Inhalt

SG München, Teilanerkenntnis- und Endurteil v. 23.07.2020 – S 15 KR 73/18
Titel:

Keine Familienversicherung bei privater Invaliditätsrente

Normenketten:
SGB IV § 10, § 16
EStG § 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 7, § 22 Nr. 1
VVG § 43 Abs. 3, § 44 Abs. 1
SGB X § 44, § 45
Leitsätze:
1. Zur Pfügung des Ermessens bei der Überprüfung von Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X.
2. Eine Invaliditätsversicherung ist als private Unfallversicherung beitragspflichtig.
1. Leistungen der privaten Unfallversicherung sind grundsätzlich steuerbare Einkünfte und begrenzen deshalb den Zugang zur Familienversicherung. (Rn. 44 – 50) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Aufhebung im Zugunstenverfahren scheidet nach Treu und Glauben aus, wenn nach der Rücknahme sofort ein neuer Aufhebungsbescheid erlassen werden müsste. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Gesetzliche Krankenversicherung, Familienversicherung, Tochter, Einkommensgrenze, private Unfallversicherung, Invaliditätsrente, Gesamteinkommen, Ertragsanteilsbesteuerung, Zugunstenentscheidung, Ermessen
Fundstelle:
BeckRS 2020, 18790

Tenor

I. Auf das Teilanerkenntnis der Beklagten vom 20.05.2020 wird die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 15.06.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.12.2017 verurteilt, den Bescheid vom 04.04.2017 insoweit zurückzunehmen, als dieser die Familienversicherung für die Klägerin zu 1. gem. Bescheid vom 13.07.2016 auch rückwirkend für den Zeitraum vom 01.08.2016 bis zum 30.04.2017 aufgehoben hat.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1
Streitig ist die (auch rückwirkende) Aufhebung der Familienversicherung der Klägerin zu 1.
2
Der Kläger zu 2. ist Vater und gesetzlicher Vertreter (Betreuer mit Einwilligungsvorbehalt) der 2001 geborenen Klägerin zu 1. Der Kläger zu 2. ist bei der Beklagten wegen Beschäftigung pflichtversichert und stellte am 06.07.2016 anlässlich des Wechsels der Krankenversicherung Antrag auf Familienversicherung für die Klägerin zu 1. Hierbei gab er eine bestehende Rentenzahlung an seine Tochter nicht an.
3
Mit Bescheid vom 13.07.2016 wurde das Bestehen einer Familienversicherung für die Klägerin zu 1. mit Wirkung ab August 2016 festgestellt.
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Der Beklagten wurde sodann am 16.01.2017 von der vormaligen Versicherung der Familie des Klägers zu 2., der C. Betriebskrankenkasse, mitgeteilt, dass die Klägerin zu 1. wegen eines bestehenden Rentenbezugs nicht familienversichert gewesen, sondern in die freiwillige Versicherung aufgenommen worden sei. Hiergegen habe der Kläger zu 2. Klage zum Sozialgericht München erhoben.
5
Mit Schreiben vom 02.02.2017 fragte die Beklagte sodann die Unterlagen bezüglich der Rentenzahlung an. Der Kläger zu 2. legte den Vertrag, den er bei der D. Versicherungs-Aktiengesellschaft (nunmehr: D.) abgeschlossen hat (Invaliditäts-Zusatzversorgung von Kindern), vor. Danach erhält die Klägerin zu 1. eine monatliche Rente von 825 € (Leistungszusage vom 04.08.2006).
6
Der Kläger führte am 08.02.2017 aus, dass es sich dabei um eine Unfallrente handeln würde, bezüglich derer seine Tochter versicherte Person und er Rentenbezieher sei. Die Beklagte bat daraufhin am 08.02.2017 um Vorlage von Steuerbescheiden, um die steuerliche Zuordnung der Rentenzahlung ersehen zu können. Die D. teilte der Beklagten mit, dass der Kläger zu 2. Versicherungsnehmer sei und die Versicherungsleistung für fremde Rechnung ausbezahlt erhalte. Er sei zur internen Weiterleitung an die Klägerin zu 1. verpflichtet. Die D. würde die Rente jährlich unter der Steuer-Identifikationsnummer der Klägerin zu 1. melden.
