Inhalt

FG Nürnberg, Urteil v. 24.04.2020 – 3 K 274/19
Titel:

Kindergeld für ein behindertes Kind

Normenkette:
EStG § 2 Abs. 2, § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3, § 33b Abs. 3
Schlagworte:
Anerkennung, Arbeitslosengeld, Behindertenpauschbetrag, Behinderung, behinderungsbedingter Mehrbedarf, Einkommen, Einspruch, Jahresgrenzbetrag, Kindergeldanspruch, Lebensbedarf, Lebensunterhalt, Unterhalt, Änderungsbescheid, Entgeltersatzleistung, Kindergeld
Fundstelle:
BeckRS 2020, 12114

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Tatbestand

1
Streitig ist das Kindergeld für K (geb. ... 1986).
2
Nach Aktenlage absolvierte das Kind bis Juli 2012 eine Berufsausbildung als Bürokaufmann. Von Oktober 2012 bis Juli 2013 betrieb das Kind ein Studium der Medieninformatik an der Hochschule …
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In der Zeit von Oktober 2013 bis Juni 2014 bezog das Kind Arbeitslosengeld I. Die Entgeltersatzleistung betrug nach dem Bewilligungsbescheid der Agentur für Arbeit vom 06.11.2013 täglich 28,07 € bzw. 842,10 € im Monat. Von Januar 2015 bis Dezember 2015 bezog das Kind ALG II Leistungen i.H.v. 742 € monatlich (Bewilligungsbescheid des Jobcenters vom 23.02.2015).
4
Das Zentrum B. hat im Januar 2018 einen Schwerbehindertenausweis mit Wirkung ab Oktober 2017 ausgestellt. Für das Kind wurde ein GdB von 50 für das Autismus-AspergerSyndrom als seelische Störung und ein GdB von 10 für die Funktionsbehinderung aufgrund einer Wirbelsäulenverformung festgestellt.
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Mit Bescheid vom 29.11.2017 lehnte die Familienkasse den Antrag auf Kindergeld für das Kind K ab Januar 2011 ab. Die Entscheidung wurde damit begründet, dass die für die Entscheidung über den Kindergeldanspruch notwendigen Unterlagen nicht eingereicht worden seien und somit nicht festgestellt werden könne, ob ab dem genannten Zeitpunkt ein Anspruch auf Kindergeld bestehe.
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Der Kläger erhob Einspruch.
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Im Einspruchsverfahren gewährte die Familienkasse mit Bescheid vom 24.09.2018 Kindergeld für das Kind K A. ab dem Monat April 2016.
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Mit Einspruchsentscheidung vom 22.01.2019, auf die wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, wies die Familienkasse den Einspruch im Übrigen für den Zeitraum von Oktober 2013 bis März 2016 als unbegründet zurück.
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Zur Begründung führte sie aus, dass die Klägerin für den Zeitraum von Oktober 2013 bis März 2016 eine Behinderung des Kindes nicht nachgewiesen habe.
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Der Klägervertreter hat Klage erhoben.
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Im Klageverfahren hat die Familienkasse mit Bescheid vom 27.12.2019 Kindergeld für die Zeiträume 07/2014 bis 12/2014 und 01/2016 bis 03/2016 festgesetzt. Die Beteiligten haben den Rechtsstreit insoweit in der Hauptsache für erledigt erklärt. Der Rechtsstreit für diesen Zeitraum wurde unter dem Az. 3 K 150/20 abgetrennt.
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Zur Begründung der Klage wird vorgetragen:
