Siemenswerke - Tegernsee.
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Die Klägerin beabsichtigte am 12.01.2017 gegen 18.30 Uhr an der Haltestelle „Siemenswerke“ zuzusteigen.
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Hierbei geriet sie mit dem linken Bein in den Spalt zwischen Trittbrett des Schienenfahrzeugs und der Bahnsteigkante, welcher 28 cm breit gewesen sei.
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Dadurch wurde die Klägerin verletzt. Sie habe sich eine komplette Unterschenkelfraktur linksseitig zugezogen, welche stationär habe behandelt werden müssen. Es seien weiterhin unfallbedingte körperliche und psychische Einschränkungen vorhanden, vor allem belastungsabhängige Schmerzen. Außerdem habe sie aufgrund unfallbedingter Arbeitsunfähigkeit einen Verdienstausfall erlitten, da …Weitere Folgeschäden seien zu erwarten. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die Klageschrift Bezug genommen.
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Die Klägerin behauptet, hinter ihr hätten sich geschätzt 10 Personen befunden, die ebenfalls Zustieg beabsichtigten. Aufgrund eines Gedränges beim Einstieg sei sie von dieser Menschenansammlung in Richtung Schienenfahrzeug geschoben worden und aus dem Gleichgewicht geraten.
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Sie ist der Ansicht, dass die Beklagte deshalb hierfür haftet, da kein Gitter unter dem Zustieg angebracht war, mit welchen neuere Schienenfahrzeuge bestückt sind.
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Die Klägerin beantragt daher:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, das einen Betrag von 12.000,00 € aber nicht unterschreiten sollte, nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 2.965,90 €, sowie weitere 5.391,82 € entgangener Verdienst und weitere € 1.900,00 entgangener Verdienst nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
3. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin € 729,23 außergerichtliche Anwaltskosten zu bezahlen.
4. Es wird festgestellt, dass die Beklagte der Klägerin jeden weiteren materiellen und immateriellen Schaden der ab Schluss der mündlichen Verhandlung entstanden ist z u ersetzen hat, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind bzw. übergehen werden.
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Die Beklagte beantragt
die Klage abzuweisen.
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Hierzu trägt sie insbesondere vor, dass die Züge von dem zuständigen Aufgabenträger des Landes zum Betrieb des Streckennetzes freigegeben sind. Der Reisezugwagen verfügt über ein angebrachtes festes Trittbrett sowie über Haltegriffe an den Türen.
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Es wird bestritten, dass sich ca. 10 Personen hinter der Klägerin befanden und es zu einem Gedränge kam.
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Die Beklagte ist der Ansicht, keine Verkehrssicherungspflicht verletzt zu haben. Der Unfall sei vielmehr auf fehlende Aufmerksamkeit der Klägerin zurückzuführen sowie darauf, dass sie versucht habe, besondere zügig in den Zug einzusteigen, bevor die aussteigenden Passagiere den Zug verlassen hatten. Sie habe eine Haltestange im Inneren des Zuges ergriffen, einen Schritt nach vorne gemacht und sei sodann in den Spalt zwischen Bahnsteigkante und Reisezugwagen geraten. Dieser sei nicht 28 cm, sondern nur 23 cm breit.
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Die behaupteten erlittenen Schäden samt Behandlungsmaßnahmen werden mit Nichtwissen bestritten.
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Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig. Da aus der Sicht des Geschädigten unter Zugrundelegung ihres Sachvortrages hinsichtlich der behaupteten Verletzungen bei verständiger Würdigung Grund besteht, mit dem Eintritt eines weiteren Schadens wenigstens zu rechnen, ist auch der Feststellungsantrag Ziff. IV gem. § 256 ZPO zulässig.
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Die Klage ist jedoch unbegründet.
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Die Klägerin hat gegenüber der Beklagten keine Ansprüche aus dem streitgegenständlichen Vorfall, weder aus §§ 1, 6 Haftpflichtgesetz noch aus § 823 Abs. 1 BGB wegen etwaiger schuldhafter Verletzung von Verkehrssicherungspflichten.
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Zwar haftet grundsätzlich nach § 1 Abs. 1 Haftpflichtgesetz bei dem Betrieb einer Schienenbahn der Betriebsunternehmer, wenn hierbei ein Mensch getötet, der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt wird.
