VG Augsburg, Beschluss v. 19.06.2020 – Au 9 S 20.847
Titel:

Lebensmittelrechtliche Anordnung des öffentlichen Rückrufs

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
LFGB § 2 Abs. 2, § 39 Abs. 2 S. 2
VO (EG) 178/2002 Art. 2, Art. 14 Abs. 2, Art. 19 Abs. 1
Leitsätze:
1. Bei „Nicopods“ handelt es sich voraussichtlich um „Lebensmittel“ i.S.d. Art. 2 VO (EG) 178/2002, für die nach § 2 Abs. 2 LFGB auch für das nationale Lebensmittelrecht gilt. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
2.. Bei der Anordnung von Maßnahmen nach § 39 Abs. 2 LFGB hat die Behörde zwar kein Entscheidungsermessen, aber ein Auswahlermessen. Deshalb muss sie nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden , welche von verschiedenen zulässigen Maßnahmen sie trifft. (Rn. 51) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, Lebensmittelrechtliche Anordnung des öffentlichen Rückrufs, unionsrechtlicher Lebensmittelbegriff, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Arzt, Auswahlentscheidung, Ermessen, Lebensmittel, Lebensmittelsicherheit, Unanfechtbarkeit, Verbraucher, Verwaltungsakt, sofortige Vollziehbarkeit, öffentlicher Rückruf, Lebensmittelbegriff
Fundstellen:
ZLR 2021, 136
LSK 2020, 18708
BeckRS 2020, 18708
LMuR 2021, 129

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 12. Mai 2020 wird wiederhergestellt.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 15.000,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin wendet sich im Wege einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Anordnung des Rückrufs für das von ihr vertriebene Produkt.
2
Die Antragstellerin ist Händlerin und Importeurin von Tabakprodukten und anderen nikotinhaltigen Erzeugnissen. Im Juni 2019 nahm die Antragstellerin den Vertrieb von sog. „Nicopods“ in ihr Sortiment auf. Dabei handelt es sich um Zellstoffbeutel mit einer Länge von ca. 3,2 cm und einer Breite von ca. 1,3 cm, die mit einer nicht näher identifizierbaren nikotinhaltigen Pflanzenmischung gefüllt sind und in einer Kunststoffdose verkauft werden. Die „Nicopods“ sind für den oralen Gebrauch bestimmt und werden nach Angaben der Antragstellerin zwischen Oberlippe und Zahnfleisch geklemmt und einige Zeit im Mund behalten, bevor sie unzerkaut wieder ausgespuckt werden. Dabei wird das Nikotin sowohl über die Mundschleimhäute als auch mit dem Speichel über den Magen aufgenommen. Die sog. „Nicopods“ werden in der Regel in Tabakgeschäften und Tankstellen zusammen mit anderen tabak- und nikotinhaltigen Produkten verkauft. Auf der Rückseite der Verpackungsdose der „Nicopods“ mit der Bezeichnung „ace. SUPERWHITE slim cool mint“ sind folgende Angaben und Warnhinweise angebracht: „ACHTUNG! Gesundheitsschädlich bei Verschlucken. Nach Gebrauch Hände gründlich waschen. Bei VERSCHLUCKEN: Bei Unwohlsein GIFTINFORMATIONSZENTRUM oder Arzt anrufen. Mund ausspülen. Inhalt/Behältnis gemäß lokalen/nationalen Vorschriften der Entsorgung zuführen. Darf nicht in die Hände von Kindern gelangen“. Neben den Warnhinweisen ist ein rotes Warnsymbol mit Ausrufezeichen sowie die Angaben „+ 18“ vorhanden.
3
Bei einem gemeinsamen Treffen am 23. April 2019 wurde die Antragsgegnerin von der Antragstellerin über die beabsichtigte Markteinführung von „ace. SUPERWHITE slim cool mint“ informiert. Im Nachgang zu dem Treffen übersandte die Antragstellerin der Antragsgegnerin ein rechtliches Gutachten der Rechtsanwaltskanzlei ... vom 14. Mai 2019, in dem ein ähnliches Produkt nicht als Lebensmittel im Sinne der VO (EG) 178/2002, sondern als ein Verbrauchsprodukt eingestuft wird.
4
Mit Stellungnahme des Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (im Folgenden: LGL) vom 23. April 2020 wurde das Produkt „ace. SUPERWHITE slim cool mint“ als nicht sicheres Lebensmittel im Sinn der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Feststellung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (VO (EG) 178/2002) eingestuft. Da das Erzeugnis zur oralen Aufnahme durch den Menschen bestimmt sei, handele es sich um ein Lebensmittel im Sinn des § 2 Abs. 2 Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände und Futtermittelgesetzbuch (LFGB) i.V.m. Art. 2 der VO (EG) 178/2002. Danach seien Lebensmittel alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt seien oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden könne, dass sie in verarbeitetem, teilweise verarbeitetem oder in unverarbeitetem Zustand von Menschen aufgenommen werden. Wegen des Fehlens von Tabak könne des Produkt auch nicht als Tabak zum oralen Gebrauch, der in Deutschland gemäß § 11 Tabakerzeugnisgesetz (TabakerzG) nicht in Verkehr gebracht werden dürfe, eingestuft werden. Wegen des Fehlens von Tabak bzw. Konsumation ohne Verbrennungsprozess lasse sich das vorliegende Zeugnis auch nicht als neuartiges Tabakerzeugnis bzw. pflanzliches Raucherzeugnis einstufen. Das Produkt enthalte zwar Nikotin, einen der wesentlichen Inhaltsstoffe von Tabak, jedoch keinen Tabak selbst und werde oral konsumiert und nicht geraucht. Somit falle das Erzeugnis nicht in den Anwendungsbereich des Tabakrechts. Nach der durchgeführten toxikologischen Bewertung überschreite die bei oraler Aufnahme eines Portionsbeutels resultierende akute Nikotin-Dosis in Höhe von 0,029 mg/kg, 0,070 mg/kg oder 0,140 mg/kg (bei Annahme einer Nikotinfreisetzung von 20%, 50% oder 100%) den von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) für den kritischen Endpunkt abgeleiteten ARfD-Wert jeweils erheblich. Damit sei davon auszugehen, dass das Produkt zu einer Schädigung der Gesundheit des Verbrauchers führen könne.
5
Am 24. April 2020 wurde die Antragstellerin von dem Ergebnis der Stellungnahme des LGL informiert und auf die Erforderlichkeit eines Rückrufs des streitgegenständlichen Produkts hingewiesen. Die Antragstellerin sperrte nach ihren Angaben sofort den Lagerbestand und teilte dies der Antragsgegnerin mit.
6
Mit E-Mail vom 24. April 2020 leitete die Antragsgegnerin dem LGL das rechtliche Gutachten der Rechtsanwaltskanzlei ... vom 14. Mai 2019 weiter und bat um eine ergänzende Stellungnahme zu der Frage der Lebensmitteleigenschaft des streitgegenständlichen Produkts.