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Eine Behinderung des Kindes sei für den Klagezeitraum durch eine Vielzahl von ärztlichen Unterlagen nachgewiesen. So habe die Klägerin der Familienkasse ein Attest des Kinder- und Jugendpsychologen Dr. D vom 06.07.2006 (damit also vor dem 25. Lebensjahr) eingereicht, in dem das Vorliegen einer Schwerbehinderung in Form des Autismus-Asperger-Syndroms und damit eine schwere seelische Behinderung diagnostiziert wird. Das Autismus-Asperger-Syndrom stelle im Übrigen auch eine angeborene und vor allem unheilbare Krankheit dar, so dass insoweit bereits medizinisch ausgeschlossen sei, dass sich an der hierdurch bedingten Behinderung für den hier streitgegenständlichen Zeitraum etwas geändert haben könnte. Das Vorliegen einer Behinderung sei der Behörde aber auch durch eine Reihe weiterer ärztlicher Gutachten nachgewiesen worden. Auch zur Beurteilung der Erwerbsfähigkeit des Sohnes der Klägerin fänden sich in der Akte der Beklagten eine Vielzahl von Nachweisen. Das Vorliegen einer Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres und die Ursächlichkeit der Behinderung dafür, dass das Kind nicht in der Lage ist selbst seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, könne auch durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens bewiesen werden.
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Zudem handele die Familienkasse inkonsequent, da sie für den Zeitraum bis September 2013 und den Zeitraum ab April 2016 sehr wohl Kindergeld unter Anerkennung des Vorliegens einer Behinderung bewilligt habe. Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Sohnes der Klägerin in der Zeit bis September 2013 seien dieselben wie ab April 2016 bzw. wie im Klagezeitraum. Das auf Seiten des Sohnes der Klägerin vorliegende multiple Krankheitsbild schließe es aus, dass die hierdurch hervorgerufene Behinderung vorübergehend sozusagen „verschwinde“ und erst später wieder auftrete. Es handele sich insoweit um einen dauerhaften Zustand, der einer ärztlichen Behandlung, die zu einer vorübergehenden Beseitigung des Krankheitsbildes führe, nicht zugänglich sei, sodass ärztliche Behandlungsmaßnahmen nur zu einer Linderung der Beschwerden, aber nicht zu einem Wegfall des Beschwerdebildes und der Behinderung führen können. Es sei bereits im Verwaltungsverfahren dargelegt und unter Beweis gestellt worden, aus welchen Gründen der Sohn der Klägerin für den streitgegenständlichen Zeitraum keine lückenlosen und gehaltvollen ärztlichen Bescheinigungen vorlegen könne, da eben keine ständigen Arztbesuche stattgefunden hätten und auch nicht erforderlich gewesen seien, da sich der gesundheitliche Zustand durch ärztliche Behandlungsmaßnahmen eben gerade nicht mehr oder jedenfalls nur unwesentlich habe beeinflussen lassen.
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Das Kind habe Arbeitslosengeld ALG I zwischen Oktober 2013 und Juni 2014 in Höhe von 842,10 € monatlich (30 x 28,07) und ALG II Leistungen i.H.v. 742 € monatlich von Januar 2015 bis Dezember 2015 erhalten.
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Der Klägervertreter beantragt sinngemäß,
den Ablehnungsbescheid vom 29.11.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.01.2019 und in Gestalt des Änderungsbescheids vom 27.12.2019 dahin zu ändern, dass Kindergeld für das Kind K für den Zeitraum von Oktober 2013 bis Juni 2014 und Januar 2015 bis Dezember 2015 in der jeweiligen gesetzlichen Höhe gewährt wird.
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Die Familienkasse beantragt unter Hinweis auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung,
die Klage abzuweisen.
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Ergänzend wird vorgetragen, dass im verbliebenen streitgegenständlichen Zeitraum die Einnahmen des Kindes bedarfsdeckend gewesen seien. So sei der Unterhalt des Kindes im KJ 2015 durch ALG II-Leistungen sichergestellt (Bedarf: 706 € mtl., Einnahmen 742 € ./. 15 € Kostenpauschale= 727 €) gewesen.