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Unfälle im Zusammenhang mit dem Ein- und Aussteigen sind dem Betrieb im engeren Sinne zuzuordnen, wenn sich der Unfall unmittelbar beim Ein- oder Aussteigen ereignet. Der Einsteigevorgang beginnt mit dem Erfassen der Haltestange oder des Türgriffs oder mit dem Betreten der ersten Trittstufe (BeckOGK/M. Vogeler, 1.7.2020, HPflG § 1 Rn. 60). Zwar wird nicht vorgetragen, dass solches gegeben war. Vielmehr hat die Klägerin angegeben, von den hinter ihr befindlichen Personen „beim Einstieg in Richtung Schienenfahrzeug geschoben“ worden zu sein. Es ist aber ein (ausreichender) Zusammenhang im weiteren Sinne gegeben, da der Unfall mit der eigentlichen Beförderungstätigkeit jedenfalls zusammenhängt und sich eine dem Bahnverkehr eigentümlich Gefahr verwirklicht hat (BeckOGK/M. Vogeler aaO. Rn. 63, 66).
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Allerdings liegt ein ganz überwiegendes Eigenverschuldens der Klägerin vor, so dass Ansprüche nach § 254 BGB i.V.m § 4 HaftplichtG ausgeschlossen sind.
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Denn mit einem Spalt zwischen Bahnsteigkante und Tür muss der Fahrgast rechnen und sich hierauf einstellen (Filthaut/Piontek/Kayser/Piontek, 10. Aufl. 2019 Rn. 37, HPflG § 4 Rn. 37; OLG Düsseldorf, Urteil vom 20.11.2002 - I -15 U 79/02). Deswegen erfordert das Einsteigen in ein Schienenfahrzeug eine gesteigerte Aufmerksamkeit des Fahrgastes, auf die auch der Betreiber des Schienenfahrzeugs vertrauen darf. Wenn - wie hier - ein Fahrgast beim Einstieg in ein Schienenfahrzeug dieses verfehlt und in den Zwischenraum zwischen Bahnsteigkante und Eingangsbereich des Schienenfahrzeugs tritt, weil er den hier gemessenen Abstand nicht bemerkt hat, spricht schon der Beweis des ersten Anscheins für seine mangelnde Aufmerksamkeit und damit sein Verschulden. Da jeder Fahrgast mit einem Abstand zwischen der Bahnsteigkante und dem Schienenfahrzeug rechnen muss, muss er sich auch über die Größe dieses Abstandes vergewissern (OLG Düsseldorf aaO.).
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Das Mitverschulden könnte auszuschließen sein, sofern die Klägerin tatsächlich von anderen Personen gedrängt worden sein sollte und dies dann auch ursächlich für den Sturz gewesen wäre. Allerdings würde ein Gedränge eine noch höhere Aufmerksamkeit erfordern bzw. man hätte dann möglicherweise dem ausweichen und den anderen Personen den Vortritt lassen müssen (vgl. OLG Karlsruhe, Urteil vom 25.05.2009 - 1 U 261/08).
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Die Klägerin hat jedenfalls den entsprechenden Vortrag nicht bewiesen. Als Beweismittel hat sie lediglich ihre Parteieinvernahme angeboten. Da sich dieser die Beklagte jedoch widersetzt hat, könnte allenfalls nur eine solche von Amts wegen gem. § 448 ZPO in Betracht kommen (vgl. § 447 ZPO).
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Hierfür ist nach der Rechtsprechung eine gewisse Anfangswahrscheinlichkeit erforderlich, die im vorliegenden Fall jedoch nicht gegeben ist. Es sind hierfür keinerlei Hinweise ersichtlich (vgl. BGH, Urteil vom 12.12.2019 - III ZR 198/18). Von diesem Erfordernis Abstriche zu machen, rechtfertigt auch die Beweisnot der Partei nicht (BGH, Urteil vom 02.12.1997 - VI ZR 386/96). Eine dennoch durchgeführte Parteivernehmung wäre unzulässig mit der Folge, dass die herbeigeführte Aussage der Entscheidung nicht zugrunde gelegt werden dürfte (vgl. BGH, Urteil vom 05.07.1989 - VIII ZR 334/88; OLG Braunschweig, Urteil vom 31.05.1995 - 3 U 151/94 = OLGR 1995, 173; OLG Düsseldorf, Urteil vom 08.04.2004 - I-8 U 123/03). Im Übrigen spricht gegen einen solchen Anbeweis, dass in der Schilderung des Unfallherganges gegenüber dem ärztlichen Gutachter keine Rede von einem Gedräge ist, obgleich dies doch nach nunmehrigen Vortrag die wesentliche Ursache des Sturzes gewesen sein soll (vgl. Gutachten vom 15.03.2019, Anlage K 3b). So hat die Klägerin dort nur angegeben, dass sie beim Einsteigen mit ihrem linken Bein zwischen Bahnsteigkante und dem Trittbrett der Tür des Zuges geraten ist.