7
Der Kläger zu 2. legte zudem den Einkommensteuerbescheid vom 29.11.2016 für das Jahr 2015 vor, wonach die Rentenzahlung nicht als Einkünfte berücksichtigt worden ist.
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Am 03.04.2017 wurde der Kläger zu 2. telefonisch darüber angehört, dass eine rückwirkende Aufhebung des Bescheids, mit dem die Familienversicherung festgestellt worden ist, geplant sei.
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Mit Bescheid vom 04.04.2017 wurde die Familienversicherung für die Klägerin zu 1. rückwirkend mit Wirkung ab dem 01.08.2016 aufgehoben. Die monatlichen Einkünfte der Tochter aufgrund des Bezugs der privaten Unfallrente würden die jeweiligen Einkommensgrenzen der Familienversicherung in Höhe von 415 € für das Jahr 2016 und 425 € für das Jahr 2017 übersteigen. Da der Kläger zu 2. falsche Angaben zum Einkommen der Klägerin zu 1. gemacht habe, könne er sich nicht auf geschütztes Vertrauen berufen. Das öffentliche Interesse würde bezüglich der Rücknahme des Verwaltungsakts überwiegen, da die Leistungsausgaben durch die Beitragseinnahmen der Versichertengemeinschaft finanziert würden.
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Der Kläger zu 2. hat am 01.06.2017 Widerspruch erhoben, den die Beklagte aufgrund des Ablaufs der Widerspruchsfrist als Überprüfungsantrag auslegte. Mit Überprüfungsbescheid vom 15.06.2017 blieb die Beklagte bei ihrer Rechtsauffassung.
11
Der Kläger zu 2. erhob Widerspruch und führte aus, dass er vor dem Antrag alle Unterlagen zur Invaliditätsrente der Tochter dem Außendienst der Beklagten habe zukommen lassen. Invaliditätsrenten seien vom Rentenbegriff des Sozialgesetzbuches Fünftes Buch (SGB V) nicht umfasst.
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Nach Nichtabhilfeschreiben vom 04.07.2017 wurde der Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 18.12.2017 zurückgewiesen. Voraussetzung für eine Familienversicherung sei, dass die Familienangehörigen kein Gesamteinkommen hätten, das im Monat ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) überschreitet. Gesamteinkommen sei entsprechend § 16 SGB IV die Summe der Einkünfte im Sinne des Einkommensteuerrechts. Bei der versicherungsrechtlichen Prüfung auf Anspruch auf Familienversicherung sei der Zahlbetrag der privaten Rente zu Grunde zu legen (Verweis auf Urteil des Bundessozialgerichts vom 25.01.2006, Aktenzeichen B 12 KR 10/04 R).
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Die monatliche Invaliditätsrente an die Klägerin zu 1. von der D. sei monatliches Einkommen der Klägerin zu 1. und mit dem Zahlbetrag in Höhe von 825 € als Gesamteinkommen zu berücksichtigen.
14
Der Kläger zu 2. habe in seinem Antragsformular falsche Angaben gemacht und könne sich daher nicht auf schutzwürdiges Vertrauen berufen. Sein Hinweis, dass er die Beklagte bereits vor Antragstellung über die Einnahmen der Tochter informiert habe, sei nicht nachvollziehbar. Insoweit gehe der fehlende Beweis gemäß den Regeln der objektiven Beweislast zu seinen Lasten. Selbst wenn der behauptete Sachverhalt zu Grunde gelegt werde, ergebe sich nichts anderes, da im Versicherungsantrag explizit nach Rentenzahlungen gefragt worden sei. Bei der rückwirkenden Aufhebung für die Vergangenheit habe die Beklagte berücksichtigt, dass es sich bei der Bestätigung der Durchführung der Familienversicherung um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung handeln würde. Da die Versichertengemeinschaft diese fehlerhafte Entscheidung durch ihre Beiträge mitfinanziert, sei das öffentliche Interesse an der Rücknahme größer als bei einer einmaligen Regelung. Zudem dürfe die Solidargemeinschaft eine ordnungsgemäße Anwendung des geltenden Rechts erwarten.