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Der Grad der Behinderung von 50 v.H. sei vom ZBFS auf Antrag vom Oktober 2017 erst im Januar 2018 festgestellt worden. Der Ansatz eines pauschalierten Mehrbedarfs nach § 33b Abs. 3 EStG sei daher nicht möglich. Selbst für den Fall, dass der Grad der Behinderung insoweit rückwirkend nachgewiesen werde und die entsprechende Mehrbedarfspauschale i.H.v. 570 €, mtl. 47,50 €, angesetzt werden würde, würden die Einnahmen des Kindes insoweit seinen Bedarf nicht überschreiten.
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Die Beteiligten haben ihr Einverständnis dazu erklärt, dass das Gericht ohne mündliche Verhandlung und der zum Berichterstatter bestellte Richter anstelle des Senats entscheidet (§§ 90 Abs. 2, 79 a Abs. 3 und 4 FGO).
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Wegen der Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten mit Anlagen sowie den dem Gericht vorliegenden Ausdruck der elektronisch geführten Kindergeldakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage hat keinen Erfolg.
23
Der Bescheid der Familienkasse vom 29.11.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.01.2019 und in Gestalt des Änderungsbescheids vom 27.12.2019 sind nicht rechtswidrig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten.
24
K ist nach Auffassung des Gerichts aufgrund der ihm im Klagezeitraum zur Verfügung stehenden Einkünfte in der Lage selbst seinen Lebensunterhalt sicher zu stellen. Die Klägerseite hat weitere behinderungsbedingte Aufwendungen, die zum Überschreiten der finanziellen Mittel führen würden, dem Grunde und der Höhe nach nicht substantiiert dargelegt.
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1. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Ein behindertes Kind ist dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Ist das Kind hingegen trotz seiner Behinderung (z.B. aufgrund hoher Einkünfte oder Bezüge) in der Lage, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, kommt der Behinderung keine Bedeutung zu (BFH-Urteil vom 24.08.2004 VIII R 83/02, BStBl. II 2007, 248, m.w.N.). Ob dies der Fall ist, ist anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen zu prüfen, nämlich des gesamten Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits (BFH-Urteile vom 12.12.2012 VI R 101/10, BStBl. II 2015, 651 m.w.N.; vom 20.03.2013 XI R 51/10, BFH/NV 2013, 1088). Zu den finanziellen Mitteln des behinderten volljährigen Kindes gehören seine Einkünfte und Bezüge. Einkünfte sind solche i.S. von § 2 Abs. 2 EStG, zu den Bezügen gehören alle Einnahmen in Geld oder Naturalleistungen, die nicht im Rahmen der einkommensteuerrechtlichen Einkünfteermittlung erfasst werden (BFH-Urteil vom 11.04.2013 III R 35/11, BStBl. II 2013, 1037). Der existenzielle Lebensbedarf des behinderten Kindes setzt sich typischerweise zusammen aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf), der sich an dem maßgeblichen Jahresgrenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG (bis 2011) orientiert, und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf. Ab dem Jahr 2012 orientiert sich der allgemeine Lebensbedarf (Grundbedarf) am Grundfreibetrag des § 32 a Abs. 1 Satz 2 EStG 2013 bis 2015 (vgl. Schmidt/Loschelder, EStG, 39. Auflage, § 32 Rz. 48; Seiler in Kirchhof, EStG, 19. Auflage, § 32 Rz. 21; Abschnitt A 19.4. Abs. 2 Satz 2 Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz -DA-KGi.d.F. vom 10.07.2018 BStBl. I 2018, 822). Der