7
Mit Stellungnahme vom 8. Mai 2020 nahm das LGL erneut zu der Frage der Lebensmitteleigenschaft des streitgegenständlichen Produkts Stellung und wies ausdrücklich darauf hin, dass es sich bei dem im rechtlichen Gutachten beurteilten Produkt nicht um das streitgegenständliche Produkt „ace. SUPERWHITE slim cool mint“ handele. Es wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Begriff der „Aufnahme“ im Sinne der VO (EG) 178/2002 nicht mit der im LFGB enthaltenen Definition von „Verzehr“ gleichgestellt werden könne. Der europäische Gesetzgeber habe sich bei der Begriffsdefinition „Lebensmittel“ im Sinn des Art. 2 VO (EG) 178/2002 an eine Legaldefinition für Lebensmittel des Codex-Alimentarius orientiert. Dies werde aus dem Grünbuch der Kommission „allgemeine Grundsätze des Lebensmittelrechts in der Europäischen Union“ vom 30. April 1997 deutlich, das als Diskussionsgrundlage zur Erstellung der Verordnung gedient habe. Aus den Ausführungen des Grünbuchs der Kommission werde ersichtlich, dass die Begrifflichkeit „Aufnahme durch den Menschen“ bewusst in einem breiten Kontext angelegt worden sei und somit nicht nur auf die Stoffe, die den Magen-Darm-Trakt durchliefen, beschränkt sei, sondern auch Stoffe/Erzeugnisse erfasse, die durch Mund oder Nase eingenommen würden. Es seien auch Stoffe erfasst, die nicht verzehrt werden. Die Einbeziehung solcher Stoffe in den Lebensmittelbegriff sei auch nach dem Schutzzweck der Verordnung (EG) 178/2002 geboten. Schließlich sei eine Begriffsbestimmung des nationalen Gesetzgebers (hier „Verzehren“ im Sinne des LFGB) grundsätzlich nicht geeignet, die festgelegte Begriffsbestimmung einer EU-Verordnung in deren vorgesehenem Regelungsgehalt einzuschränken. Für die Begriffsdefinition eines Lebensmittels im Sinne der Verordnung sei daher nicht notwendig, dass die im Mund aufgenommenen Stoffe dem Magen zugeführt werden müssten. Für die Einstufung des Erzeugnisses spiele auch keine Rolle, wie hoch der Nikotinanteil sei, der aus dem geschluckten nikotinhaltigen Speichel durch die Magenschleimhaut resorbiert werde. Auch die Resorptionsrate von Lebensmittelinhaltsstoffen sei je nach Stoff, Bindungsart und Lebensmittel sehr unterschiedlich. Die vorgenannten Aspekte könnten dahinstehen, da der weit gefasste Begriff des „Aufnehmen durch den Menschen“ in der Definition für Lebensmittel sowohl die Aufnahme im Mund durch die Mundschleimhaut, als auch die Aufnahme der verschluckten Anteile über die Magenschleimhaut einschließe.
8
Am 8. Mai 2020 nahm die Antragstellerin zu der beabsichtigten Rückrufanordnung Stellung und verwies auf die aus ihrer Sicht fehlende Lebensmitteleigenschaft des streitgegenständlichen Produkts sowie auf die Unverhältnismäßigkeit einer Rückrufanordnung für den konkreten Einzelfall.
9
Mit Bescheid vom 12. Mai 2020 wurde der Antragstellerin aufgegeben, das Produkt „ace. SUPERWHITE, cool mint“ des Herstellers ... unverzüglich nach den gesetzlichen Vorgaben zurückzurufen (Ziffer I.). In Ziffer II. wurde für diese Anordnung die sofortige Vollziehung angeordnet. Für den Fall, dass die Antragstellerin der Aufforderung nicht nachkommt, wurde in Ziffer III. des Bescheids angekündigt, dass die für die Information der Öffentlichkeit zuständige Behörde - hier das Bayerische Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz - informiert werde. Nach Ziffer IV. sind die Gutachten des LGL vom 23. April 2020 und 8. Mai 2020 Bestandteil des Bescheids.
10
Zur Begründung der Entscheidung wird ausgeführt, nach § 39 Abs. 2 Sätze 1 und 2 Nr. 4 LFGB könnten die zuständigen Behörden insbesondere eine Maßnahme überwachen oder, falls erforderlich, eine Anordnung treffen, mit der verhindert werden solle, dass ein Erzeugnis, das den Verbraucher noch nicht erreicht habe, auch durch andere Wirtschaftsbeteiligte nicht weiter in den Verkehr gebracht werde (Rücknahme), oder die auf die Rückgabe eines in den Verkehr gebrachten Erzeugnisses abziele, das den Verbraucher oder den Verwender bereits erreicht habe oder erreicht haben könnte (Rückruf). Nach Art. 2 der VO (EG) 178/2002 seien „Lebensmittel“ alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt seien oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden könne, dass sie in verarbeitetem, teilweise verarbeitetem oder unverarbeitetem Zustand von Menschen aufgenommen werden. Nach Art. 14 der VO (EG) 178/2002 dürften Lebensmittel, die nicht sicher seien, nicht in Verkehr gebracht werden. Lebensmittel würden als nicht sicher gelten, wenn davon auszugehen sei, dass sie gesundheitsschädlich seien. Aus dem amtlichen Gutachten des LGL vom 23. April 2020 ergebe sich eindeutig, dass es sich bei dem Erzeugnis „ace. SUPERWHITE, cool mint“ um ein Lebensmittel im Sinne der Verordnung handele. Ferner ergebe die toxikologische Risikobewertung der Behörde, dass aufgrund des Nikotingehalts das Produkt als gesundheitsschädlich und damit als nicht sicher im Sinne der Verordnung beurteilt werde. Hinsichtlich der ausführlichen Begründung werde auf die Ausführungen des LGL verwiesen. Aus diesen Gründen müsse das Erzeugnis durch die Antragstellerin unverzüglich gemäß Art. 19 VO (EG) 178/2002 zurückgerufen werden. Hinsichtlich der seitens der Antragstellerin vorgebrachten Argumente sei auszuführen, dass das Gutachten des LGL als Fachbehörde schlüssig und nachvollziehbar sei. Auch das Bayerische Verbraucherschutzministerium teile ausdrücklich diese Auffassung. Die Aufforderung, das Produkt zurückzurufen, sei auch verhältnismäßig. Aus den Ausführungen des LGL gehe hervor, dass es sich um ein gesundheitsschädliches Lebensmittel handele. Der Bestandteil Nikotin besitze eine hohe akute Toxizität. Das vorliegende Produkt könne zu einer Schädigung der Gesundheit des Verbrauchers führen. Aus diesen Gründen sei ein umgehender öffentlicher Rückruf unerlässlich. Die sofortige Vollziehbarkeit der Ziffer I. des Bescheids sei angeordnet worden, da ein vordringliches öffentliches Interesse daran bestehe, dass das betroffene Produkt nicht mehr zu den Verbrauchern gelange. Ein Zuwarten bis zur Unanfechtbarkeit der Entscheidung wäre im Sinne des vorbeugenden Verbraucherschutzes nicht vertretbar, da es sich um ein gesundheitsschädliches Lebensmittel handele.
