Inhalt

VGH München, Beschluss v. 10.06.2020 – 20 NE 20.1320
Titel:

Schließung der Kinos wegen Corona 

Normenketten:
VwGO § 47 Abs. 6
IfSG § 28 Abs. 1 S. 1, § 32 S. 1
BayIfSMV § 20 Abs. 2 S. 1
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1
Leitsatz:
Bei einer Folgenabwägung im Eilverfahren überwiegt das Interesse, Kinos aus Gründen des Gesundheitsschutzes wegen der Corona-Pandemie geschlossen zu halten.(Rn. 24 – 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Corona-Pandemie, Antrag auf einstweilige Außervollzugsetzung, Normenkontrollverfahren, Kino, Schließung, Folgenabwägung, Feststellung, Geltungsdauer, Eilantrag, Betrieb, Krankheitsfall, Hauptsache, Außervollzugsetzung, Normenkontrollantrag
Fundstelle:
BeckRS 2020, 12010

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Wert des Verfahrensgegenstands wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
1. Die Antragstellerin begehrt mit ihrem Eilantrag gem. § 47 Abs. 6 VwGO der Sache nach, den Vollzug von § 20 Abs. 2 Satz 1 der Fünften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 29. Mai 2020 (vgl. 2126-1-9-G, BayMBl. 2020 Nr. 304, im Folgenden: 5. BayIfSMV) einstweilen auszusetzen, soweit dieser dem Betrieb von Kinos entgegensteht.
2
2. Der Antragsgegner hat am 29. Mai 2020 durch das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege die in der Hauptsache streitgegenständliche Verordnung erlassen. § 20 der 5. BayIfSMV, dessen ersten Satz des zweiten Absatzes die Antragstellerin angreift, lautet in der derzeit gültigen Fassung:
3
„§ 20 Kulturstätten
4
(1) Museen, Ausstellungen, Gedenkstätten, Objekte der Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen und vergleichbare Kulturstätten sowie die Außenanlagen von zoologischen und botanischen Gärten können unter folgenden Voraussetzungen öffnen:
5
1. Für gastronomische Angebote gilt § 13.
6
2. Für Führungen gilt § 11 Abs. 2.
7
3. Es darf nicht mehr als ein Besucher je 20 m² zugänglicher Fläche zugelassen werden.
8
4. Der Betreiber hat ein Schutz- und Hygienekonzept und, falls Besucherparkplätze zur Verfügung gestellt werden, ein Parkplatzkonzept auszuarbeiten und auf Verlangen der zuständigen Kreisverwaltungsbehörde vorzulegen.
9
(2) Theater und Kinos sind geschlossen. Für Aufführungen unter freiem Himmel können Ausnahmegenehmigungen von der zuständigen Kreisverwaltungsbehörde erteilt werden, soweit dies im Einzelfall aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist.
10
Die genannte Bestimmung ist am 30. Mai 2020 in Kraft getreten und wird gem. § 23 Satz 1 der 5. BayIfSMV mit Ablauf des 14. Juni 2020 außer Kraft treten.
11
Ab dem 15. Juni 2020 soll nach einem Beschluss der Staatsregierung des Antragsgegners vom 26. Mai 2020 unter Beachtung eines derzeit in Erarbeitung befindlichen Hygienekonzepts der Betrieb von Kinos grundsätzlich wieder möglich sein (https://...
12
3. Die Antragstellerin, die in den Städten … und … mehrere Kinos betreibt, hat mit Schreiben an das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach vom 1. Juni 2020 - dort eingegangen am 2. Juni 2020 - beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr die Wiedereröffnung ihrer Kinos unter Beachtung eines vorgelegten Schutz- und Hygienekonzepts zu erlauben. Nach Anhörung der Beteiligten hat das Verwaltungsgericht den Rechtsstreit (AN 18 E 20.01038) mit Beschluss vom 3. Juni 2020 an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof verwiesen.
13
Nach entsprechendem Hinweis des Senats beantragt die Antragstellerin durch ihren am 4. Juni 2020 bestellten Bevollmächtigten nunmehr gem. § 47 Abs. 6 VwGO der Sache nach, den Vollzug von § 20 Abs. 2 Satz 1 der 5. BayIfSMV einstweilen auszusetzen, soweit dieser dem Betrieb von Kinos entgegensteht.