15
Hiergegen ließ der Kläger am 18.01.2018 Klage zum Sozialgericht München erheben. Die Beklagte ginge von einem falschen Ausgangspunkt aus, indem sie die Invaliditätsleistung als Rentenbezug einstufen würde. Die Klägerin erhalte keine Rente aus privater Rentenversicherung, sondern eine privatvertraglich vereinbarte Invaliditätszusatzversorgung. Diese Leistung sei mit einer Rente nicht vergleichbar. Zudem unterfalle die Leistung der D. für die Klägerin zu 1. nicht den Einkünften nach § 22 Einkommensteuergesetz (EStG). Insbesondere würden keine Bezüge im Sinne von § 29 Einkommensteuergesetzverordnung vorliegen. Sie sei steuerfrei und gehöre damit nicht zum Gesamteinkommen nach §§ 10,16 SGB IV. Es sei schließlich grob unbillig, die Klägerin zu 1. anders zu stellen als jemanden, der nicht privat vorgesorgt habe. Eine solche Person sei beitragsfrei. Zudem würden mit der Zusatzleistung therapeutische Maßnahmen für die Klägerin zu 1. refinanziert, die die Beklagte nicht übernehmen würde (zum Beispiel physiomotorisches Reiten). Damit sei die streitgegenständliche Leistung einem Behindertenmehraufwand vergleichbar. Mit Schreiben vom 14.12.2018 des Klägers zu 2. wurde zudem auf die persönliche Situation der Klägerin zu 1. hingewiesen.
16
Die Kläger beantragen sachdienlich gefasst:
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Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 15.06.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.12.2017 verurteilt, den Bescheid vom 04.04.2017 zurückzunehmen.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Sie verweist auf ihre Widerspruchsbegründung.
20
Das Gericht hat mit richterlichen Hinweisen vom 12.06.2018 und vom 27.06.2018 darauf hingewiesen, dass es sich bei den Leistungen aus der privaten Invaliditäts-Zusatzversicherung um Zahlungen an den Versicherungsnehmer (Kläger zu 2.) und nicht um Rentenzahlungen an die versicherte Person handeln würde (vergleiche Ziffer 12 der D. AB IZV 2000). Hier sei auch abweichend von § 44 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) geregelt, dass die Rechte aus dem Vertrag dem Kläger zu 2. und nicht der Klägerin zu 1. zustehen würden. Auf die Vermutungsregelung von § 43 Abs. 3 VVG werde hingewiesen.
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Die Beklagte entgegnete am 21.06.2018, dass gemäß der vom Gericht zitierten AGB-Bestimmung zwar die Ausübung der Rechte aus dem Vertrag dem Kläger zu 2. zustehen würden. Jedoch sei der Kläger zu 2. zur internen Weiterleitung der Rente an die Klägerin zu 1. verpflichtet. Auch würde die D. die Rente steuerlich als Einnahmen der Klägerin zu 1. melden. Die Rente stehe daher der Klägerin zu 1. zu und sei entsprechend als ihre Einnahme anzurechnen.
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Daraufhin hat das Gericht bei der D. um Klärung des Sachverhalts gebeten. Mit Schreiben vom 29.08.2018 führte die D. aus, dass der Kläger zu 2. formell anspruchsberechtigt sei. Die Klägerin zu 1. habe keinen Rechtsanspruch gegenüber der D., da diese keine Vertragspartei sei. Gleichwohl sei die Klägerin zu 1. im Verhältnis zum Kläger zu 2. gemäß § 44 Abs. 1 VVG materiell berechtigt. Zwischen Vater und Tochter bestünde ein Treuhandverhältnis, das den Kläger zu 2. als Versicherungsnehmer, quasi als „Durchgangsperson“, verpflichten würde, die erhaltenen Versicherungsleistungen an die versicherte Person herauszugeben (Verweis auf Bruck/Möller, Kommentar zu VVG, 9. Aufl., § 179 Rn. 143 und 168). Im Innenverhältnis stehe die Leistung letztlich der Klägerin zu 1. zu. Die Meldung der Rente an die Zentrale Zulagenstelle für Altersvermögen (Finanzverwaltung) erfolge unter der Steuer-Identifikationsnummer der Klägerin zu 1.