11
Mit Schriftsatz vom 18. Mai 2020 erhob die Antragstellerin Klage gegen den vorbezeichneten Bescheid mit dem Antrag, den Bescheid vom 12. Mai 2020 aufzuheben (Az.: Au 9 K 20.846). Über die vorbezeichnete Klage ist noch nicht entschieden.
12
Ebenfalls mit Schriftsatz vom 18. Mai 2020 hat die Antragstellerin im Wege vorläufigen Rechtsschutzes beantragt,
13
die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 12. Mai 2020 wiederherzustellen.
14
Die Bevollmächtigten der Antragstellerin führen im Wesentlichen aus, die Anfechtungsklage der Antragstellerin werde aller Voraussicht nach Erfolg haben. Der Bescheid sei offensichtlich rechtswidrig und verletze die Rechte der Antragstellerin. Die Voraussetzungen für eine Anordnung nach § 39 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 Nr. 4 LFGB i.V.m. Art. 19 Abs. 1 und 2 VO (EG) 178/2002 seien vorliegend nicht erfüllt. Die streitgegenständlichen „Nicopods“ seien keine Lebensmittel im Sinne der Verordnung, denn sie seien weder dazu bestimmt, von Menschen aufgenommen zu werden, noch sei nach vernünftigem Ermessen eine Aufnahme dieses Produkts zu erwarten. Das gelte selbstredend für den eigentlichen Beutel, der nur in die Wangentasche gelegt und nach Gebrauch ausgespuckt werde, als auch für den wesentlichen Inhaltsstoff Nikotin, der sich in der Wangentasche löse und über die Mundschleimhaut resorbiert werde. Eine derartige Resorption sei keine „Aufnahme“ durch den Menschen. Der Begriff „Aufnahme“ werde in der VO (EG) 178/2002 nicht definiert, aber letztendlich gleichbedeutend mit dem Begriff „Verzehr“ verwendet, wie z. B. in Art. 8 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 Buchst. b) und Abs. 5, Art. 15 Abs. 2 der VO (EG) 178/2002 deutlich werde. Der Begriff „Verzehren“ werde in § 3 Nr. 5 LFGB definiert und beschreibe „das Aufnehmen von Lebensmitteln durch den Menschen durch Essen, Kauen, Trinken sowie durch jede sonstige Zufuhr von Stoffen in den Magen“. Nicht erfasst seien deshalb alle Stoffe, die in den Körper eingerieben, eingespritzt oder eingeatmet werden, ohne dem Magen zugeführt zu werden, wie der Gesetzgeber selbst in der amtlichen Begründung des LFGB ausführe. Dies entspreche auch der herrschenden Literaturansicht zum Lebensmittelbegriff der Verordnung. Zwar sei der Tatbestand des Lebensmittels in Art. 2 VO (EG) 178/2002 bewusst weit gefasst. Doch selbst wenn er bei einem weiteren Verständnis insoweit über den Verzehr im Sinne eines Essens hinausgehen und dementsprechend auch andere Nahrungsaufnahme, wie über eine Magensonde, erfassen wollte, zielten doch nach h. M. sämtliche Formen der Aufnahme auf die Verdauung über den Magen-Darm-Trakt. Stoffe, die transdermal, z.B. über die Mundschleimhaut absorbiert würden, seien dem entsprechend keine Lebensmittel, weil keine Aufnahme der relevanten Stoffe über den Magen erfolge. Das belege auch gerade der vom LGL in seiner Stellungnahme vom 8. Mai 2020 hervorgehobene Umstand, dass sich die EU-Kommission bei ihrem Vorschlag für eine neue Lebensmitteldefinition auf der Basis der Verordnung an der damals bereits international vorhandenen Definition im Codex Alimentarius orientiert habe. Dort werde das Wort „Verzehr“ (englisch „consumption“) ausdrücklich verwendet. Die EU-Kommission habe in ihrem Grünbuch vor Erlass der Verordnung ausgeführt, dass es um die Zuführung von Stoffen zum Magen-Darm-Trakt gehe. Insoweit sprächen gerade die vom LGL angeführten Hintergründe der Verordnungsentstehung gegen eine uferlose Auslegung des Begriffs „Aufnahme“. Weder das LFGB noch die Verordnung würden im Lebensmittelbegriff einen Auffangtatbestand für alle nicht anderweitig speziell geregelten Zuführungen von Stoffen in den Körper sehen. Schon die Verkaufsweise in Tabakläden und -abteilungen, die Präsentation, die Anwendungshinweise und das Produkt selbst ließen es fernliegend erscheinen, dass ein Verbraucher auf die Idee kommen könnte, er würde ein Lebensmittel erwerben oder das Produkt sei zum Verzehr oder zu einer wie auch immer gearteten Aufnahme über den Magen-Darm-Trakt bestimmt. Der im vorliegenden Produkt enthaltene prägende Stoff „Nikotin“ werde vom Durchschnittsverbraucher weder als Nährstoff noch als sonstiger Stoff mit ernährungsspezifischer Wirkung, noch als sonst in Lebensmitteln zu anderen Zwecken (Aroma, technologischer Zusatzstoff) verwendeter Stoff angesehen. Die weiteren enthaltenen Stoffe (Aromen, Zusatzstoffe) würden multipel verwendet (zum Beispiel in Kosmetika, Arzneimittel und anderen Produkten). Sie würden außerdem einen untergeordneten Anteil des Produkts einnehmen. Im Rahmen der stofflichen Einstufungsentscheidung müsse in diesem Falle dem Nikotin die maßgebliche Bedeutung beigemessen werden. Die allgemeine Zweckbestimmung des Produkts ergebe daher keine Lebensmitteleigenschaft. Im Rahmen der konkreten Zweckbestimmung sei zu beachten, dass dieses Produkt gerade nicht für einen Verzehr bzw. für eine Aufnahme über den Magen bestimmt sei, sondern als transdermales Absorptionsprodukt. Die Stoffmischung des Produkts sei mit einem Zellstoffbeutel umhüllt, dem sogenannten „Pouch“. Dieser Beutel werde weder als Ganzes, noch werde seine Füllung verschluckt. Sein Inhalt diene als Trägerstoff für das enthaltene Nikotin, das über die Mundschleimhäute aufgenommen werde und so direkt in den Blutkreislauf gelange. Es müsse auch nicht nach vernünftigem Ermessen mit einer Verwendung als Lebensmittel gerechnet werden. Insbesondere lasse bereits durch den Zellstoffbeutel das äußere Erscheinungsbild auch für Menschen, die nicht mit dem Produkt bekannt seien, nicht den Schluss zu, dass dieses zum Verzehr vorgesehen sei. Auch die Tatsache, dass das enthaltene Nikotin zunächst durch den Speichel gelöst werde, bevor es von den Wangenschleimhäuten aufgenommen werden könne, rechtfertige keine andere Betrachtungsweise. Der Speichel diene hier in erster Linie als Lösungsmittel, um eine Aufnahme der nikotinhaltigen Stoffmischungen über die Wangenschleimhaut zu ermöglichen. Es sei gerade nicht Sinn und Zweck des Produkts, einen übermäßigen Speichelfluss durch Kauen und das Herunterschlucken des Speichels mit den im Produkt enthaltenen