14
Zur Begründung trägt sie vor, die Schließung von Kinos verletze sie in ihren Rechten und Grundrechten. Der bundesweit abgestimmte Termin für die Wiedereröffnung der Kinos am 15. Juni 2020 stehe nicht im Zusammenhang mit dem Infektionsschutzgesetz und sei willkürlich und objektiv nicht begründbar. Der Antragsgegner müsse aufgrund der massiven Grundrechtseingriffe differenzierte Regelungen erlassen. Vom 28. Mai 2020 bis zum 14. Juni 2020 werde der Antragstellerin aufgrund der Schließung ein Umsatzverlust i.H.v. 400.000,00 Euro entstehen. Mit der seit dem 18. Mai 2020 geöffneten Außengastronomie der Kinos und der seit dem 25. Mai 2020 geöffneten Innengastronomie der Kinos werde nur ein kleiner Bruchteil des normalen Umsatzes erwirtschaftet. Der ihr mit Ausnahmegenehmigung vom 25. Mai 2020 erlaubte Betrieb eines Open-Air-Kinos könne die - trotz des kühlen Wetters - hohe Nachfrage nicht befriedigen. Mittlerweile hätten die Mehrzahl der Bundesländer und auch Österreich Wiedereröffnungstermine, die vor dem avisierten Termin des Antragsgegners lägen. Die Antragstellerin habe ein behördlich abgestimmtes Schutz- und Hygienekonzept zum Betrieb auch in geschlossenen Räumen erarbeitet, das u.a. bereits für die genannte Kinogastronomie genutzt werde. Danach werde das Abstandsgebot von 1,5 m zwischen Besuchergruppen eingehalten. Der Ticket- und Snackverkauf erfolge weitgehend online, Speisen und Getränke würden am Platz serviert. Die Deluxe Kinosäle in zwei Kinos der Antragstellerin hätten einen Reihenabstand von 2 m und Service am Platz. Während einer Kinovorführung finde - anders als in der Gastronomie und im Theater - keine Unterhaltung statt, sodass auch kaum Aerosole ausgestoßen würden. Die Online-Buchung garantiere im Krankheitsfall eine Kontaktnachverfolgung. Es sei auch nicht nachvollziehbar, dass Kinos nicht wie andere Freizeiteinrichtungen behandelt würden, zumal die wöchentlichen Neuinfektionszahlen pro 100.000 Einwohner im gesamten Einzugsgebiet der Kinos des Antragsstellers mit 2 weit unter der „Alarmschwelle“ von 50 lägen. Auch seien Flug-, Bus- und Bahnreisen wieder möglich.
15
4. Der Antragsgegner tritt dem Eilantrag entgegen. Insbesondere ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz liege nicht vor. Die Begriffe und die Sachverhalte der Gastronomie (§ 13 der 5. BayIfSMV), der Freizeiteinrichtungen (§ 11 der 5. BayIfSMV), der öffentlichen Verkehrsmittel (§ 8 der BayIfSMV) und der Kulturstätten (§ 20 der 5. BayIfSMV), unter die Kinos fielen, seien trotz Überschneidungen wesensverschieden. Anders als in der Gastronomie erfolge in Innenraumkinos in der Regel keine Frischluftzufuhr, sondern eine Belüftung über raumlufttechnische Anlagen. Dies könne zu einer erhöhten Virenkonzentration in der Raumluft und damit zu einem erhöhten Infektionsrisiko führen, sofern kein adäquates Belüftungskonzept vorliege und/oder die Besucher und das Personal nicht konsistent die Maskenpflicht einhielten. Zwar sehe der Schutz- und Hygieneplan der Antragstellerin eine verschärfte Belüftung vor, allerdings sei darin auch festgehalten, dass Besucher, sobald sie den Sitzplatz eingenommen hätten, nicht mehr verpflichtet seien, eine Maske anzulegen. Der Betrieb großer Kinos einschließlich des damit verbundenen gastronomischen Angebots sei eine Situation, die eher mit Veranstaltungen (§ 5 der 5. BayIfSMV) vergleichbar sei. Für Freizeiteinrichtungen, die bisher vorwiegend im Außenbereich zulässig gewesen seien, würden nach § 11 der 5. BayIfSMV bemerkbare Einschränkungen gelten sowohl im Hinblick auf Abstände und Hygienekonzepte als auch für die komplette Maskenpflicht in geschlossenen Räumen und Fahrzeugen (§ 11 Abs. 3 Nr. 2, Abs. 4 der 5. BayIfSMV). Der öffentliche Personennah- und -fernverkehr sei nie unterbunden gewesen und ein insbesondere für Berufspendler notwendigerweise in Anspruch zu nehmender Bereich des täglichen Lebens, in dem die Einhaltung des Abstandsgebots von 1,5 m nicht möglich sei. Der Termin für die Öffnung für Kinos beruhe auf der Empfehlung der Kultus-Ministerkonferenz vom 15. Mai 2020, wonach die Öffnungstermine der Länder möglichst nahe beieinander liegen sollten, da die Filmrechteinhaber, insbesondere auch die internationalen Filmverleiher, neue, publikumswirksame Filme nur in den Markt geben würden, wenn dieser wieder bundesweit zur Verfügung steht. Während sich einzelne Kinobetreiber eine sofortige Öffnung gewünscht hätten, habe der Hauptverband Deutscher Filmtheater e.V. für den 5. Juni 2020 und AG Kino für den Juli 2020 plädiert. Die Kinobetreiber und die Verleiher hätten darum gebeten, eine Öffnungsperspektive mit einigen Wochen Vorlauf zu erhalten, um bauliche Vorbereitungen treffen zu können, sowie für zielgerichtete Werbemaßnahmen. Eine drohende Insolvenz der Antragstellerin sei nicht dargelegt und auch nicht konkret ersichtlich. Eine Abwanderung von Kunden zur Konkurrenz sei mangels Alternative nicht zu befürchten. Des Weiteren könnten Einnahmeverluste zumindest teilweise durch Inanspruchnahme der vom Bund und vom Antragsgegner aus Anlass der Corona-Pandemie bereitgestellten finanziellen Hilfen aufgefangen werden.