23
In der mündlichen Verhandlung vom 16.01.2020 führte der Kläger zu 2. gegenüber dem Gericht aus, dass er alle zutreffenden Angaben bzgl. des Rentenbezugs der Tochter gegenüber dem Außendienstmitarbeiter der Beklagten, Herr E., gemacht habe. Dieses Vorbringen wurde sodann mit Schriftsatz vom 25.02.2020 unter Vorlage des E-Mail-Verkehrs mit Herrn E. belegt. Mit weiterem richterlichen Hinweis vom 23.04.2020 wurde der Kläger zu 2. um Vorlage des ursprünglichen Versicherungsvertrags mitsamt Versicherungsbedingungen sowie der Steuererklärungen 2016 und 2017 in Kopie zuzusenden. Die Beklagte wurde gebeten, substantiiert zur rückwirkenden Aufhebung des begünstigenden Bescheids Auskunft zu geben.
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Die Beklagte erklärte daraufhin mit Schreiben vom 20.05.2020 ein Teilanerkenntnis („wird nicht mehr [daran] festgehalten“) im Hinblick auf die begehrte Rücknahme des Bescheids vom 04.04.2017 für die Vergangenheit. Für die Zukunft bleibe es bei der Entscheidung. Ermessen sei ordnungsgemäß ausgeübt worden.
25
Wegen der weiteren Einzelheiten wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf den Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten sowie der Gerichtsakte des hiesigen Verfahrens Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

26
Eine Entscheidung ist im schriftlichen Verfahren (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG) möglich, da die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vom 16.01.2020 ihr Einverständnis gegeben haben.
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Die Klage ist zulässig. Insbesondere ist der Kläger zu 2. als Adressat der angegriffenen Verwaltungsakte aktivlegitimiert. Er ist auch materiell prozessführungsbefugt. Geklagt hat nicht alleine, wie nach § 10 SGB V vorgesehen, die Tochter des Klägers zu 2., sondern auch der Kläger zu 2. selbst. Dennoch ist die Klage nicht unzulässig. Die Prozessführungsbefugnis des Klägers lässt sich im vorliegenden Fall auf eine Ermächtigung (Prozessstandschaft) gründen. Es ist durch die Rechtsprechung des BSG anerkannt, dass der Stammversicherte aus eigenem Recht auf Feststellung klagen kann, ein bestimmter Familienangehöriger sei in die aus seiner Mitgliedschaft bei der Krankenkasse resultierende Familienversicherung einbezogen (BSGE 72, 292 = SozR 3-2500 § 10 Nr. 2). Der Stammversicherte ist rechtlich durch die Familienversicherung insoweit selbst betroffen, als er gegenüber unterhaltsberechtigten Kindern und gegenüber dem unterhaltsberechtigten Ehegatten einen Teil seiner Unterhaltspflicht, nämlich die Sorge für die finanzielle Sicherung im Krankheitsfall, durch die Familienversicherung erfüllt (BSG, Urteil vom 06. Februar 1997 - 3 RK 1/96 -, SozR 3-2500 § 33 Nr. 22, SozR 3-2500 § 10 Nr. 10, Rn. 14). Diese Grundsätze gelten dann aber entsprechend auch für den hier streitigen Bescheid, der die einmal gewährte Familienversicherung für die Klägerin zu 1. wieder aufhebt.