Stoffen anzuregen. Es liege damit kein Lebensmittel vor, sodass die Verfügung nach Art. 19 VO (EG) 178/2002 einer tatbestandlichen Grundlage entbehre. Da das nikotinhaltige Produkt vom Verbraucher häufig als Alternative zu Tabakprodukten gesehen werde, solle es auch als ein solches behandelt werden. Wegen fehlender Regulierung durch das Tabakerzeugnisgesetz, müsse das Produkt nach den Regelungen des Produktsicherheitsgesetzes beurteilt werden. Die Rückrufanordnung sei überdies unverhältnismäßig. Nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 VO (EG) 178/2002 wäre ein Rückruf dann geboten, wenn andere Maßnahmen zur Erzielung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus nicht ausreichten. Rücknahme und erst recht öffentlicher Rückruf sei eine Ultima Ratio. Die Hürde für einen derart weitreichenden Eingriff in die Unternehmerrechte sei nicht erreicht. Das vermeintliche Lebensmittel weise einen Nikotingehalt auf, der dem von legalen Tabakerzeugnissen wie Kautabak oder verwandten Erzeugnissen wie die Zigaretten entspreche, sodass ein ausreichender und gleichwertiger Gesundheitsschutz jedenfalls durch Hinweise erreicht werden könne, wie sie zum Beispiel für die Zigaretten nach der CLP-VO vorgesehen seien. Es gebe keine konkreten Hinweise darauf, dass trotz der langen Zeit, in der das Produkt auf dem deutschen Markt vertrieben werde, eine Gesundheitsgefährdung bei einem Verbraucher aufgetreten wäre. Somit seien Reaktionen, wie sie etwa bei unsichtbaren Scherben oder gesundheitsgefährdenden Partikeln in zum Verzehr bestimmten Lebensmitteln oder bei verdorbenen Speisen geboten wären, bei dem generellen und bekannten Risiko von bewusstem Nikotingenuss in einem Produkt, das eben zu diesem Zweck konsumiert werde, nicht angemessen. Hierbei wäre auch zu berücksichtigen, dass eine - unterstellte - Kategorisierung als Lebensmittel allein formaler Natur und auf einer Lücke des Tabakerzeugnisrechts zurückzuführen wäre. Der angeordnete Rückruf sei zudem nicht geeignet, die Gefahren des bewussten Nikotinkonsums einzudämmen, weil kein Konsument auf den Nikotingenuss verzichten werde, den er durch andere gleichartige Produkte und die vergleichbaren Tabakerzeugnisse stillen könne.
15
Zum weiteren Vorbringen der Antragstellerin wird auf den Inhalt der Antragsschrift vom 18. Mai 2020 ergänzend verwiesen.
16
Mit Schreiben vom 25. Mai 2020 hat die Antragsgegnerin beantragt,
17
den Antrag abzulehnen.
18
Es wird ausgeführt, die streitgegenständliche Anordnung sei rechtmäßig, nachdem das Produkt „ace. SUPERWHITE, cool mint“ durch das Gutachten des LGL vom 23. April 2020, welches Bestandteil des streitgegenständlichen Bescheids sei, als gesundheitsschädlich und damit gemäß Art. 14 VO (EG) 178/2002 als nicht sicher beurteilt worden sei. Mit ergänzender Stellungnahme des LGL vom 8. Mai 2020 sei diese Beurteilung aufrechterhalten worden. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin handele es sich bei dem Produkt um ein Lebensmittel im Sinne der Verordnung. Gemäß Art. 14 VO (EG) 178/2002 dürften Lebensmittel, die nicht sicher seien, nicht in Verkehr gebracht werden. Das betreffende Produkt sei gesundheitsschädlich und dürfe demnach nicht in Verkehr gebracht werden. Es sei auch kein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gegeben. Weil das streitgegenständliche Produkt gesundheitsschädlich sei, sei ein umgehender öffentlicher Rückruf geboten gewesen, nachdem andere Maßnahmen zur Erzielung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus nicht ausreichten.
19
Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
20
Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 Alt. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) hat Erfolg.
I.
21
Der Antrag ist zulässig.
22
Der statthafte Rechtsbehelf ist der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Alt. 2 VwGO. Grundsätzlich hat die Anfechtungsklage gegen einen belastenden Verwaltungsakt gemäß § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung. Wegen der behördlichen Anordnung der sofortigen Vollziehung (Ziffer II. des Bescheides) kommt der Klage gegen die Ziffer I. jedoch vorliegend nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO keine aufschiebende Wirkung zu. Mithin kann das Gericht auf Antrag die aufgrund der behördlichen Anordnung ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage ganz oder teilweise wiederherstellen.
II.
23
Der Antrag ist auch begründet.
24
Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht eine eigene Abwägungsentscheidung, bei der das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung gegen das Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage abzuwägen ist. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache dann von maßgeblicher Bedeutung, wenn nach summarischer Prüfung von der offensichtlichen Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Verwaltungsakts und der Rechtsverletzung des Antragstellers auszugehen ist. Wenn sich bei der im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens allein möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung dagegen weder die offensichtliche Rechtswidrigkeit noch die offensichtliche Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung feststellen lässt, hängt der Ausgang des Verfahrens vom Ergebnis einer vom Gericht vorzunehmenden Interessenabwägung ab (vgl. BayVGH, B.v. 5.3.2015 - 10 CS 14.2244 - juris).
25
1. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung in Ziffer II. des streitgegenständlichen Bescheids ist formell rechtmäßig.
26
Soweit die Behörde die sofortige Vollziehung ausdrücklich angeordnet hat (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) hat das Gericht zunächst zu prüfen, ob sich die behördliche Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung als im Sinne des § 80 Abs. 3 VwGO ausreichend erweist; ist das nicht der Fall, hat das Gericht nach der wohl überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur die Vollziehungsanordnung ohne weitere Sachprüfung aufzuheben, nicht jedoch die aufschiebenden Wirkung wiederherzustellen (vgl. BayVGH, B.v. 9.12.2013 - 10 CS 13.1782 - m.w.N. juris).
