Inhalt

FG München, Gerichtsbescheid v. 03.07.2020 – 5 K 2783/19
Titel:

Sachliche Unzuständigkeit der Familienkasse

Normenketten:
EStG § 68, § 74 Abs. 2
AO § 227
ZPO § 850c
Schlagworte:
Kindergeld, Zuständigkeit, Erlassfall, Ermessensreduzierung auf Null, Inkasso-Service, Kindertagesgeld, Familienkasse, Bedarfsgemeinschaft, Unzuständigkeit
Rechtsmittelinstanz:
BFH München vom -- – III R 46/20
Fundstelle:
BeckRS 2020, 20372

Tenor

1. Der Bescheid über die Ablehnung des Erlasses der Rückforderung von Kindergeld vom 23. Mai 2019 und die Einspruchsentscheidung vom 15. Oktober 2019 werden aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger und die Beklagte je zur Hälfte.
3. Der Gerichtsbescheid ist im Kostenpunkt für den Kläger vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten des Klägers die Vollstreckung abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
4. Die Revision wird zugelassen.

Entscheidungsgründe

I.
1
Streitig ist, ob der Erlass einer Forderung gegen den Kläger wegen der Rückzahlung von Kindergeld in Höhe von 8.927 € zu Recht abgelehnt worden ist.
2
Der Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger und lebt seit Oktober 2010 mit seiner Ehefrau und drei Kindern in Deutschland; im Jahr 2013 wurde ein weiteres Kind geboren. Jedenfalls seit März 2017 ist der Kläger im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet Aufenthaltsgesetz (AufenthG); ihm ist eine Beschäftigung gestattet.
3
Nach Aufnahme einer geringfügigen Beschäftigung ab Mitte Mai 2017 bezog der Kläger nach Vorlage einer Meldebescheinigung zur Sozialversicherung und einer Lohnabrechnung für Juni 2017 (Arbeitgeber: E) aufgrund des Bescheids des Familienkasse ... vom 21. August 2017 ab Mai 2017 für seine Kinder Kindergeld; für das älteste Kind, das am 15. April 2000 geboren ist, wurde Kindergeld zusätzlich ab Mai 2018 bzw. August 2018 auch aufgrund Bescheiden der Familienkasse ... vom 13. März und 12. September 2018 festgesetzt. Für Mai bis August 2017 wurde das Kindergeld an den Kläger unter Hinweis auf den vom Jobcenter geltend gemachten Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht ausgezahlt. Die Beendigung eines seit Oktober 2017 bestehenden Arbeitsverhältnisses (Arbeitgeber: S) zum 30. April 2018 teilte der Kläger der Familienkasse ... zunächst nicht mit, sondern aufgrund Nachfrage der Familienkasse ... erst mit Schreiben vom 23. November 2018, das am 11. Januar 2019 bei der Familienkasse ... eingegangen ist. Demgemäß hob die Familienkasse ... die Kindergeldfestsetzung für die Zeiträume August bis September 2017 sowie Mai 2018 bis Januar 2019 mit bestandskräftigem Bescheid vom 11. Februar 2019 auf und forderte das in diesen Zeiträumen überzahlte Kindergeld in Höhe von insgesamt 8.927 € zurück.
4
Der Kläger hatte für diese Zeiträume Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) erhalten. Ausweislich der Bescheide des Jobcenters war bei der Berechnung der Leistungen für die Bedarfsgemeinschaft das Kindergeld - mit Ausnahme des Monats August 2017 - jeweils als Einkommen berücksichtigt worden.
5
Mit Schreiben vom 20. Februar 2019 beantragte der Kläger bei der Bundesagentur für Arbeit Agentur für Arbeit Recklinghausen Familienkasse Inkasso-Service (Inkasso-Service), den zurückgeforderten Betrag von 8.927 € wegen Unbilligkeit zu erlassen. Wegen des Wegfalls seiner Arbeitsstelle und dem daraus resultierenden Wegfall des Kindergeldanspruchs verfüge er nur noch über Leistungen nach dem SGB II. Im Übrigen sei während des Kindergeldbezugs eine Anrechnung des Kindergelds durch das Jobcenter erfolgt. Die Rückzahlung des Kindergelds stelle für ihn eine besondere Härte dar.