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Auch die Klägerin zu 1. ist prozessführungsbefugt, auch wenn sie selbst nicht unmittelbar Adressatin der angegriffenen Bescheide ist. Jedoch können auch Verwaltungsakte mit Drittwirkung angefochten werden (vgl. BSGE 70, 99, 100 ff = SozR 3-1500 § 54 Nr. 15 mwN). Die Klagebefugnis ist gegeben, wenn die geltend gemachten rechtlichen Interessen des Dritten vom Schutzzweck der dem Verwaltungsakt zugrundeliegenden Norm erfasst werden. Die von der Klägerin zu 1. als Kind eines Mitglieds der gesetzlichen Krankenversicherung geltend gemachte Familienversicherung dient in diesem Sinne auch ihren individuellen Interessen. Die Familienversicherung nach § 10 SGB V ist als eigene Versicherung des Familienangehörigen ausgestaltet (vgl BSGE 72, 292, 294 = SozR 3-2500 § 10 Nr. 2; USK 93109; BSG SozR 3-2500 § 10 Nr. 6; BSG SozR 3-5405 Art. 59 Nr. 1). Ihre Feststellung oder Ablehnung berührt daher unmittelbar eine eigene Rechtsposition des Familienangehörigen (BSG, Urteil vom 18. März 1999 - B 12 KR 8/98 R -, SozR 3-1500 § 78 Nr. 3, SozR 3-2500 § 10 Nr. 15, Rn. 12).
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Das Bundessozialgericht hält in der zitierten Entscheidung vom 18.03.1999 jedoch in einer solchen Konstellation wie dieser, in der die Bescheide bezüglich der Familienversicherung nur an den Stammversicherten, nicht aber an den Angehörigen selbst gerichtet wurden, die Nachholung eines Widerspruchsverfahrens als Sachurteilsvoraussetzung (§ 78 SGG) für erforderlich. Ein solches Vorverfahren ist bezogen auf die Klägerin zu 1. nicht durchgeführt worden. Entgegen der zitierten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts hält die erkennende Kammer die Durchführung eines solchen Widerspruchsverfahrens vorliegend aber für entbehrlich, da es sich hierbei nur um eine bloße Förmlichkeit handeln würde. Die Entscheidung wird nicht deshalb anders lauten, weil der Bescheid an die Klägerin zu 1. adressiert wird, da sich die zugrundeliegende rechtliche Problematik dadurch nicht ändert. Dem entspricht auch, dass bei notwendiger Streitgenossenschaft der Streitgenosse, der nicht Widerspruch eingelegt hat, als vertreten gilt und es daher ausreicht, wenn das Vorverfahren von einem Kläger durchgeführt worden ist (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, § 78 Rn. 4). Hätte alleine der Kläger zu 2. geklagt, wäre die Klägerin zu 1. notwendig beizuladen gewesen (Felix in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 10 SGB V, Rn. 56, unter Verweis auf BSG, Urteil vom 29. Juni 1993 - 12 RK 48/91 -, BSGE 72, 292-297, SozR 3-2500 § 10 Nr. 2), so dass das Urteil gegenüber dem Kläger zu 2. auch Bindungswirkung gegenüber der Klägerin zu 1. haben würde.
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Daher ist nach allem die Durchführung eines Vorverfahrens gegenüber der Klägerin zu 1. entbehrlich. Die Klage ist insgesamt zulässig. Die gesetzliche Vertretung der Klägerin zu 1. durch den Kläger zu 2. ergibt sich aus der Betreuungsanordnung mit Einwilligungsvorbehalt.
31
Die Klage ist nur im tenorierten Umfang begründet. Insoweit die Klage für den Zeitraum für die Vergangenheit (ex tunc) erfolgreich war, wird auf die Wiedergabe der Entscheidungsgründe gem. § 202 SGG in Verbindung mit §§ 307 S. 1, 313b Abs. 1 S. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) verzichtet.
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Die angegriffenen Bescheide sind im noch streiterheblichen Umfang bzgl. der Ablehnung einer Familienversicherung der Klägerin zu 1. mit Wirkung ab Mai 2017 rechtlich nicht zu beanstanden und beschweren die Kläger nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
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Mit Recht hat die Beklagte den Bescheid vom 13.07.2016 mit Bescheid vom 04.04.2017 in der Fassung des Teilanerkenntnisses vom 20.05.2020 gem. § 45 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) mit Wirkung ab dem 01.05.2017 zurückgenommen. Der Bescheid vom 04.04.2017 ist bindend geworden (§ 77 SGG). Er war auf den Überprüfungsantrag des Klägers, der Gegenstand des hiesigen Verfahrens ist, nur für den Zeitraum vom 01.08.2016 bis zum 30.04.2017 zurückzunehmen.