27
Nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO ist in den Fällen der Sofortvollzugsanordnung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Dabei reicht jede schriftliche Begründung, die zu erkennen gibt, dass die anordnende Behörde eine Anordnung des Sofortvollzugs im konkreten Fall für geboten erachtet. Die Begründung muss kenntlich machen, dass sich die Behörde bewusst ist, von einem rechtlichen Ausnahmefall Gebrauch zu machen (Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 80 Rn. 55). Es müssen die besonderen, auf den konkreten Fall bezogenen Gründe angegeben werden, die die Behörde dazu bewogen haben, den Suspensiveffekt auszuschließen (vgl. BayVGH, B.v. 16.2.2000 - 10 CS 99.3290 - juris Rn. 16).
28
Diesen Vorgaben wird die streitgegenständliche Begründung des Sofortvollzugs gerecht. Die Antragsgegnerin hat insoweit ausgeführt, dass ein vordringliches öffentliches Interesse daran bestehe, dass das streitgegenständliche Produkt nicht mehr zu den Verbrauchern gelange. Ein Zuwarten bis zur Unanfechtbarkeit der Entscheidung wäre im Sinne des vorbeugenden Verbraucherschutzes nicht vertretbar, da es sich um ein gesundheitsgefährdendes Lebensmittel handele. Die Antragsgegnerin hat damit hinreichend deutlich gemacht, dass die Sofortvollzugsanordnung aufgrund des konkreten Einzelfalls des gesundheitsgefährdenden Produkts erforderlich ist. Der Funktion des Begründungserfordernisses nach § 80 Abs. 3 VwGO, die vor allem darin besteht, der Behörde die besondere Ausnahmesituation bewusst zu machen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl. 2019, § 80 Rn. 84; Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, a.a.O.), wurde durch die im angefochtenen Bescheid enthaltene Begründung Genüge getan. Sonstige Gründe, die die Anordnung der sofortigen Vollziehung als formell rechtswidrig erscheinen lassen könnten, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Ob die behördliche Begründung inhaltlich zutreffend oder tragfähig ist, ist im Rahmen des Begründungserfordernisses gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO unerheblich.
29
2. Die angefochtene Anordnung des Rückrufs für das Produkt „ace. SUPERWHITE, cool mint“ ist nach summarischer Überprüfung voraussichtlich rechtswidrig und verletzt die Antragstellerin in ihren Rechten. Zwar handelt es sich bei dem Produkt um ein Lebensmittel (a), das gesundheitsschädlich ist (b), jedoch verstößt die Maßnahme gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (c).
30
a) Da es sich bei dem Produkt „ace. SUPERWHITE, cool mint“ um ein Lebensmittel handelt, findet die streitgegenständliche Rückrufanordnung ihre Rechtsgrundlage in § 39 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 Nr. 4 LFGB i.V.m. Art. 14 Abs. 2, Art. 19 Abs. 1 VO (EG) 178/2002.
31
Nach § 39 Abs. 2 Satz 1, Abs. 1 LFGB treffen die zuständigen Behörden die notwendigen Anordnungen und Maßnahmen, die zur Feststellung oder Ausräumung eines hinreichenden Verdachts eines Verstoßes oder zur Beseitigung festgestellter Verstöße gegen die Vorschriften des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuchs, der aufgrund dessen erlassenen Rechtsverordnungen und der unmittelbar geltenden Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft im Anwendungsbereich des LFGB sowie zum Schutz vor Gefahren für die Gesundheit erforderlich sind. Maßgeblich sind insoweit insbesondere auch Vorschriften der unmittelbar geltenden Verordnung VO (EG) 178/2002. Nach § 39 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 LFGB können zuständige Behörden zur Erfüllung der o.g. Aufgaben insbesondere Maßnahmen anordnen, die auf die Rückgabe eines in den Verkehr gebrachten Erzeugnisses abzielen, das den Verbraucher bereits erreicht hat oder erreicht haben könnte (Rückruf).
32
Bei dem streitgegenständlichen Produkt handelt es sich um ein Erzeugnis im Sinn des § 39 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 i.V.m. § 2 Abs. 1 LFGB. Danach sind Erzeugnisse u.a. Lebensmittel im Sinne der Legaldefinition in Art. 2 VO (EG) 178/2002, die nach § 2 Abs. 2 LFGB auch für das nationale Lebensmittelrecht gilt. Nach summarischer Prüfung ist das Gericht der Auffassung, dass es sich bei den streitgegenständlichen „Nicopods“ um „Lebensmittel“ im Sinne dieser Definition handelt, sodass vorliegend die Vorschriften des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzes in Verbindung mit der unmittelbar geltenden Verordnung VO (EG) 178/2002 einschlägig sind.
33
aa) Der Begriff „Lebensmittel“ ist in Art. 2 VO (EG) 178/2002 legal definiert. Nach Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 178/2002 sind „Lebensmittel“ alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass sie in verarbeitetem, teilweise verarbeitetem oder unverarbeitetem Zustand von Menschen aufgenommen werden. Damit sind zunächst alle Stoffe erfasst, die nach ihrer Zweckbestimmung von Menschen aufgenommen werden (Rathke in Zipfel/Rathke, LebensmittelR, EG-Lebensmittel-Basisverordnung, Stand: 175. EL Nov. 2019, Art. 2 Rn. 15). Art. 2 Abs. 2 VO (EG) 178/2002 stellt klar, dass auch Getränke, Kaugummi sowie alle Stoffe - einschließlich Wasser -, die dem Lebensmittel bei seiner Herstellung oder Ver- oder Bearbeitung absichtlich zugesetzt werden, zu den „Lebensmitteln“ zählen. Schließlich bestimmt Art. 2 Abs. 3 VO (EG) 178/2002, dass einzelne Erzeugnisse, wie u.a. Tabak und Tabakerzeugnisse sowie Arznei- und Futtermittel, nicht zu den „Lebensmitteln“ gehören. Damit werden diese Erzeugnisse aus dem umfassenden Tatbestand des Abs. 1 rausgenommen, obwohl sie zunächst unter den weit gefassten Lebensmittelbegriff fallen würden (vgl. Rathke in Zipfel/Rathke, a.a.O. Rn. 16).
34
bb) Diese Voraussetzungen des unionsrechtlichen Lebensmittelbegriffs sind vorliegend gegeben.