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Ein Ausnahmefall, bei welchen man auf diese Voraussetzung verzichten könnte, wie insbesondere ein sog. Vier-Augen-Gespräch, liegt nicht vor. Abgesehen davon ist beweispflichtig die Klägerin, so dass deren Vernehmung auch nicht zu einer etwaigen (Wieder-)Herstellung der Waffengleichheit erforderlich wäre. Dass eine beweispflichtige Partei nicht oder nicht mehr auf einen Zeugen zurückgreifen kann, ist nicht selten und stellt ein allgemeines Prozessrisiko dar. Diesem wird durch die Regelungen der §§ 445 ff ZPO bereits hinreichend Rechnung getragen, ohne dass dabei auf das Erfordernis eines „Anbeweises“ zum Ausgleich einer - hier nicht vorhandenen - prozessualen Ungleichheit verzichtet werden müsste (BGH, Urteil vom 20.07.2017 - III ZR 296/15).
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Zwar können nach der Rechtsprechung auch Äußerungen einer Partei bei deren Anhörung eine solche Anfangswahrscheinlichkeit begründen (vgl. BGH aaO.).
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Diese Ansicht erscheint indes zweifelhaft. Denn damit würde einer bloßen Anhörung im Ergebnis die Qualität eines Beweismittels zukommen, was sie aber nicht ist bzw. würden damit die (allgemein anerkannten) Voraussetzungen des § 448 ZPO aufgehoben werden.
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Denn mit der (informatorischen) Anhörung der Partei nach § 141 ZPO (vgl. auch § 137 Abs. 4 ZPO) dürfen nach h.M. lediglich Unklarheiten und Lücken im Parteivortrag beseitigt und geklärt werden (Thomas/Putzo 41. Aufl. 2020 Vorbem. § 445/2; BGH MDR 1967, 834). Sie kann deshalb nicht zum Gegenstand der Beweiswürdigung gemacht werden und ist vor allem kein von der ZPO vorgesehenes Beweismittel (vgl. OLG Naumburg, Urteil vom 03.04.2014 - 1 U 23/13; KG, Urteil vom 11.07.2017 - 21 U 100/16; AG Bremen, Urteil vom 23.11. 2017 - 9 C 0104/17; BGH, Urteile vom 19.04.2002 - V ZR 90/01, vom 26.03.1997 - IV ZR 91/96; OLG Nürnberg, Beschluss vom 19.09.2018 - 2 U 2307/17; OLG München, Urteil vom 10.01.2014 - 10 U 2231/13; OLG Koblenz, Beschluss vom 24.11.2011 - 10 U 756/11). So sollen auch nach einer Entscheidung des BGH ist bestrittene, erhebliche Tatsachenbehauptungen in der Regel mit den in der ZPO vorgesehenen Beweismitteln bewiesen werden müssen. § 286 ZPO gewähre nicht die Möglichkeit, einfach danach zu entscheiden, welche Parteibehauptung dem Gericht mehr oder weniger glaubwürdig erscheint (BGH, Urteil vom 26.04.1989 - IVb ZR 52/88). Dem Tatrichter soll es nach § 286 ZPO jedoch trotzdem erlaubt sein, allein aufgrund des Vortrags der Parteien und ohne Beweiserhebung festzustellen, was für wahr und was für nicht wahr zu erachten ist (BGH, Beschluss vom 27.09.2017 - XII ZR 48/17, Urteil vom 06.10.1981 - X ZR 57/80).
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Es erscheint jedoch ebenfalls zweifelhaft, ob „unter Inbegriff der Verhandlungen“ in § 286 Abs. 1 ZPO - worauf der BGH seine Ansicht stützt - auch die Äußerungen einer Partei bei deren Anhörung fallen, da es darin weiterhin heißt „und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme“ und in der ZPO als Beweismittel ausdrücklich die Parteivernehmung vorgesehen ist (vgl. auch Eschelbach, ZAP F. 22, 599, Nr. 7 v. 29.03.2012, der darlegt, dass es auf einem Missverständnis der Entscheidung des BGH vom 06.10.1981 beruht, wenn hieraus gefolgert wird, dass das Gericht seine Überzeugung alleine auf eine Parteibehauptung stützen soll können). Nach der Systematik der ZPO wird auch klar unterschieden zwischen bestrittenem und unbestrittenem Parteivortrag (vgl. § 138 ZPO), wobei bestrittener Tatsachenvortrag zu beweisen ist (vgl. §§ 284, 279, 288 ZPO) und hierfür die Beweismittel vorgesehen sind (vgl. §§ 355 ff. ZPO). Dem muss hier jedoch nicht weiter nachgegangen werden.