6
Diesen Antrag lehnte der Inkasso-Service mit Bescheid vom 23. Mai 2019 ab und führte zur Begründung aus, dass ein Erlass wegen persönlicher Unbilligkeit wegen einer Mitwirkungspflichtverletzung des Klägers nach § 68 EStG nicht in Betracht komme. Nach Auskunft der Familienkasse ... hätte der Kläger die Rückforderung zumindest teilweise durch rechtzeitige Mitwirkung verhindern können. Der Kläger sei daher nicht erlasswürdig. Gründe für eine sachliche Unbilligkeit seien weder vorgetragen noch vorliegend erkennbar.
7
Der hiergegen erhobene Einspruch blieb in der Einspruchsentscheidung der Beklagten (der Familienkasse) vom 15. Oktober 2019 ohne Erfolg. Ein Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen könne zwar berechtigt sein, wenn bei der Berechnung des Arbeitslosengelds II das Kindergeld als Einkommen angesetzt worden und bei der Rückforderung des Kindergelds eine nachträgliche Korrektur der Leistungen in Höhe des Kindergelds aber nicht möglich sei. Dies setze jedoch voraus, dass die Überzahlung des Kindergelds nicht auf das Verhalten des Berechtigten zurückzuführen sei. Der Kläger habe im Streitzeitraum August bis September 2017 und Mai 2018 bis Januar 2019 zwar Arbeitslosengeld II bezogen, und die Rückforderungsbeträge seien auch ganz oder teilweise als Einkommen angerechnet worden. Ungeachtet der Frage, ob insoweit ausreichende Nachweise geliefert worden seien, sei die Überzahlung jedoch allein auf das Verhalten des Klägers zurückzuführen. Der Kläger habe trotz entsprechenden Hinweises im Kindergeldfestsetzungsbescheid vom 21. August 2017 auf die Bedeutung der Erwerbstätigkeit des Klägers für den Kindergeldbezug der Familienkasse ... jedoch weder das Ende seiner Erwerbstätigkeit noch weitere Zeiten ohne Erwerbstätigkeit angezeigt. Dies sei ursächlich für die Weiterzahlung des Kindergelds in den Folgemonaten sowie die Anrechnung bei der Sozialleistung gewesen. Persönliche Unbilligkeitsgründe lägen gleichfalls nicht vor, da der Kläger weder erlassbedürftig noch erlasswürdig sei. Da der Kläger seinen Lebensunterhalt von unpfändbarem Einkommen bestreite, sei er durch die Pfändungsfreigrenzen des § 850c der Zivilprozessordnung (ZPO) geschützt. Abgesehen davon könnten sich in den wirtschaftlichen Verhältnissen noch Änderungen ergeben, die dazu führen könnten, dass die Forderung noch beglichen werden könne. Da der Kläger auch seiner Mitwirkungspflicht gegenüber der Familienkasse ..., Zeiten ohne Erwerbstätigkeit mitzuteilen, nicht nachgekommen sei, sei er im Übrigen auch nicht erlasswürdig.
8
Nach fruchtloser Pfändung beim Kläger wurde die Kindergeldrückforderung befristet bis zum Ablauf der Verjährung niedergeschlagen.