35
Entsprechend der Systematik des Art. 2 VO (EG) 178/2002 ist daher zunächst zu prüfen, ob ein Stoff oder Erzeugnis unter den weit gefassten Tatbestand des Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 178/2002 fällt (1). Dabei sind die Begriffselemente „Stoff oder Erzeugnis“, die Zweckbestimmung bzw. Erwartung nach vernünftigem Ermessen sowie der Begriff der „Aufnahme durch den Menschen“ maßgebend. Liegen die Voraussetzungen des Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 178/2002 vor, muss zur Feststellung der Lebensmitteleigenschaft im zweiten Schritt geprüft werden, ob ein Stoff oder Erzeugnis nach Art. 2 Abs. 3 VO (EG) 178/2002 vom Anwendungsbereich des Lebensmittelrechts ausgenommen ist (2).
36
(1) Bei den streitgegenständlichen „Nicopods“ handelt es sich um Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind, von Menschen aufgenommen zu werden (Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 178/2002).
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Entsprechend dem Schutzzweck des Lebensmittelrechts, ein hohes Maß an Gesundheitsschutz zu gewährleisten, müssen den lebensmittelrechtlichen Vorschriften alle Stoffe unterworfen werden, die dazu bestimmt sind, von Menschen aufgenommen zu werden. Der Stoffbegriff des Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 178/2002 ist daher als umfassend zu verstehen, sodass es insoweit unerheblich ist, ob ein Stoff einen physiologischen Nährwert oder technologische Wirkung hat und ob es sich um einen Rohstoff oder um eine Zubereitung handelt. Abzugrenzen von dem Stoffbegriff sind somit nur physikalische oder chemische Verfahren, wie beispielsweise die Zufuhr von Strahlen oder von Hitze (vgl. Rathle in Zipfel/Rathke, a.a.O. Art. 2 Rn. 19-22; Meyer in: Meyer/Streinz, LFGB - BasisVO, 2. Aufl. 2012, Art. 2 Rn. 5 und 7).
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Diesen Maßstab zugrunde gelegt, ist das streitgegenständliche Produkt „ace. SUPERWHITE, cool mint“ unzweifelhaft unter den weit gefassten Stoffbegriff des Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 178/2002 zu subsumieren.
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Der von der Antragstellerin beschriebene Zweck der „Nicopods“ schließt ihre Einordnung als „Lebensmittel“ im Sinn des Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 178/2002 nicht aus. Für die Einordnung eines Stoffes als Lebensmittel ist nicht allein dessen Beschaffenheit oder Eignung als Lebensmittel, sondern auch dessen Zweckbestimmung, die Aufnahme durch den Menschen, maßgebend. Hierfür kommt es auf die Verwendung des Stoffes an, wie sie im Verkehr bei natürlicher Betrachtungsweise für einen durchschnittlich informierten, aufmerksamen Verbraucher erkennbar ist (vgl. Rathke in Zipfel/Rathke, a.a.O. Art. 2 Rn. 23 m. w. N.). Die allgemeine Zweckbestimmung erfasst im Interesse des Gesundheitsschutzes alle Stoffe, die ihrer Gattung nach und allgemein zur Aufnahme durch den Menschen bestimmt sind. Die ausschließliche Verwendung zu Ernährungs- oder Genusszwecken wird insoweit nicht vorausgesetzt. Der Stoff kann nach dem Willen der Beteiligten auch zu anderen Zwecken verwendet werden. Die Zweckbestimmung eines Stoffes knüpft nach dem Wortlaut der Verordnung an den Begriff der „Aufnahme durch den Menschen“ an, der - entgegen der Auffassung der Antragstellerin - nicht mit dem Begriff des „Verzehrens“ gleichzusetzen ist. Für die Zweckbestimmung eines Stoffes ist entscheidend, dass dieser nach seiner vorgesehenen Verwendung von Menschen „aufgenommen“ werden soll. Eine Zweckbestimmung zum menschlichen Verzehr als Voraussetzung des europarechtlichen Lebensmittelbegriffs ist den Vorschriften der Verordnung nicht zu entnehmen. Von dem Lebensmittelbegriff des Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 178/2002 sind gerade auch Stoffe erfasst, die nicht verzehrt werden.
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Der weitergehende Begriff „Aufnahme“ umfasst - entgegen dem in § 3 Nr. 5 LFGB nationalrechtlich definierten Begriff des „Verzehrens“ - nicht nur Stoffe, die durch den Mund gezielt dem Magen zugeführt werden. Erfasst sind auch Stoffe, die anderweitig - beispielsweise über die Mundschleimhaut - in den Körper eines Menschen gelangen. Dies entspricht auch der englischen und der französischen Fassung der Verordnung, da sowohl das französische Wort „ingéré“ als auch das englische Wort „ingested“ nicht nur durch den Mund dem Magen zugeführte Stoffe umfassen (Rathke in Zipfel/Rathke a.a.O. Art. 2 Rn. 33). Soweit die Antragstellerin in diesem Zusammenhang auf den Wortlaut einzelner Verordnungsregelungen verweist (vgl. Art. 8 Abs. 1, Art. 14 Abs. 2 Buchst. b), Art. 15 Abs. 2 Spiegelstrich 2 VO (EU) 178/2002), die den Begriff des „Verzehrens“ enthalten, ist dieser Hinweis nicht geeignet, die Gleichstellung beider Begriffe zu begründen. Bereits aus der Systematik der Verordnung ist ersichtlich, dass es sich bei dem Begriff „Verzehr“ um einen gegenüber der „Aufnahme“ engeren Begriff handelt. Der allgemeine Begriff „Aufnahme durch den Menschen“ ist als zwingender Bestandteil des Lebensmittelbegriffs in Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 178/2002 festgeschrieben. Nach Art. 14 Abs. 2 Buchst. b) VO (EG) 178/2002 gelten Lebensmittel als nicht sicher, wenn sie für den Verzehr durch den Menschen ungeeignet sind. Damit wird bewusst zwischen beiden Begriffen differenziert und der Begriff des „Verzehrens“ als Unterform der Aufnahme eines Stoffes in den Körper verwendet. Diese Unterscheidung ist auch aus Gründen des Gesundheitsschutzes geboten und nachvollziehbar, da nach allgemeinem Sprachgebrauch üblicherweise nur Stoffe „verzehrt“ werden, die der menschlichen Ernährung bzw. als Genussmittel dienen und damit besonders hohen gesundheitsrechtlichen Anforderungen unterliegen sollen. Für das Vorliegen eines „Lebensmittels“ ist es jedoch gerade nicht erforderlich, dass die zur Aufnahme bestimmten Stoffe zu Ernährungs- oder Genusszwecken in den Körper eines Menschen gelangen. Vor diesem Hintergrund handelt es sich bereits terminologisch um zwei unterschiedliche Begriffe, die sich zwar teilweise überschneiden können, in ihrer Bedeutung jedoch nicht deckungsgleich sind. Dafür spricht auch die Regelung in § 3 Nr. 5 LFGB, die das „Verzehren“ als Aufnahme von Lebensmitteln durch den Menschen durch Essen, Kauen, Trinken sowie durch jede sonstige Zufuhr von Stoffen in den Magen definiert. Auch hier unterscheidet der Gesetzgeber zwischen beiden Begriffen und ordnet den Begriff des „Verzehrens“ durch Aufzählung verschiedener Aufnahmearten als eine besondere Form der Aufnahme von Lebensmitteln ein.