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Da Unklarheiten nicht vorhanden waren, sah sich das Gericht auch nicht dazu veranlasst, die im Termin persönlich anwesende Klägerin anzuhören, wobei von ihr auch keine entsprechende Wortmeldung erfolgte (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.02.2008 - 1 BvR 2588/06; OLG Zweibrücken, Urteil vom 01.07.2010 - 4 U 7/10). So wird auch in anderen Fällen von der Rechtsprechung verlangt, dass die Partei das Ihre dazu beiträgt, dass ihre Rechte am Prozess nicht verkürzt werden (vgl. BGH, Urteil vom 31.05.1988 - VI ZR 261/87; BVerwG, Beschluss vom16.06.2003 - 7 B 106/02), zumal die Klägerin anwaltlich vertreten war.
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Es besteht auch kein Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB, § 12 HaftpflichtG. wegen etwaiger Verletzung von Verkehrssicherungspflichten seitens der Beklagten.
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Die aufgrund des Spaltes gegebene Gefahr war nicht abhilfebedürftig. Die allgemeinen Sicherheitserwartungen des Verkehrs werden von der zutreffenden Vorstellung geprägt, dass ein gewisser Zwischenraum und in vielen Fällen auch ein Höhenunterschied überwunden werden muss. Die sich daraus ergebenden Unsicherheiten muss der Bahnbenutzer in der konkreten Situation durch gesteigerte Aufmerksamkeit auf eben diese Gefahren kompensieren. Darauf darf auch die Beklagte als sicherungspflichtige Betreiberin des Schienenfahrzeuges vertrauen.
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Dieser Zwischenraum stellte somit auch keinen verkehrswidrigen, d.h. sicherungsbedürftigen Zustand dar. Nach den herrschenden Verhältnissen im Betrieb und der allgemeinen Lebenserfahrung kann im Übrigen auch niemals mit einheitlichen Umständen gerechnet werden kann (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 15.06.1999 - 9 U 249/98), so dass es unerheblich ist, dass an anderen Schienenfahrzeugen Gitter angebracht sind. Dass andere Fahrzeuge dadurch sicherer sind, bedeutet nicht ohne Weiteres, dass Fahrzeuge ohne solche Vorrichtungen nicht verkehrssicher sind.
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Denn die Bahnbenutzer können einen solchen Zwischenraum beherrschen, indem sie sich bei der zu erwartenden Eigensorgfalt darauf einstellen und mit einem entsprechend großen Schritt den Wagen betreten. Soweit sie individuell dazu nicht in der Lage sind, sind sie gehalten sich fremder Hilfe zu bedienen (vgl. OLG Hamm aaO.; vgl. auch KG, Beschluss vom 18.04.1955 - 4 W 766/5 - „Wer eine Rolltreppe benutzt, muß selbst standfest sein, und zwar so, daß er auch einem Anstoßen durch einen Fahrgast gewachsen ist und dem standhält. Er muß auch damit rechnen, daß andere Fahrgäste an ihm vorbeieilen und hasten werden“).
35
Letztlich muss maßgeblich auf die Möglichkeit zu einem effektiven Selbstschutz abgestellt werden. So liegt eine besondere Gefahr grundsätzlich auch dann nicht vor, wenn der Abstand zwischen dem unteren Trittbrett und dem Bahnsteig besonders groß ist. Dieser Umstand ist grundsätzlich unter normalen Umständen für jedermann bei nur geringster Aufmerksamkeit zu erkennen und verliert damit seine Gefährlichkeit. Ein Abstand von 33 cm zwischen unterer Trittstufe und Bahnsteigkante wird danach als verkehrssicher angesehen, und zwar auch dann, wenn die Trittstufe 15 cm unterhalb des Bahnsteigniveaus liegt (vgl. BeckOGK/Ballhausen, 1.6.2020, HPflG § 12 Rn. 37; LG Nürnberg-Fürth, Urteil vom 09.02.2001 - 2 O 7872/00). Vorliegend betrug der Abstand nach dem Vortrag der Klägerin sogar nur 28 cm.
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Auf die Frage, welche Bedeutung die Tatsache, dass die Züge von dem zuständigen Aufgabenträger des Landes zum Betrieb des Streckennetzes freigegeben sind, für die Verkehrssicherungspflicht der Beklagten hat, braucht nach alldem nicht mehr eingegangen zu werden.
Kosten: § 91 ZPO; vorläufige Vollstreckbarkeit: § 709 ZPO; Streitwert: §§ 3, 5 ZPO.