9
Zur Begründung seiner gegen die Erlassablehnung erhobenen Klage trägt der Kläger vor, dass ihm die gesamte Erstattungsforderung in Höhe von 8.927 € zu erlassen sei. Der Erlass sei aus sachlichen Gründen geboten. Bei der Einziehung von Kindergeldrückforderungsansprüchen könne eine Anrechnung des Kindergelds auf Sozialleistungen einen Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen begründen, wenn eine nachträgliche Korrektur der Sozialleistungen nicht mehr möglich sei; dies habe der Bundesfinanzhof (BFH) mehrfach entschieden. Die Unbilligkeit entfalle auch nicht, weil die Überzahlung des Kindergelds auf einer Mitwirkungspflichtverletzung des Klägers beruhe. Die Erlasserwägungen müssten frei von Sanktionsüberlegungen zustande kommen; über Sanktionen müsse im Straf- oder Bußgeldverfahren entschieden werden. Abgesehen davon würde andernfalls die sozialrechtliche Bedürftigkeit (des Klägers bzw. des/der Kinder) im Endergebnis unbefriedigt bleiben, dem Kläger würde nachträglich der sozialstaatlich gebotene Bedarf entzogen. Dieser Wertungswiderspruch begründe den Erlass. Ein allgemeiner Hinweis auf § 68 EStG reiche im Übrigen nicht aus, um dem Kindergeldberechtigten die Konsequenzen aus der Beendigung der Erwerbstätigkeit in Bezug auf den Wegfall des Kindergeldanspruchs hinreichend deutlich zu machen. Es seien auch die verschiedenen Verursachungsbeiträge von Kindergeldberechtigtem, Familienkasse ... und Sozialleistungsträger zu berücksichtigen. Da der Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum Leistungen nach dem SGB II bezogen habe, sei der Bundesagentur für Arbeit bekannt gewesen, dass die Voraussetzungen für den Kindergeldbezug nicht mehr vorgelegen hätten. Abgesehen davon habe er in Anbetracht der Anrechnung des Kindergeldbezugs auf die Sozialleistung darauf vertrauen dürfen, dass der Kindergeldanspruch weiterbestehe.
10
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Bescheid über die Ablehnung des Erlasses der Kindergeldrückforderung vom 23. Mai 2019 und die Einspruchsentscheidung vom 15. Oktober 2019 aufzuheben, und die Familienkasse zu verpflichten, den Kindergeldrückforderungsbetrag in Höhe von 8.927 € zu erlassen.
11
Die Familienkasse beantragt,
die Klage abzuweisen.
12
Zur Begründung verweist sie auf die Einspruchsentscheidung. Ergänzend hebt sie hervor, dass nach der derzeit geltenden Dienstanweisung der Erlass regelmäßig zu versagen sei, wenn die Überzahlung des Kindergelds durch eigenes Verhalten des Kindergeldberechtigen bzw. die Verletzung von Mitwirkungspflichten - wie vorliegend - verursacht worden sei. Auf die konkrete Mitwirkungspflicht sei der Kläger auch nicht nur allgemein durch das Merkblatt, sondern ausdrücklich in den Erläuterungen zum Festsetzungsbescheid vom 21. August 2017 hingewiesen worden. Auf die BFH-Urteile jeweils vom 13. September 2018 III R 19/17, BStBl II 2019, 187, und III R 48/17, BStBl II 2019, 189, sowie vom 8. November 2018 III R 31/17, BFH/NV 2019, 557, werde insoweit verwiesen. Dass das Jobcenter ggf. über weitere Informationen verfüge, sei für die Erlassentscheidung unerheblich, da dessen Kenntnisse dem Sozialgeheimnis unterlägen mit der Folge, dass das Jobcenter zu einer Weitergabe von Informationen an die Familienkasse ... weder verpflichtet noch befugt sei.
13
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten und die von den Beteiligten eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
II.
14
Die Klage ist mit der Maßgabe begründet, dass der ablehnende Bescheid vom 23. Mai 2019 und die Einspruchsentscheidung vom 15. Oktober 2019 aufzuheben waren, weil sie rechtswidrig sind und den Kläger in seinen Rechten verletzen (§ 101 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Da sowohl der ablehnende Bescheid als auch die Einspruchsentscheidung von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen wurden, konnte der Senat jedoch weder eine Verpflichtung zur Vornahme des vom Kläger begehrten Erlasses gemäß § 101 Satz 1 FGO aussprechen, noch gemäß § 101 Satz 2 FGO die Verpflichtung aussprechen, ihn unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Insoweit war die Klage abzuweisen.
15
1. Die Finanzbehörden können nach § 227 der Abgabenordnung (AO) Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Die Unbilligkeit kann in der Sache selbst oder in der Person des Steuerpflichtigen begründet liegen. Die Entscheidung über den Erlass ist eine Ermessensentscheidung der Behörde und unterliegt deshalb gemäß § 102 FGO lediglich einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Zu prüfen ist daher bei einer Erlassablehnung nur, ob die Finanzbehörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Im Einzelfall kann der Ermessensspielraum aber so eingeengt sein, dass nur eine Entscheidung ermessensgerecht ist (sog. Ermessensreduzierung auf Null). Ist nur der Erlass eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis ermessensgerecht, kann das Gericht gemäß § 101 Satz 1 FGO die Verpflichtung zum Erlass aussprechen.