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Diese Auslegung des Begriffs „Aufnahme“ entspricht ferner der Regelungssystematik des Art. 2 VO (EG) 178/2002, in dem der Lebensmittelbegriff zunächst anhand bestimmter Begriffsmerkmale abstrakt definiert wird, und damit im Interesse des Gesundheitsschutzes ein möglichst breites Spektrum an Stoffen und Erzeugnissen erfasst, die von Menschen aufgenommen werden können. Diese sehr weit gefasste Begriffsbestimmung wird zum einen durch das Erfordernis der Zweckbestimmung zur menschlichen Aufnahme und zum anderen durch die Herausnahme bestimmter Stoffe und Erzeugnisse aus dem Lebensmittelbegriff eingeschränkt. So werden die in Art. 2 Abs. 3 VO (EG) 178/2002 genannten Stoffe und Erzeugnisse aus dem Anwendungsbereich des Lebensmittelrechts ausgenommen, obwohl sie zunächst unter den weit gefassten Lebensmittelbegriff des Absatzes 1 fallen würden. Dagegen ist der Verzehr von in Absatz 3 bezeichneten Stoffen regelmäßig weder bezweckt noch üblich. Würde man davon ausgehen, dass der Begriff „Aufnahme“ mit dem „Verzehren“ deckungsgleich ist, wäre die Aufzählung in Abs. 3 überflüssig, da diese Stoffe und Erzeugnisse ohnehin nicht unter den Lebensmittelbegriff im Sinne des Absatzes 1 zu subsumieren wären.
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Schließlich spricht die Entstehungsgeschichte des unionsrechtlichen Lebensmittelbegriffs gegen die Gleichsetzung beider Begriffe. Die Lebensmitteldefinition des Art. 2 VO (EG) 178/2002 orientiert sich an der Legaldefinition für Lebensmittel des Codex Alimentarius, die mit dem Begriff „Aufnahme durch den Menschen“ alle Erzeugnisse erfasst, die „Magen-Darmtrakt durchlaufen, einschließlich aller Stoffe, die durch Mund oder Nase eingenommen oder durch Magen-Intubation verabreicht werden“ (Grünbuch der Kommission, Allgemeine Grundsätze des Lebensmittelrechts in der Europäischen Union vom 30.4.1997; KOM(97) 176, 28; Meyer in Meyer/Streinz, a.a.O. Art. 2 Rn. 4). Das Erfordernis einer gezielten Zufuhr von Stoffen in den Magen ist diesen Ausführungen gerade nicht zu entnehmen, da alle durch den Mund oder Nase in den Körper aufgenommenen Stoffe denknotwendig - zumindest teilweise - in den Magen-Darmtrakt gelangen. Daher sollen von der Lebensmitteldefinition alle Stoffe erfasst werden, die von Menschen durch den Mund oder die Nase aufgenommen werden.
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Nach alldem ist festzuhalten, dass das streitgegenständliche Produkt die Voraussetzungen des Lebensmittelbegriffs im Sinne des Art. 2 Abs. 1 VO (EG) 178/2002 erfüllt, da es nach seiner vorgesehenen Verwendung zur Aufnahme durch den Menschen bestimmt ist.
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Nach Angaben der Antragstellerin werden die streitgegenständlichen „Nicopods“ durch den Mund eingenommen und sind damit zur oralen Verwendung bestimmt. Durch das längere Behalten des Zellstoffbeutels im Mundraum zwischen der Oberlippe und dem Oberkiefer werden die darin enthaltenen Stoffe - v.a. Nikotin - über die Mundschleimhäute in den Körper transferiert. Da diese Stoffe mit dem Speichel gelöst werden, gelangen sie durch Verschlucken auch teilweise in den Magen. Nach Verkehrsauffassung besteht die allgemeine Zweckbestimmung des streitgegenständlichen Produkts darin, die in dem Zellstoffbeutel enthaltenen Stoffe (v.a. Nikotin) dem menschlichen Körper durch den Mund und über die Mundschleimhäute zuzuführen. Da die Lebensmitteldefinition gerade keine Zweckbestimmung zum menschlichen Verzehr voraussetzt, kommt es vorliegend nicht entscheidend darauf an, ob diese Stoffe nach ihrer vorgesehenen Verwendung über die Mundschleimhaut in den Körper gelangen oder dem Magen zugeführt werden. Für die Lebensmitteleigenschaft von „Nicopods“ ist entscheidend, dass die darin enthaltenen Stoffe nach Verkehrsauffassung dazu bestimmt sind, durch den Mund in den Körper des Menschen aufgenommen zu werden.
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(2) Ferner ist das streitgegenständliche Produkt nicht gemäß Art. 2 Abs. 3 VO (EG) 178/2002 aus dem Anwendungsbereich des Lebensmittelrechts ausgenommen, da es keinem der in Absatz 3 genannten Tatbestände zugeordnet werden kann. Da die „Nicopods“ zwar Nikotin, jedoch kein Tabak enthalten, handelt es sich insbesondere nicht um ein Tabakerzeugnis im Sinn des Art. 2 Abs. 3 Buchst. f) VO (EG) 178/2002 i.V.m. der Richtlinie 89/622/EWG(23) des Rates.
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b) Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Anordnung nach § 39 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 LFGB i.V.m. Art. 14 Abs. 2, Art. 19 Abs. 1 VO (EG) 178/2002 liegen vor.
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aa) Gemäß Art. 14 Abs. 1 VO (EG) 178/2002 dürfen Lebensmittel, die nicht sicher sind, nicht in Verkehr gebracht werden. Nach Art. 14 Abs. 2 VO (EG) 178/2002 gelten Lebensmittel als nicht sicher, wenn davon auszugehen ist, dass sie gesundheitsschädlich (Buchst. a) oder für den Verzehr durch den Menschen ungeeignet sind (Buchst. b).
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Aus der fachlichen Stellungnahme des LGL vom 23. April 2020 geht hervor, dass die untersuchte Probe des Produkts „ace. SUPERWHITE cool mint“ wegen seines Nikotingehalts als gesundheitsschädlich und damit als nicht sicheres Lebensmittel im Sinn des Art. 14 Abs. 2 Buchst. b) VO (EG) 178/2002 einzustufen sei (vgl. Stellungnahme des LGL vom. 23.04.2020, S. 5). Nach toxikologischer Risikobewertung sei davon auszugehen, dass das streitgegenständliche Produkt zu einer Schädigung der Gesundheit von Verbrauchern führen kann. Dies wird von der Antragstellerin nicht in Abrede gestellt. Damit geht das Gericht davon aus, dass die Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 2 VO (EG) 178/2002 gegeben sind.