16
5. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt (auch in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht AN 18 E 20.01038) Bezug genommen.
II.
17
1. Der zulässige Eilantrag ist unbegründet.
18
a) Der Eilantrag, der seinem Wortlaut nach gerichtet ist auf „Die Außervollzugsetzung der Fünften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung, soweit diese den Betrieb der Kinos der Antragstellerin,... und ... verbietet bzw. untersagt“ und „Der Betrieb der vorbenannten Kinos ist mit sofortiger Wirkung unter Beachtung der derzeit gültigen Hygieneregeln und der Abstands-Schutzvorschriften der Antragsgegner zu erlauben“, ist sachdienlich dahingehend auszulegen, dass die Antragstellerin begehrt, den Vollzug von § 20 Abs. 2 Satz 1 der 5. BayIfSMV einstweilen auszusetzen, soweit dieser dem Betrieb von Kinos entgegensteht.
19
Dem Vorbringen der Antragstellerin ist zu entnehmen, dass sich diese in ihrer Eigenschaft als Kinobetreiberin gegen die 5. BayIfSMV wendet und insoweit § 20 Abs. 2 Satz 1 der 5. BayIfSMV einschlägig ist. Außerdem ist festzustellen, dass der Wortlaut des Eilantrags auf Normergänzung gerichtet ist. Zielt ein Normenkontrollantrag auf Ergänzung einer vorhandenen Norm, ist der Weg der Normenkontrolle nicht eröffnet. § 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO beschränkt den Ausspruch auf die Erklärung der (Teil)-Unwirksamkeit, mithin die (Teil)-Kassation. Eine Ergänzung des Tenors über die Feststellung der Unwirksamkeit hinaus ist nicht möglich (vgl. BVerwG, B.v. 14.7.2011 - 4 BN 8/11 - juris Rn. 5). Es ist nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung grundsätzlich dem Normgeber vorbehalten, welche Konsequenzen er aus der gerichtlich festgestellten Fehlerhaftigkeit zieht. Entsprechendes gilt für den Eilantrag gem. § 47 Abs. 6 VwGO. Ein derartiger Eilantrag, der über die Außervollzugsetzung hinausgeht, ist unstatthaft (vgl. NdsOVG, 14.5.2020 - 13 MN 156/20 - juris Rn. 5 f.; B.v. 28.4.2020 - 13 MN 116/20 - juris Rn. 7; B.v. 27.4.2020 - 13 MN 107/20 - juris Rn. 4 f.; ThürOVG, B.v. 12.5.2020 - 3 EN 287/20 - juris Rn. 6 f.). Im Übrigen könnte auch nur der Teil der Norm „und Kinos“ einstweilen außer Vollzug gesetzt werden. Die Norm enthält keine Aussage zu den von der Antragstellerin betriebenen Kinos.
20
b) Der Eilantrag ist jedoch unbegründet. Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, liegen nicht vor.
21
aa) Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 u.a.‒ juris Rn. 12; OVG NW, B.v. 25.4.2019 - 4 B 480/19.NE - juris Rn. 9). Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann. Das muss insbesondere dann gelten, wenn - wie hier - die in der Hauptsache angegriffene Norm in quantitativer und qualitativer Hinsicht erhebliche Grundrechtseingriffe enthält oder begründet, sodass sich das Normenkontrollverfahren (ausnahmsweise) als zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten erweisen dürfte.
