Inhalt

VGH München, Beschluss v. 20.07.2020 – 9 ZB 19.1000
Titel:

Nachbarklage gegen isolierte Befreiung von Baugrenzen

Normenketten:
BayBO § 6 Abs. 9 S. 2, § 63 Abs. 3
BauGB § 31
Leitsätze:
1. Der Umfang des Rechtsschutzes eines Nachbarn bei Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans im Rahmen des § 31 Abs. 2 BauGB hängt davon ab, ob die Festsetzungen, von denen dem Bauherrn eine Befreiung erteilt wurde, dem Nachbarschutz dienen oder nicht. Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz lediglich nach dem Rücksichtnahmegebot.  (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Allein eine Verletzung der Abstandsflächenvorschriften indiziert nicht automatisch einen Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage, Gartenhaus, isolierte Befreiung von Baugrenzen, Ausnahme von Festsetzungen des Bebauungsplans, Rücksichtnahmegebot, Abstandsflächen
Vorinstanz:
VG Würzburg, Urteil vom 12.03.2019 – W 4 K 17.1312
Fundstelle:
BeckRS 2020, 16960

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 7.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Klägerin wendet sich gegen eine von der Beklagten dem Beigeladenen mit Bescheid vom 3. Juli 2017 und Ergänzungsbescheid vom 9. Januar 2019 erteilte isolierte Befreiung von der im Bebauungsplan „Mühlsteige“ der Beklagten festgesetzten Baugrenze sowie einer Ausnahme zur Errichtung eines untergeordneten Nebengebäudes auf dem Grundstück FlNr. … Gemarkung M* … Das Verwaltungsgericht hat ihre hiergegen gerichtete Klage mit Urteil vom 12. März 2019 abgewiesen. Mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
2
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
4
Die Klägerin beruft sich allein auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Ob solche Zweifel bestehen, ist im Wesentlichen anhand dessen zu beurteilen, was die Klägerin innerhalb offener Frist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) hat darlegen lassen (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO). Daraus ergeben sich solche Zweifel nicht.
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1. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Festsetzung von Baugrenzen im Bebauungsplan „Mühlsteige“ der Beklagten sei nicht nachbarschützend, ist nicht ernstlich zweifelhaft.
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Die Klägerin ist der Ansicht, die Festsetzung von Baugrenzen im Bebauungsplan „Mühlsteige“ sei nachbarschützend, weil dadurch Nachbarn vor extensiver Bebauung geschützt würden. Dieser Vortrag verhilft dem Antrag auf Zulassung der Berufung aber nicht zum Erfolg.
7
Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Umfang des Rechtsschutzes eines Nachbarn bei Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans im Rahmen des § 31 Abs. 2 BauGB davon abhängt, ob die Festsetzungen, von denen dem Bauherrn eine Befreiung erteilt wurde, dem Nachbarschutz dienen oder nicht. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist. Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz hingegen lediglich nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots (§ 31 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO). Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung aus irgendeinem Grund rechtswidrig ist, sondern nur dann, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. BayVGH, B.v. 15.2.2019 - 9 CS 18.2638 - juris Rn. 19 m.w.N.). Die gilt auch im Falle einer - wie hier - isolierten Befreiung von Festsetzungen eines Bebauungsplans nach Art. 63 Abs. 3 Satz 1 BayBO i.V.m. § 31 Abs. 2 BauGB (vgl. BayVGH, B.v. 18.6.2018 - 15 ZB 17.635 - juris Rn. 12).
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Unter Auslegung des Bebauungsplans und Ermittlung des planerischen Willens des Planungsträgers hat das Verwaltungsgericht die im Bebauungsplan „Mühlsteige“ der Beklagten festgesetzte Baugrenze auf dem Baugrundstück nicht als drittschützend bewertet. Damit setzt sich das Zulassungsvorbringen, das lediglich die entgegenstehende eigene Rechtsauffassung der Klägerin anführt, nicht auseinander. Dementsprechend kommt es hier auch nicht darauf an, ob die angefochtene isolierte Befreiung die Grundzüge der Planung berührt oder städtebaulich vertretbar ist (vgl. BayVGH, B.v. 26.9.2018 - 9 CS 17.361 - juris Rn. 16).