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bb) Entspricht ein Lebensmittel nicht den Anforderungen des Lebensmittelrechts, kann die Behörde gemäß § 39 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 LFGB Maßnahmen im Zusammenhang mit einer Rücknahme von Erzeugnissen oder deren Rückruf anordnen. Vorliegend hat die Antragsgegnerin von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und gemäß § 39 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 LFGB i.V.m. Art. 19 Abs. 1 Satz 2 VO (EG) 178/2002 den Rückruf angeordnet, da es sich bei dem streitgegenständlichen Produkt nach vorstehenden Ausführungen um ein nicht sicheres Lebensmittel handelt und damit ein Verstoß gegen die lebensmittelrechtlichen Vorschriften gegeben ist.
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c) Die angeordnete Maßnahme verstößt jedoch gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und ist damit voraussichtlich rechtswidrig.
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Es ist bereits nicht ersichtlich, ob die Antragsgegnerin das ihr nach § 39 Abs. 2 Satz 2 LFGB eingeräumte Auswahlermessen ordnungsgemäß ausgeübt hat. Nach § 39 Abs. 2 Satz 1 LFGB treffen die zuständigen Behörden die notwendigen Maßnahmen, die zur Beseitigung von Verstößen gegen das Lebensmittelrecht erforderlich sind. Bei der Anordnung von Maßnahmen nach § 39 Abs. 2 LFGB hat die Behörde zwar kein Entscheidungsermessen. Sie ist vielmehr beim Verdacht oder bei Feststellung eines Verstoßes verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Der Behörde steht jedoch ein Auswahlermessen zu, sodass sie nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden muss, welche von verschiedenen zulässigen Maßnahmen sie trifft (vgl. BayVGH, B.v. 17.9.2011 - 9 ZB 09.2654 - juris Rn. 9). Der angefochtene Bescheid lässt jegliche Ausführungen hinsichtlich tragender Gesichtspunkte der getroffenen Auswahlentscheidung (vgl. § 39 Abs. 1 Satz 3 VwVfG) vermissen. Insbesondere ist dem Bescheid nicht zu entnehmen, aus welchen Gründen im vorliegenden Fall der Anordnung eines Rückrufs gegenüber einer möglichen Anordnung der Rücknahme Vorzug gewährt wurde. Es spricht somit Einiges dafür, dass die Antragsgegnerin das ihr eingeräumte Auswahlermessen verkannt hat und der angefochtene Bescheid bereits aus diesem Grund rechtswidrig sein dürfte.
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Jedenfalls geht das Gericht nach summarischer Prüfung der Hauptsache davon aus, dass der angeordnete öffentliche Rückruf des streitgegenständlichen Produkts mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht vereinbar ist. Nach dem aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 GG) folgenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss die im Einzelfall angeordnete Maßnahme zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet, erforderlich und angemessen sein. Stehen der Behörde mehrere geeignete Maßnahmen zur Verfügung, ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Genüge getan, wenn die Maßnahme gewählt wird, die für den Betroffenen mit einem geringeren Grundrechtseingriff verbunden ist. Zur Beseitigung von Verstößen gegen die Anforderungen des Lebensmittelrechts stehen der Behörde nach § 39 Abs. 2 Satz 2 LFGB i.V.m. Art. 19 Abs. 1 VO (EG) 178/2002 verschiedene Maßnahmen zur Verfügung. Die Behörde kann gemäß § 39 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 LFGB zum einen die Rücknahme des betroffenen Lebensmittels vom Markt anordnen (vgl. Art. 19 Abs. 1 Satz 1 VO (EG) 178/2002). Für den Fall, dass das Produkt die Verbraucher bereits erreicht haben könnte, kann der Unternehmer darüber hinaus zur effektiven und genauen Unterrichtung der Verbraucher über den Grund für die Rücknahme verpflichtet werden (vgl. Art. 19 Abs. 1 Satz 2 HS 1 VO (EG) VO 178/2002). Zum anderen steht der Behörde die Möglichkeit der Anordnung eines öffentlichen Rückrufs im Sinn des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 HS 2 VO (EG) 178/2002 zur Verfügung. Im Verhältnis zu einander stellt die Rücknahme das gegenüber dem Rückruf mildere Mittel dar (vgl. BVerwG, B.v. 24.8.2010 - 3 B 41.10 - juris Rn. 3). Die Verpflichtung zum Rückruf ist daher nur verhältnismäßig, wenn andere Maßnahmen zur Erzielung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus nicht ausreichen (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 HS 2 VO (EG) 178/2002). Diese Voraussetzung ist vorliegend nicht erfüllt.
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Zwar handelt es sich bei den streitgegenständlichen „Nicopods“ wegen des dort enthaltenen Nikotins um ein nicht sicheres Lebensmittel im Sinn des Art. 14 Abs. 2 VO (EG) 178/2002, sodass grundsätzlich ein Verstoß gegen die Anforderungen des Lebensmittelrechts gegeben ist. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass das streitgegenständliche Produkt hinsichtlich seiner toxikologischen Eigenschaften mit anderen nikotinhaltigen Produkten auf Tabakbasis vergleichbar ist. Da solche Produkte im Gegensatz zu „Nicopods“ dem Rechtsregime des Tabakerzeugnisgesetzes unterliegen, dürfen diese - mit Ausnahme der Tabakerzeugnisse nach § 11 TabakerzG - in Verkehr gebracht und an Verbraucher verkauft werden. Das streitgegenständliche Produkt wird zusammen mit anderen nikotinhaltigen Produkten in Tabakfachgeschäften, speziellen Abteilungen und Tankstellen angeboten und aus Sicht eines Durchschnittsverbrauchers den Tabakprodukten zugeordnet, deren Gesundheitsschädlichkeit offensichtlich ist.
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Vor dem Hintergrund dieser Umstände erscheint die Anordnung eines öffentlichen Rückrufs zur Erzielung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus nicht erforderlich, zumal ein Rückruf in der Regel mit einer Rufschädigung einhergeht, die für das Unternehmen erhebliche wirtschaftliche Folgen haben kann. Vorliegend wären andere Maßnahmen, wie etwa eine Rücknahme und Unterrichtung nach Art. 19 Abs. 1 Satz 1 und 2 VO (EG) 178/2002 ausreichend, um die Gesundheit der Verbraucher zu sichern. Der von der Antragsgegnerin angeordnete Rückruf ist dagegen nicht erforderlich und unverhältnismäßig. Damit ist der angefochtene Bescheid vom 12. Mai 2020 voraussichtlich rechtswidrig und verletzt die Antragstellerin in ihren Rechten.
III.
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Nach alldem war dem Antrag der Antragstellerin mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Als im Verfahren unterlegen hat die Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nrn. 25.2 und 1.5 der Empfehlungen des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.