22
Ergibt demnach die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten nicht absehen, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber später Erfolg hätte, und die Folgen, die entstünden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber später erfolglos bliebe. Die für eine einstweilige Außervollzugsetzung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, also so schwer wiegen, dass sie - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 - 4 VR 5.14 u.a. - juris Rn. 12).
23
bb) Nach diesen Maßstäben geht der Senat davon aus, dass die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags in der Hauptsache als offen zu beurteilen sind. Bei der Corona-Pandemie handelt es sich um ein seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland erstmalig auftretendes Ereignis, das derzeit mit bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen gehandhabt wird, die auf eine Pandemie dieser Größenordnung nicht zugeschnitten sind. Es wird deshalb in einem Hauptsacheverfahren zu klären sein, ob die aufgrund der 5. BayIfSMV getroffenen Maßnahmen letztlich mit den Anforderungen des Parlamentsvorbehalts vereinbar sind, da erhebliche Grundrechtseingriffe - ein Betriebsverbot - über einen längeren Zeitraum allein aufgrund §§ 28, 32 IfSG durch die Exekutive erfolgen (vgl. BayVGH, B.v. 14.4.2020 - 20 NE 20.763 - juris Rn. 15; B.v. 14.4.2020 - 20 NE 20.735 - juris Rn. 17). Weiterhin bleibt der Klärung in einem Hauptsacheverfahren vorbehalten, ob und ggf. in welchem Umfang dem Verordnungsgeber ein Beurteilungs- und Wertungsspielraum bei der Entscheidung zusteht, in welchen Schritten und nach welchen Kriterien er die aus Gründen der Unterbrechung von Infektionsketten geschlossenen Bereiche wieder öffnet (s.o.) und inwieweit ein solcher ggf. gerichtlich überprüfbar ist. Ungeklärt ist bislang insbesondere, ob der Begriff der „notwendigen Schutzmaßnahmen“ i.S.d. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG ein Ermessen des Verordnungsgebers eröffnen könnte (vgl. BVerwG, U.v. 22.3.2012 - 3 C 16/11 - BVerwG 142, 205 = juris Rn. 24 ff.), das auch andere als rein infektionsschutzrechtliche Kriterien bei der Lockerung der Maßnahmen umfasst und seine Grenze in der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen (vgl. Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundesseuchengesetzes, BT-Drs. 8/2468, S. 27 < zur Vorgängerregelung in § 34 BSeuchG >) findet (vgl. BayVGH, B.v. 4.6.2020 - 20 NE 20.1163 - S. 5; B.v. 29.5.2020 - 20 NE 20.1165 - Rn. 15).
24
Die vorgenannten Fragen kommen für die Entscheidung des Hauptsacheverfahrens zum Tragen, weil die Antragstellerin der Sache eine Verletzungen ihrer Rechte aus Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG geltend macht und es um die Schließung eines Kinos geht.
25
cc) Gemessen an den vorgenannten Maßstäben geht die danach vorzunehmende Folgenabwägung zu Lasten der Antragstellerin aus.
26
(1) Betrachtet man die Folgen, welche die Antragstellerin zu gewärtigen hätte, wenn die begehrte Außervollzugsetzung nicht angeordnet würde, der Normenkontrollantrag aber später Erfolg hätte, so ergibt sich Folgendes:
27
Der Antragstellerin bliebe der Betrieb ihrer Kinos weiterhin - im Übrigen unter Androhung eines Bußgeldes im Fall des Zuwiderhandelns - verwehrt. Zu den erheblichen Einbußen, welche Kinobetreiber und damit auch die Antragstellerin nun bereits seit nahezu drei Monaten - bei zumindest teilweise weiter laufenden Fixkosten - erlitten haben, würden sich diejenigen Einbußen addieren, die im Zeitraum bis zu dem Außerkrafttreten der befristeten Norm, hier bis zum 14. Juni 2020, zu verzeichnen wären (im Fall der Fortschreibung der Norm durch Nachfolgeverordnung im Zeitraum bis zum Hauptsacheverfahren). Hierbei ist in Rechnung zu stellen, dass nach den Ankündigungen des Antragsgegners der Betrieb von Kinos unter Beachtung eines Hygienekonzepts, das derzeit erarbeitet wird, ab dem 15. Juni 2020 wieder möglich sein soll. Diesen Zeitplan haben weder die Antragstellerin selbst noch, soweit ersichtlich, die Kinobranche bestritten. Die Antragstellerin selbst geht laut ihrem Vorbringen von diesem Datum für die Wiedereröffnung aus. Nicht ausblenden kann der Senat zudem, dass sich augenscheinlich auch der Verband der Kinobetreiber und Verleiher mit Blick auf die Öffnung für einen zeitlichen Vorlauf eingesetzt hat, um Vorbereitungsmaßnahmen treffen zu können, auch wenn die Antragstellerin darlegt, derartige Vorbereitungen bereits getroffen zu haben.