16
Die Verletzung der Vorschriften über die sachliche Zuständigkeit im Rahmen einer Ermessensentscheidung ist ein stets beachtlicher Verfahrensfehler. § 127 AO ist insoweit nicht anwendbar (vgl. BFH-Urteil vom 19. April 2012 III R 85/11, BFH/NV 2012, 1411).
17
2. Die Finanzbehörde, die nach § 227 AO für die Entscheidung über den Erlassantrag zuständig war, ist die Familienkasse ..., die auch den bestandskräftigen Bescheid über die Aufhebung und Rückzahlung des zu Unrecht gegenüber dem Kläger festgesetzten Kindergelds vom 11. Februar 2019 erlassen hat, nicht jedoch der Inkasso-Service.
18
a) Nach § 16 AO i.V.m. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 1 des Finanzverwaltungsgesetzes (FVG) hat das Bundeszentralamt für Steuern die Aufgabe, d.h. ist sachlich dafür zuständig, den Familienleistungsausgleich nach Maßgabe der §§ 31, 62 bis 78 EStG durchzuführen. Zur Durchführung dieser Aufgaben stellt die Bundesagentur für Arbeit gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 2 FVG dem Bundeszentralamt für Steuern ihre Dienststellen als Familienkassen zur Verfügung. Nach § 6 Abs. 2 Nr. 6 AO sind die Familienkassen Finanzbehörden. Gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG kann der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs abweichend von den Vorschriften der AO über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten einer anderen Familienkasse übertragen.
19
b) Der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit hat zuletzt durch Beschluss vom 24. Oktober 2019 (33/2019, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft April 2020) mit Wirkung ab 1. Januar 2020 und davor mit Beschluss vom 20. September 2018 (23/2018, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Oktober 2018) mit Wirkung ab 1. Dezember 2018 Regelungen zur Zuständigkeit einzelner Familienkassen getroffen. Diese Beschlüsse hat er auf § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG gestützt. Beide Beschlüsse sehen vor, dass für die Bearbeitung von Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen des „Inkasso-Service“ im Bereich des steuerlichen Kindergelds die regionale Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord zuständig ist.
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Dem Inkasso-Service, also der Agentur für Arbeit Recklinghausen Inkasso-Service Familienkasse, ist weder durch die vorstehenden Vorstandsbeschlüsse noch durch vorangegangene vom 14. April 2016 (15/2016, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2016) oder vom 18. April 2013 (21/2013, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2013) die Zuständigkeit für Entscheidungen im Erhebungsverfahren betreffend den Familienleistungsausgleich übertragen worden (vgl. auch Urteil des FG Düsseldorf vom 20. September 2019 10 K 3317/18, juris, Revision anhängig unter III R 36/19). Nachfragen des erkennenden Senats bei der Bundeagentur für Arbeit Familienkasse Direktion aus dem Jahr 2014 führten im Jahr 2015 noch zu dem Ergebnis, dass die Familienkasse nach dem Fachkonzept Familienkassen auch Ausgangsbehörde in allen Inkassoangelegenheiten sein sollte.
21
Entgegen der Ansicht des FG Hamburg in seinem Urteil vom 27. Januar 2020 6 K 202/19, juris, ergibt sich die Zuständigkeit des Inkasso-Service für Entscheidungen im Erhebungsverfahren betreffend den Familienleistungsausgleich und damit auch für die streitgegenständliche Entscheidung über den Erlassantrag des Klägers auch nicht etwa daraus, dass nach dem internen Verständnis des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit der Inkasso-Service hierfür zuständig sein soll. Dem Vorstand der Bundesagentur für Arbeit fehlt es insoweit nach Auffassung des Senats schon an einer Regelungsbefugnis, geschweige denn, dass eine Zuständigkeitsübertragung stillschweigend im Wege des „internen Verständnisses“ erfolgen könnte. Auf die Ausführungen unter II. 3. wird im Übrigen verwiesen.