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§ 44 Abs. 1 SGB X bestimmt:
„Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.“
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Der angegriffene Bescheid nach § 45 SGB X vom 04.04.2017 ist nicht begünstigend, da er die Familienversicherung für die Klägerin zu 1. aufhebt. Wenn der Entzug der Leistung, der auf § 45 SGB X oder auf § 48 SGB X gestützt wurde - etwa wegen Missachtung des Vertrauensschutzes - rechtswidrig war, ist der Aufhebungsbescheid seinerseits (gem. § 44 SGB X) zurückzunehmen (vgl. Baumeister in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 44 SGB X, Rn. 73). Die Aufhebungsentscheidung führt zu einer Beitragspflicht der Klägerin zu 1., so dass - bei Rechtswidrigkeit des aufhebenden Verwaltungsaktes - Beiträge zu Unrecht erhoben werden würden.
36
Jedoch scheidet eine Aufhebung in Anwendung des § 44 SGB X dann nach Treu und Glauben aus, wenn nach der Rücknahme des Aufhebungsbescheids sofort ein neuer Aufhebungsbescheid erlassen werden müsste (Baumeister in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 44 SGB X, Rn. 73). Insbesondere darf ein Betroffener nicht über § 44 SGB X die (Wieder-) Einräumung einer ihm materiell nicht zustehenden Position erlangen (s. BSG SozR 1300 § 44 Nr. 38 Ls. 2). Dementsprechend besteht weitgehend Einigkeit, dass Verstöße gegen die Anhörungspflicht (BSG SozR 1200 § 34 Nr. 18; SozR 3 - 1300 § 44 Nr. 21 S. 45) oder reine Formverstöße (BSG SozR 3 - 1300 aaO; sa § 42) im Rahmen des § 44 SGB X unbeachtlich sind (Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 22. April 2015 - L 8 AS 764/13 -, Rn. 63, juris). Strittig ist insoweit jedoch, inwieweit die besonderen formalen Voraussetzungen von § 45 SGB X - Einhaltung der Erkenntnisfrist (§ 45 Abs. 4 S. 2 SGB X) sowie eine ordnungsgemäße Ermessensausübung (§ 45 Abs. 1 SGB X) insoweit zum materiellen Recht zu zählen sind (vgl. hierzu Baumeister in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 44 SGB X, Rn. 108-110).
37
Die Kammer ist hierbei der Auffassung, dass ein Bescheid nach § 45 SGB X dann nach Treu und Glauben nicht nach § 44 SGB X aufgehoben werden kann, wenn alleine Ermessensfehler zu seiner Aufhebung hätten führen müssen. Denn andernfalls würde der Versicherte eine stärkere Rechtsposition erlangen, als wenn er das Widerspruchsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt hätte. Die Widerspruchsbehörde hätte im letzteren Fall nämlich Gelegenheit gehabt, ein ordnungsgemäßes Ermessen auszuüben. Diese Möglichkeit ist ihr hingegen im Überprüfungsverfahren verwehrt, da Gegenstand der Überprüfung alleine der bestandskräftige Rücknahmebescheid - und insoweit nur dessen Ermessensbegründung - sein kann.
38
Zu prüfen sind daher alleine die Rechtmäßigkeit der Ausgangsentscheidung zum Zeitpunkt ihrer Bekanntgabe, der Vertrauensschutz sowie die Einhaltung der Rücknahmefristen.
39
Nach diesem Maßstab ist die Rücknahmeentscheidung im noch streitbefangenen Umfang nicht rechtsfehlerhaft.
40
Zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheids vom 13.07.2016 war dieser objektiv rechtswidrig. Eine Versicherung in der Familienversicherung schied aus, da die Klägerin zu 1. Einkünfte hatte, die die jeweiligen Einkommensgrenzen der Familienversicherung in Höhe von 415 € für das Jahr 2016 und 425 € für das Jahr 2017 übersteigen. Insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen des Widerspruchsbescheids verwiesen, § 136 SGG.