28
Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass Kinobetreiber wie die Antragstellerin gem. § 20 Abs. 2 Satz 2 der 5. BayIfSMV für Aufführungen unter freiem Himmel eine Ausnahmegenehmigung beantragen und erhalten können, soweit dies im Einzelfall infektionsschutzrechtlich vertretbar ist. Diese Möglichkeit existiert bereits seit dem Inkrafttreten von § 20 Abs. 2 Satz 2 der 4. BayIfSMV, mithin seit dem 4. Mai 2020 (vgl. GVBl S. 271, BayMBl Nr. 240, ber. 245, BayRS 2126-1-8-G). Dies bedeutet, dass Einbußen zumindest teilweise insoweit aufgefangen werden konnten und auch derzeit aufgefangen werden können. Von dieser Möglichkeit hat die Antragstellerin Gebrauch gemacht, die seit dem 25. Mai 2020 über eine Ausnahmegenehmigung für den Betrieb eines Open-Air-Kinos verfügt. Dazu können Kinobetreiber wie die Antragstellerin auch ihre Gastronomiebereiche unter Beachtung der Maßgaben aus § 13 5. BayIfSMV nutzen.
29
Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der Bund und der Antragsgegner den Wirtschaftsteilnehmern finanzielle Hilfen in Aussicht gestellt bzw. bereits gewährt haben. Dabei hat der Antragsgegner augenscheinlich speziell für die Branche der Kinobetreiber Starthilfen für die Wiedereröffnung der wegen der Corona-Pandemie geschlossenen Kinos beschlossen (https:// ... Es ist weder dargelegt noch anderweitig ersichtlich, dass und inwieweit davon nicht auch die Antragstellerin profitieren können soll. Dem entspricht es, dass die Antragstellerin zwar mit einem „massiven wirtschaftlichen Schaden“ argumentiert, wobei sie diesen nicht hinreichend konkretisiert, jedenfalls nicht durch Nachweise glaubhaft gemacht hat. Sie beruft sich hingegen nicht auf eine drohende Insolvenz.
30
(2) Betrachtet man dagegen die Folgen, die zu gewärtigen wären, wenn die begehrte Außervollzugsetzung angeordnet würde, dem Normenkontrollantrag aber später kein Erfolg beschieden wäre, so ergibt sich Folgendes:
31
Das pandemische Geschehen dauert weiter an. Das Robert-Koch-Institut (im Folgenden: RKI), dem der Gesetzgeber im Bereich des Infektionsschutzes mit § 4 IfSG besonderes Gewicht eingeräumt hat (vgl. BVerfG, B.v. 10.4.2020 - 1 BvQ 28/20 - juris Rn. 13; BayVerfGH, E.v. 26.3.2020 - Vf. 6-VII-20 - juris Rn. 16), schätzt in der überarbeiteten Risikobewertung vom 26. Mai 2020 die Lage auch gegenwärtig als sehr dynamisch und ernstzunehmend und die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland weiterhin insgesamt (auf einer Skala von “gering“, „mäßig“, „hoch“ bis „sehr hoch“) als hoch, für Risikogruppen als sehr hoch ein (https:// ... vgl. auch den aktuellen Situationsbericht vom 8. Juni 2020, https:// ... DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-06-08-de.pdf? blob=publicationFile).
32
In dieser Situation ergibt eine Folgenabwägung, dass die zu erwartenden Folgen einer Außervollzugsetzung der angegriffenen Norm - insbesondere die mögliche Eröffnung weiterer Infektionsketten mit schwerwiegenden, teilweise irreversiblen grundrechtlichen Implikationen - schwerer ins Gewicht fallen als die Folgen ihres einstweilig weiteren Vollzugs, zumal der Kinobetrieb voraussichtlich ab dem 15. Juni 2020 wieder möglich sein wird.
33
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Da die von der Antragstellerin teilweise angegriffene Verordnung bereits mit Ablauf des 14. Juni 2020 außer Kraft tritt (§ 23 Satz 1 der 5. BayIfSMV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Gegenstandswertes für das Eilverfahren auf der Grundlage von Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit hier nicht angebracht erscheint.
34
3. Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.