22
3. Auch die Familienkasse war für die Entscheidung über den Einspruch gegen die Ablehnung des Erlasses sachlich nicht zuständig.
23
a) Bei der Frage, ob eine Familienkasse zu Entscheidungen im Erhebungsverfahren betreffend den Familienleistungsausgleich befugt sein soll, handelt es sich um eine Frage der sachlichen Zuständigkeit (so im Ergebnis auch Urteile des FG Hamburg vom 27. Januar 2020 6 K 202/19, juris, und des FG Düsseldorf vom 14. Mai 2019 10 K 3317/18, juris, und vom 22. Januar 2020 9 K 2688/19, juris).
24
Dies ergibt sich bereits aus § 16 AO i.V.m. § 17 Abs. 2 Satz 3 FVG. An dieser Stelle stellt das FVG, das sich mit der sachlichen Zuständigkeit der Finanzbehörden befasst, klar, dass es sich bei der Zuständigkeit für das Erhebungsverfahren um eine Frage der sachlichen Zuständigkeit handelt. Dementsprechend beruhte etwa die Regelung der Zuständigkeit des vormaligen Zentralfinanzamts München u.a. für die Erhebung für die den vormaligen Finanzämtern München für Körperschaften und München I bis V übertragenen Aufgaben durch § 5 Abs. 1 Nr. 2 Steuer-Zuständigkeitsverordnung - ZustVSt - vom 1. Dezember 2005 i.V.m. Anlage 3 Nr. 20 nach der Eingangsformel der ZustVSt explizit auf § 17 Abs. 2 Sätze 3 und 4 FVG.
25
Auch wenn die sachliche Kompetenz von einschlägig mit einer bestimmten Angelegenheit befassten Finanzbehörden (im Streitfall mit der Erhebung von Kindergelderstattungsbeträgen und allen damit im Zusammenhang stehenden Entscheidungen) räumlich abgegrenzt wird und die Entscheidungszuständigkeit aus Gründen der Zuständigkeitskonzentration einer Finanzbehörde übertragen wird, um etwa vorhandenes Fachwissen und Ressourcen sinnvoll einzusetzen, handelt es sich dennoch um eine Regelung der sachlichen Zuständigkeit (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 20. August 2014 I R 43/12, BFH/NV 2015, 306, zu § 19 Abs. 6 Satz 1 AO i.V.m. § 1 der Einkommensteuer-Zuständigkeitsverordnung - EStZustV -).
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b) Nach § 16 AO richtet sich die sachliche Zuständigkeit der Finanzbehörden, soweit nichts anderes bestimmt ist, nach dem Gesetz über die Finanzverwaltung.
27
aa) Auf § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG konnte der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit seine Entscheidung, die Familienkasse als für die Bearbeitung von Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen des Inkasso-Service im Bereich des steuerlichen Kindergelds zuständige Finanzbehörde zu bestimmen, nicht stützen (a.A. ohne nähere Begründung FG Berlin-Brandenburg 3 K 3077/19, EFG 2020, 157).
28
Die Bestimmung lässt ihrem Wortlaut nach lediglich Regelungen zur örtlichen Zuständigkeit einzelner Familienkassen abweichend von den Bestimmungen der Abgabenordnung zu (vgl. insoweit auch BFH-Urteil vom 19. Januar 2017 III R 31/15, BStBl II 2017, 642), nicht zur sachlichen Zuständigkeit. Darum handelt es sich aber bei der Regelung der Zuständigkeit einer Behörde für im Rahmen des Erhebungsverfahrens zu treffende Entscheidungen.
