Inhalt

FG München, Beschluss v. 09.07.2020 – 12 K 444/20
Titel:

Aufhebung von Kindergeldfestsetzung

Normenketten:
FGO § 47,§ 142
ZPO § 114, § 121
EStG § 64 Abs. 2
Leitsatz:
Eine beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet dann hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn das Gericht in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung durch den Antragsteller überzeugt ist und deshalb bei summarischer Prüfung für den Eintritt des angestrebten Erfolgs eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht.
Schlagworte:
Beweisführung>, Antragsteller, summarische Prüfung, Eintritt, Wahrscheinlichkeit, Pflegefamilie, ultima ratio
Fundstelle:
BeckRS 2020, 20379

Tenor

1. Der Antragstellerin wird für das Klageverfahren Prozesskostenhilfe gewährt.
2. Zur Wahrung der Rechte wird der Prozessbevollmächtigte Rechtsanwalt [… YY] beigeordnet.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin ist schwer behindert mit einem Grad der Behinderung von 100; […] ZZ wurde mit Beschluss des Betreuungsgerichts vom […] 2019 zur Betreuerin der Antragstellerin bestellt. Der Antragstellerin wurde für ihr Kind [… BB] (geboren […] 2017) Kindergeld gewährt. Mit Bescheid vom 8. Januar 2020 wurde die Kindergeldfestsetzung gegenüber der Antragstellerin für die Monate Juli 2019 bis Oktober 2019 aufgehoben und das gewährte Kindergeld in Höhe von 816 € zurückgefordert. Gegen diesen Bescheid erhob die Antragstellerin - vertreten durch ihre Betreuerin - Einspruch. Der Einspruch hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 3. Februar 2020). Die Familienkasse begründete ihre Entscheidung damit, dass BB ab Juli 2019 von einer Pflegemutter in ihren Haushalt aufgenommen worden sei und diese nach § 64 Abs. 2 Satz 1 Einkommensteuergesetz (EStG) den vorrangigen Anspruch auf Kindergeld habe.
2
Dagegen erhob die Antragstellerin - wiederum vertreten durch ihre Betreuerin - Klage. Die Klage wird unter anderem damit begründet, dass vom Kindsvater kein Barunterhalt geleistet werde. Zur weiteren Begründung legte die Antragstellerin unter anderem ein Schreiben des Landratsamtes [… M-Dorf] (Amt für Jugend und Familie) vom 24. Februar 2020 bei. Aus dem Schreiben ergibt sich, dass die Antragstellerin und BB seit 1. Juli 2019 räumlich getrennt sind und dass das Amt für Jugend und Familie seit 1. Juli 2019 stationäre Jugendhilfe in einer Jugendhilfeeinrichtung leistete; seit 7. Oktober 2019 befindet sich BB in einer Pflegefamilie. Seit 1. November 2019 bezieht die Pflegefamilie das Kindergeld für BB. Mit Bescheid vom 15. Januar 2018 hat das Amt für Jugend und Familie die Antragstellerin verpflichtet, einen monatlichen Kostenbeitrag für BB in Höhe des für ihn gewährten Kindergeldes zu bezahlen. Unter anderem verweist die Antragstellerin darauf, dass sie das Kindergeld an das Amt für Jugend und Familie weitergeleitet habe und es ihr finanziell nicht möglich sei, das Kindergeld zurückzuzahlen.
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Für das vorliegende Klageverfahren begehrt die Antragstellerin Prozesskostenhilfe.
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Die Antragstellerin beantragt,
ihr für das vorliegende Klageverfahren Prozesskostenhilfe zu gewähren und den Prozessbevollmächtigten beizuordnen.
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Die Familienkasse ist der Auffassung, dass die Klage keine Erfolgsaussichten habe. Für den Klagezeitraum von Juli 2019 bis Oktober 2019 stehe nicht fest, wer vorrangig Kindergeld berechtigt sei. Das Kind habe den Haushalt der Antragstellerin am 30. Juni 2019 verlassen und sei im Rahmen der stationären Jugendhilfe in der Jugendhilfeeinrichtung untergebracht gewesen. Mangels Haushaltsaufnahme käme es darauf an, wer in diesem Zeitraum für BB den überwiegenden Unterhalt bezahlt habe. Ebenso liege keine Berechtigtenbestimmung gegenüber der Familienkasse vor.
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Die Antragstellerin hat eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse bei Prozesskostenhilfe vom 8. März 2020 vorgelegt.
II.
7
Der Antrag auf Prozesskostenhilfe hat Erfolg.
8
1. Nach § 142 Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichend Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
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a) Eine beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet dann hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Klägers nach dessen Sachdarstellung und den vorhandenen Unterlagen für zutreffend oder zumindest für vertretbar hält, in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist und deshalb bei summarischer Prüfung für den Eintritt des angestrebten Erfolgs eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht (Bundesfinanzhof<BFH>-Beschluss vom 7. Dezember 2007 VIII S 13/07 (PKH), BFH/NV 2008, 591).
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b) Aus der von der Antragstellerin eingereichten Erklärung ihrer persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse ergibt sich, dass sie nicht in der Lage ist, die Kosten der Prozessführung aufzubringen (vgl. § 117 Abs. 2 ZPO).
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2. Im Streitfall geht der Senat nach summarischer Prüfung der Sach-, Rechts- und Beweislage von Erfolgsaussichten der Klage aus.
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Zum einen ist der Senat nach dem derzeitigen Verfahrensstand davon überzeugt, dass die im Verwaltungsverfahren und außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren von der Familienkasse angeführte Begründung für die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung unzutreffend ist. Aus dem Schreiben des Amtes für Jugend und Familie ergibt sich, dass BB erst seit […] Oktober 2019 in einer Pflegefamilie aufgenommen ist und nicht schon seit dem 1. Juli 2019.
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Im Übrigen ist der Senat nach summarischer Prüfung davon überzeugt, dass der Antragstellerin die Beweisführung gelingen kann, dass sie für den streitigen Zeitraum von Juli 2019 bis Oktober 2019 die vorrangig Kindergeldberechtigte ist. Die Familienkasse hat zu dieser Frage bisher keine Ermittlungen unternommen und im Rahmen des Klageverfahrens nun erstmals nur auf die objektive Beweislast (Feststellungslast) verwiesen. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. zum Ganzen BFH-Urteile 15. Februar 1989 X R 16/86, BFHE 156, 38, BStBl II 1989, 462, und vom 23. März 2011 X R 44/09, BFHE 233, 297, BStBl II 2011, 884) stellt die Anwendung der Regeln über die Feststellungslast lediglich eine „ultima ratio“ dar. Vorrangig sind in jedem Fall Bemühungen zur Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO). Dabei sind die Beteiligten mit heranzuziehen (§ 76 Abs. 1 Satz 2 FGO).
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3. Die Beiordnung des Rechtsanwalts beruht auf § 142 Abs. 1 FGO i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO.
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4. Eine Kostenentscheidung war nicht zu treffen (BFH-Beschluss vom 8. März 2016 V S 9/16 (PKH), BFH/NV 2016, 944). Gerichtsgebühren sind für dieses Verfahren nicht zu erheben (§ 142 FGO i.V.m. § 118 Abs. 1 Sätze 4 und 5 ZPO, § 1 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 3 Gerichtskostengesetz und Kostenverzeichnis Anlage 1).