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2. Aus dem Zulassungsvorbringen ergibt sich auch nicht, dass im Rahmen der isolierten Befreiung von nicht nachbarschützenden Festsetzungen nicht die gebotene Rücksicht auf die Interessen der Klägerin genommen wurde.
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Das Verwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass dem Gebot der Rücksichtnahme drittschützende Wirkung zukommt, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen dabei wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BayVGH, B.v. 26.9.2018 - 9 CS 17.361 - juris Rn. 18; vgl. BVerwG, U.v. 18.11.2004 - 4 C 1.04 - juris Rn. 22).
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Die Klägerin ist der Ansicht, dass ihre nachbarlichen Interessen aufgrund der rechtsmissbräuchlichen Grundstücksteilung zur Umgehung des Art. 6 Abs. 9 Satz 2 BayBO und der bereits intensiven Bebauung nicht ausreichend gewichtet worden seien. Ob tatsächlich eine Verletzung der Abstandsflächenvorschriften vorliegt, kann jedoch dahin gestellt bleiben, weil das Verwaltungsgericht zu Recht darauf abgestellt hat, dass dies allein nicht automatisch einen Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot indiziert (vgl. BayVGH, B.v. 28.4.2020 - 9 ZB 18.1493 - juris Rn. 22; BayVGH, B.v. 18.6.2018 - 15 ZB 17.635 - juris Rn. 34). Das Verwaltungsgericht hat vielmehr mit ausführlicher Begründung aufgrund des beim Augenschein gewonnenen Eindrucks und unter Würdigung der konkreten Situation vor Ort eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme gegenüber dem westlich angrenzenden Nachbargrundstück der Klägerin verneint. Der Verweis im Zulassungsvorbringen auf eine eventuell abstandsflächenpflichtige Treppe auf der ihrem Grundstück abgewandten Seite des bestehenden Wohngebäudes des Beigeladenen stellt die Bewertung der konkreten Zumutbarkeit für die Klägerin durch das Verwaltungsgericht nicht in Frage.
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3. Soweit die Klägerin vorträgt, die erteilte Ausnahme von Nr. 2.04 der Festsetzungen des Bebauungsplans betreffend untergeordnete Nebengebäude sei unzulässig, weil bereits ein Gartenhaus vorhanden sei, bleibt der Antrag ebenfalls erfolglos. Weder aus der Festsetzung noch dem Bebauungsplan im Übrigen lässt sich eine Beschränkung der Anzahl der Nebengebäude entnehmen. Der Vortrag, das Gartenhaus diene „auch Wohnbedürfnissen“ und stehe daher im Widerspruch zur Festsetzung, erschließt sich nicht. Das Verwaltungsgericht hat in den Urteilsgründen ausgeführt, dass das streitgegenständliche Gartenhaus eine funktionelle Unterordnung unter die Hauptnutzung aufweise und „auch Wohnbedürfnissen“ diene. Es stellt damit ersichtlich auf die Tatbestandsvoraussetzungen der Festsetzung Nr. 2.04 des Bebauungsplans ab, wonach untergeordnete Nebenanlagen ausnahmsweise zugelassen werden können, wenn sie dem Nutzungszweck der in dem allgemeinen Wohngebiet gelegenen Grundstücke nicht widersprechen und dem Nutzungszweck des Gebäudes selbst dienen. Dies hat das Verwaltungsgericht mit seinen vorgehenden Ausführungen, dass das Gartenhaus zur Unterbringung von Gartengeräten und Mülltonnen vorgesehen ist, zweifelsfrei festgestellt.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Da der Beigeladene im Zulassungsverfahren keinen rechtlich die Sache förderlichen Beitrag geleistet hat, entspricht es der Billigkeit, dass er seine außergerichtlichen Kosten selbst trägt (§ 162 Abs. 3 VwGO).
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Die Streitwertfestsetzung für das Zulassungsverfahren beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs 2013 und entspricht der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).