29
Selbst wenn man trotz des Wortlauts der Bestimmung davon ausgehen wollte, dass die Bestimmung ihrem Sinn und Zweck nach auch eine Regelung der sachlichen Zuständigkeit ermöglichen will, trüge die Vorschrift nicht die Übertragung der Zuständigkeit für Rechtsbehelfsentscheidungen im Erhebungsverfahren auf die Familienkasse. Denn es erscheint aus Sicht des Senats zwar denkbar, dass der Gesetzgeber mit der Formulierung „Zuständigkeit für die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld“ nicht lediglich Entscheidungen im Rahmen des Festsetzungsverfahrens, in dem über den Anspruch auf Kindergeld entschieden wird, gemeint hat, sondern auch Zuständigkeitsregelungen für in einem Kindergeldfall ggf. im Erhebungsverfahren zu treffende Entscheidungen zulassen wollte, der Gesetzgeber mithin eine Zuständigkeitsverlagerung auf eine Familienkasse für sämtliche in einem Kindergeldfall zu treffenden Entscheidungen (sei es im Festsetzungs-, sei es im Erhebungsverfahren) in bestimmten Bezirken oder für Gruppen von Berechtigten ermöglichen wollte. Eine Befugnis zur Übertragung der Zuständigkeit nur für die Entscheidung im Erhebungsverfahren, nicht aber auch im Festsetzungsverfahren, lässt sich aus der Bestimmung aber nicht herleiten.
30
Abgesehen davon umfasst die Bestimmung nicht die Befugnis zur Übertragung der Zuständigkeit für die Bearbeitung sämtlicher Rechtsbehelfe gegen sämtliche Entscheidungen einer als Inkasso-Service im Erhebungsverfahren tätigen Dienststelle auf eine einzige Familienkasse. Denn nach ihrem eindeutigen Wortlaut ist eine Zuständigkeitskonzentration nur für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten möglich, nicht für alle Bezirke bzw. sämtliche Kindergeldberechtigten.
31
bb) Die Konzentration der Zuständigkeit der Familienkasse für die Bearbeitung von Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen des Inkasso-Service im Bereich des steuerlichen Kindergelds, also für sämtliche Rechtsbehelfsverfahren in Erhebungsangelegenheiten, lässt sich nach Auffassung des erkennenden Senats auch nicht auf die Organisationskompetenz der Bundesagentur für Arbeit stützen, die dem Bundeszentralamt für Steuern für die Durchführung des Familienleistungsausgleichs ihre Dienststellen als Familienkassen im Wege der Organleihe zur Verfügung stellt (so aber Urteil des FG Hamburg vom 27. Januar 2020 6 K 202/19, juris).
32
Vielmehr bedürfte es für eine Zuständigkeitskonzentration in sachlicher Hinsicht einer unmittelbaren gesetzlichen Regelung oder aber wenigstens einer Norm, die - wie § 17 Abs. 2 Sätze 3 und 4 FVG - zu einer entsprechenden Regelung ermächtigt (vgl. auch Wackerbeck in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/ FGO, § 16 AO Rz. 5; Drüen in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 16 Rz. 11 mit weiteren Nachweisen - m.w.N. -). Denn bei der Übertragung der Zuständigkeit für die Bearbeitung von Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen des Inkasso-Service auf die Familienkasse handelt es sich nicht um eine Regelung der internen Zuständigkeit innerhalb einer Behörde, die durch die Organisationsgewalt der Behörde gedeckt wäre. Dagegen spricht bereits, dass es sich bei den Familienkassen als solchen nach § 6 Abs. 2 Nr. 6 AO um eigenständige Finanzbehörden handelt. Abgesehen davon wäre dann auch nicht erklärlich, weshalb das FVG in § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 für die Befugnis des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit zu einer von den Bestimmungen der AO abweichenden Regelung der örtlichen Zuständigkeit einzelner Familienkassen, also einzelner Dienststellen der Bundesagentur für Arbeit, offensichtlich eine Regelung in Gesetzesform für notwendig erachtet und auch trifft. Von einer Regelungsbefugnis aufgrund eigener Organisationsgewalt ist abgesehen davon auch der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit selbst nicht ausgegangen, was er durch die Bezugnahme auf die Bestimmung des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG in den Vorstandsbeschlüssen, die (u.a.) die Übertragung der sachlichen Zuständigkeit auf die Familienkasse regeln, zu erkennen gegeben hat.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO. Es erschien als sachgerecht, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden (§ 90a FGO).
34
Die Revision war nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen. Die sachliche Zuständigkeit des Inkasso-Service und der Familienkasse für Entscheidungen im Erhebungsverfahren ist höchstrichterlich nicht abschließend geklärt.