41
Insbesondere ist die Unfallrente in Höhe von 825 € als Einkommen der Tochter (Klägerin zu 1.) zu werten, auch wenn der Kläger zu 2. Versicherungsnehmer ist. Die Ausführungen der D. vom 29.08.2018 sind insoweit rechtlich zutreffend. Aufgrund des Treuhandverhältnisses zwischen der Klägerin zu 1. und dem Kläger zu 2. ist der Kläger zu 2. verpflichtet, die Rente an die Klägerin zu 1. auszukehren (vgl. Leverenz in: Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl. 2010, § 179 Versicherte Person, Rn. 168 mit vielen Nachweisen aus der Rechtsprechung), so dass diese materiell-rechtlich begünstigt ist.
42
Zur Frage der Beitragsrelevanz der Invaliditätsrente der Klägerin zu 1. gilt ergänzend folgendes:
43
Voraussetzung für eine Familienversicherung ist, dass die Familienangehörigen kein Gesamteinkommen haben, das im Monat ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV überschreitet.
44
Gesamteinkommen ist entsprechend § 16 SGB IV die Summe der Einkünfte im Sinne des Einkommensteuerrechts. Der Einkommensteuer unterliegen sonstige Einkünfte im Sinne des § 22 EStG (§ 1 Abs. 1 Nr. 7 EStG). Zu den als sonstige Einkünfte i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7, 22 Nr. 1 EStG bei der Ermittlung des Gesamteinkommens zu berücksichtigenden Einkünften gehören alle wiederkehrenden Bezüge, soweit sie nicht zu den anderen Einkunftsarten i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 1-6 EStG gehören (§ 22 Nr. 1 Satz 1 EStG).
45
Streitig ist vorliegend die Rechtsnatur der Invaliditätsrente der Tochter des Klägers. Gem. dem Nachtrag zur Invaliditäts-Zusatzversorgung (undatiert, Beklagtenakte unpaginiert) liegt ein Versicherungsschutz bei Invalidität durch Krankheit und Unfall vor. Es besteht Anspruch auf eine lebenslange Monatsrente in Höhe von 825 €, solange ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 besteht.
46
Die Kammer geht von einer Besteuerung nach dem Ertragsanteil aus (§ 22 Abs. 1 Nr. 1 S. 3 lit. a bb. EStG). Die Kommentarliteratur führt hierzu aus:
„Die Ertragsanteilsbesteuerung gilt für diejenigen Leibrenten und anderen Leistungen, die sich als verzinsliche Auszahlung/Rückzahlung v. eigenem Kapital darstellen und die nicht unter Nr. 1 S. 3 lit. a aa) (Rn. 36 ff.) oder Nr. 5 (Rn. 48 ff.) einzuordnen sind, insbes. für Renten, „die durch den Einsatz v. ausschließlich versteuertem Einkommen erworben wurden“. Sie gilt ferner für abgekürzte Leibrenten, die nicht unter Nr. 1 S. 3 lit. a aa) fallen (zB Rente aus einer privaten Unfallversicherung,12) private selbständige Erwerbsminderungsrente, Waisenrente aus einer privaten Versicherung, die die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Nr. 2 S. 1 lit. b nicht erfüllt), sowie bei Anwendung der Öffnungsklausel (Rn. 47). Die Renten, die nicht zur Basisversorgung (§ 10 Abs. 1 Nr. 2 S. 1 lit. a, b; § 22 Nr. 1 S. 3 lit. a aa) S. 1, ggf. iVm. § 55 Abs. 2 EStDV) gehören und Einkünfte aus Erträgen des Rentenrechts enthalten (was nicht der Fall ist zB bei Schadensersatzrenten13); Rn. 7), werden mit neuen - abgesenkten (Rechnungszinsfuß 3%) - Ertragsanteilen besteuert.1) Die neuen Ertragsanteile gelten auch für Renten, deren Beginn vor dem 1.1.2005 liegt.“ (Fischer in: Kirchhof, Einkommensteuergesetz, 19. Aufl. 2020, § 22 EStG, Rn. 46)
47
Die Invaliditätsrente ist als Unfallrente mithin eine Leibrente i. S. d. § 22 Nr. 1 S. 3 lit. a bb) EStG. Demgemäß ist die Invaliditätsrente gem. S. 3 Nr. a) bb) steuerpflichtig:
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Der private steuerbare Zinsanteil ist bei Leibrenten iSd. § 22 Nr. 1 S. 3 lit. a bb) im Ertragsanteil (Nr. 1 S. 2 lit. a) gesetzlich pauschaliert. (Fischer in: Kirchhof, Einkommensteuergesetz, 19. Aufl. 2020, § 22 EStG, Rn. 5). Die Rente wurde erstmals mit Wirkung ab dem 01.07.2006 ausgezahlt. Die Tochter des Klägers hatte daher das vierte Lebensjahr vollendet. Das Gesetz geht dann von einem Ertragsanteil von 57% aus. Dies bedeutet einen steuerpflichtigen Ertragsanteil bei einer Rente in Höhe von 850 € in Höhe von 484,50 €.