behinderungsbedingte Mehrbedarf umfasst Aufwendungen, die gesunde Kinder nicht haben. Dazu gehören alle mit einer Behinderung zusammenhängenden außergewöhnlichen wirtschaftlichen Belastungen, etwa Aufwendungen für zusätzliche Wäsche, Unterstützungs- und Hilfeleistungen sowie typische Erschwernisaufwendungen. Das Entstehen derartiger Aufwendungen ist dem Grunde und der Höhe nach substantiiert darzulegen und glaubhaft zu machen (BFH-Urteil vom 12.12.2012 VI R 101/10, BStBl. II 2015, 651 m.w.N.; Schmidt/Loschelder, EStG, 39. Auflage, § 32 Rz. 49f). Werden die Aufwendungen nicht im Einzelnen nachgewiesen, kann der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag nach § 33b Abs. 1 bis 3 EStG als Anhalt für den Mehrbedarf dienen (BFH-Urteil vom 22.10.2009 III R 50/07, BStBl. II 2011, 38).
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2. Im Streitfall hat das Kind nach Ihren Angaben Arbeitslosengeld ALG I zwischen Oktober 2013 und Juni 2014 in Höhe von 842,10 € monatlich (30 x 28,07) und von Januar 2015 bis Dezember 2015 ALG II Leistungen i.H.v. 742 € monatlich erhalten. Hiervon ist eine monatliche Kostenpauschale von 15 € in Abzug zu bringen.
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Der Grundbedarf beträgt 677,50 € je Monat in 2013, 696,16 € je Monat in 2014 und 706 € je Monat in 2015. Ein behinderungsbedingter Mehrbedarf wurde nicht geltend gemacht. Das Entstehen derartiger Aufwendungen ist dem Grunde und der Höhe nach substantiiert darzulegen und glaubhaft zu machen (BFH-Urteil vom 12.12.2012 VI R 101/10, BStBl. II 2015, 651 m.w.N.; Schmidt/Loschelder, EStG, 39. Auflage, § 32 Rz. 49f). Werden die behinderungsbedingten Mehraufwendungen nicht im Einzelnen nachgewiesen, könnte zwar der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag nach § 33b Abs. 1 bis 3 EStG als Anhalt für den Mehrbedarf dienen (BFH-Urteil vom 22.10.2009 III R 50/07, BStBl. II 2011, 38). Im Streitfall ist aber für den Klagezeitraum ein Behindertenpauschbetrag nicht anzusetzen, da ein Grad der Behinderung von der Behörde erst rückwirkend ab Oktober 2017 festgestellt wurde. Im Übrigen würde aber selbst der Ansatz eines Behindertenpauschbetrags in Höhe von 60 € monatlich (GdB 60 v.H.) für Oktober 2013 bis Juni 2014 nicht dazu führen, dass der Lebensbedarf höher wäre als die Einkünfte.
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Der Ansatz einer fiktiven Ausbildungsvergütung als Rechnungsgröße ist nach der Rechtsprechung nicht vorgesehen. Eine Berücksichtigung eines Kindes über das 25. Lebensjahr hinaus ist nur bei Vorliegen einer Behinderung und wenn der gesamte Lebensbedarf höher ist als die finanziellen Mittel des Kindes möglich.
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3. Berechnung für die Monate Oktober bis Dezember 2013

Bedarf

Einkommen

Grundbedarf (8.130 / 12)

677,50 €

ALG I (30 x 28,07)

./. KP (180 / 12)

842,10 €

- 15,00 €

Gesamtbedarf

677,50 €

Gesamteinkommen

827,10 €

30
Berechnung für die Monate Januar bis Juni 2014

Bedarf

Einkommen

Grundbedarf (8.354 / 12)

696,16 €

ALG I (30 x 28,07)

./. KP (180 / 12)

842,10 €

- 15,00 €

Gesamtbedarf

696,16 €

Gesamteinkommen

827,10 €

31
Berechnung für die Monate Januar bis Dezember 2015

Bedarf

Einkommen

Grundbedarf (8.472 / 12)

706,00 €

ALG II

./. KP (180 € : 12)

742,00 €

- 15,00 €

Gesamtbedarf

706,00 €

Gesamteinkommen

727,00 €

32
Nach alledem ist K aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Einkünfte in der Lage, im Klagezeitraum selbst seinen Lebensunterhalt sicher zu stellen.
33
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.