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Hieraus folgt die grundsätzliche Steuerbarkeit der Renteneinkünfte er Klägerin zu 1. gem. § 22 Abs. 1 S. 3 Nr. a) bb) EStG aufgrund lebenslanger (nicht auf bestimmte Zeit beschränkter) Bezugsdauer. Für eine Steuerfreiheit nach § 3 EStG fehlt jeder Anhaltspunkt. Ein Umkehrschluss zur Steuerfreiheit der gesetzlichen Unfallversicherung kann nicht gezogen werden, da das Steuerrecht abschließende Tatbestände der Steuerfreiheit normiert.
50
Gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 HS. 2 SGB V wird bei Renten der Zahlbetrag berücksichtigt; dies gilt auch für Versorgungsbezüge. Die in Nr. 5 vorgesehene grundsätzliche Verweisung auf das Steuerrecht ist durch dessen HS. 2 außer Kraft gesetzt (Felix in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl., § 10 SGB V (Stand: 14.01.2020), Rn. 43). Renten im Sinne der Norm sind nicht nur Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung; bei der Ermittlung des Gesamteinkommens werden auch Rentenleistungen aus einer privaten Lebensversicherung berücksichtigt. Das BSG hat jüngst erneut festgestellt, dass der Begriff der Rente weit auszulegen ist (BSG v. 29.06.2016 - B 12 KR 1/15 R). Auch eine Halbwaisenrente von der Versorgungseinrichtung einer Ärztekammer ist daher mit dem Zahlbetrag anzusetzen (BSG v. 29.06.2016 - B 12 KR 1/15 R - juris Rn. 19). Der Gesetzgeber hat bei Massenerscheinungen wie der Familienversicherung einen entsprechenden Gestaltungsspielraum und darf dabei typisieren; Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht verletzt (BSG v. 29.06.2016 - B 12 KR 1/15 R - juris Rn. 20 ff., zitiert nach: Felix in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl., § 10 SGB V (Stand: 14.01.2020), Rn. 43 f.).
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Auch der Ansatz des Zahlbetrags ist daher nicht zu beanstanden.
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Schließlich hat die Beklagte auch die Frist von § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X eingehalten. Die zuständige Behörde muss die Rücknahme innerhalb von einem Jahr nach Kenntnis der Tatsachen verfügen, die zur Rücknahme berechtigen (Padé in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 45 SGB X (Stand: 08.06.2020), Rn. 110). Der Beklagten wurde am 16.01.2017 von der vormaligen Versicherung der Familie des Klägers zu 2., der C. Betriebskrankenkasse, mitgeteilt, dass die Klägerin zu 1. wegen eines bestehenden Rentenbezugs nicht familienversichert gewesen, sondern in die freiwillige Versicherung aufgenommen worden sei. Am 02.02.2017 begann die Beklagte die Ermittlungen bzgl. der Invaliditätsrente durch entsprechendes Auskunftsbegehren gegenüber dem Kläger zu 2. Bereits am 04.04.2017 nach telefonischer Anhörung am Vortag, d.h. weit innerhalb der Jahresfrist, wurde der Bescheid vom 13.07.2016 zurückgenommen.
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Wie oben dargelegt, kommt es auf ordnungsgemäße Ermessensausführungen der Ausgangsbehörde im Überprüfungsverfahren nicht an.
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Nach allem war die Klage im noch streitigen Umfang abzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG und berücksichtigt, dass die Beklagte weit überwiegend erfolgreich war.