Inhalt

VGH München, Beschluss v. 29.05.2020 – 20 NE 20.1067
Titel:

SARS-CoV-2 - Überprüfung des allgemeinen Abstandsgebots, der Kontaktbeschränkung im öffentlichen Raum und des  Besuchsverbots in Krankenhäusern und Altenheimen im Rahmen des Normenkontrollverfahren

Normenketten:
VwGO § 47 Abs. 6
IfSG § 28 Abs. 1 S. 1, § 32 S. 1
BayIfSMV § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1, § 4 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 5, § 21 Nr. 1, Nr. 4
Leitsätze:
1. Der Prüfung durch den Verwaltungsgerichtshof unterliegen nur solche Bestimmungen, aus deren Anwendung sich Rechtsstreitigkeiten ergeben können, für die der Verwaltungsrechtsweg gegeben ist. Auf reine Bußgeldbestimmungen erstreckt sich die Prüfungskompetenz daher nicht. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei der Frage, ob die 4. Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung rechtmäßig ist, kann ein Antragsteller mit der Behauptung einer Verletzung der Art. 48 und 98 BV im Normenkontrollverfahren nicht durchdringen, weil Art. 98 S. 2 BV kein eigenes Grundrecht verbirgt. Auch Art. 48 BV ist nicht relevant, weil die Staatsregierung keine Notstandsmaßnahmen getroffen hat. (Rn. 24 – 25) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei dem allgemeinen Abstandsgebot in § 1 Abs. 1 4. BayIfSMV handelt es sich um einen programmatischen Appell und kein zwingendes und ggf. durchsetzbares Gebot. Die Vollziehung des Abstandsgebotes bedarf deshalb durch die zuständigen Vollzugsbeamten einer Konkretisierung im Einzelfall. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
4. Trotz der kontinuierlichen und spürbaren Abschwächung der Verbreitungsgeschwindigkeit von SARS-CoV-2 gegenüber dem früheren exponentiellen Wachstum ist nicht ersichtlich, dass die Zahl der Neuinfizierten und der gegenwärtig infektiösen Personen bereits so klein ist, dass das Pandemiegeschehen allein durch individuelle Kontrollmaßnahmen beherrschbar wäre. (Rn. 31 – 32) (redaktioneller Leitsatz)
5. Der Staat ist verfassungsrechtlich nicht darauf beschränkt, allein Risikogruppen durch Beschränkungen ihrer eigenen Freiheit zu schützen, sondern er darf vielmehr auch Regelungen treffen, die auch den vermutlich gesünderen und weniger gefährdeten Menschen in gewissem Umfang Freiheitsbeschränkungen abverlangen. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
6. Die Bestimmung des  § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG bezieht sich nicht nur auf den in dessen Halbsatz 1 beschriebenen Personenkreis (Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige, Ausscheider), sondern auch auf „Nichtstörer“. (Rn. 35 – 40) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Corona-Pandemie, einstweiliger Rechtsschutz im Normenkontrollverfahren, allgemeines Abstandsgebot, Kontaktbeschränkung im öffentlichen Raum, Besuchsverbot in Krankenhäusern und Altenheimen, Corona, Pandemie, Eilverfahren, Normenkontrollverfahren, Abstandsgebot, Kontaktbeschränkung, öffentlicher Raum, Besuchsverbot, Krankenhaus, Altenheim, Eilantrag
Fundstelle:
BeckRS 2020, 10400

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Wert des Verfahrensgegenstands wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Mit ihrem Eilantrag nach § 47 Abs. 6 VwGO verfolgt die Antragstellerin das Ziel, den Vollzug mehrerer Bestimmungen der „Vierten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung“ des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 5. Mai 2020 (2126-1-8-G, BayMBl. 2020 Nr. 240, 245, GVBl. 2020 S. 271, im Folgenden: 4. BayIfSMV) einstweilen auszusetzen.
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1. Der Antragsgegner hat am 5. Mai 2020 durch das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege die in der Hauptsache streitgegenständliche Verordnung erlassen. Die von der Antragstellerin angegriffenen Bestimmungen haben in der inzwischen geänderten, bis zum 29. Mai 2020 gültigen Fassung auszugsweise folgenden Wortlaut:
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㤠1 Allgemeines Abstandsgebot, Mund-Nasen-Bedeckung
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(1) Jeder wird angehalten, die physischen Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Angehörigen des eigenen Hausstands auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren. Wo immer möglich, ist ein Mindestabstand zwischen zwei Personen von 1,5 m einzuhalten.
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§ 2 Kontaktbeschränkung im öffentlichen Raum
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(1) Der Aufenthalt mehrerer Personen im öffentlichen Raum ist so zu gestalten, dass er höchstens den Kreis der Angehörigen des eigenen Hausstands, Ehegatten, Lebenspartner, Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, Verwandte in gerader Linie, Geschwister sowie Angehörige eines weiteren Hausstands umfasst.
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§ 4 Spezielle Besuchsverbote
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(1) Untersagt wird der Besuch von
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1. Krankenhäusern sowie Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen, in denen eine den Krankenhäusern vergleichbare medizinische Versorgung erfolgt (Einrichtungen nach § 23 Abs. 3 Nr. 1 und 3 IfSG); ausgenommen hiervon sind Geburts- und Kinderstationen für engste Angehörige sowie Palliativstationen und Hospize,
(…)
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5. Altenheimen und Seniorenresidenzen.
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§ 21 Ordnungswidrigkeiten
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Ordnungswidrig im Sinne des § 73 Abs. 1a Nr. 24 IfSG handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig
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1. entgegen § 2 Abs. 1 sich mit weiteren Personen im öffentlichen Raum aufhält,
(…)
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4. entgegen § 4 Abs. 1 Satz 1 eine der genannten Einrichtungen besucht,“
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Die genannten Bestimmungen sind am 11. Mai 2020 in Kraft getreten und treten mit Ablauf des 29. Mai 2020 außer Kraft (§ 24 Satz 1 4. BayIfSMV).
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2. Die Antragstellerin, die in Bayern wohnt, hat mit Schriftsatz vom 7. Mai 2020, beim Verwaltungsgerichtshof eingegangen am selben Tag, einstweiligen Rechtsschutz nach § 47 Abs. 6 VwGO beantragt und die Außervollzugsetzung der § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1, § 4 Abs. 1 Nr. 1 und 5, § 21 Nr. 1 und 4 4. BayIfSMV begehrt. Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, die 4. BayIfSMV sei wegen Verletzung von Art. 48 und 98 BV sowie des Zitiergebots nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG formell verfassungswidrig. § 1 Abs. 1 4. BayIfSMV sei nicht hinreichend bestimmt; nicht zu erkennen sei, was mit „absolut nötigen Minimum“ und „wo immer möglich“ gemeint sei. Die § 32 Satz 1 und § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG enthielten keine Rechtsgrundlage für Maßnahmen gegen „Nichtstörer“ und seien nicht hinreichend bestimmt. Die angegriffenen Regelungen seien weder geeignet noch erforderlich. Für das Vorliegen einer erheblichen Gesundheitsgefährdung gebe es keine wissenschaftlich evidenzbasierte Grundlage; bei SARS-CoV-2 handle es sich um ein harmloses Grippevirus. Regelungen, die sich auf die Risikogruppen beschränkten, seien völlig ausreichend. Das Besuchsverbot verletze das Selbstbestimmungsrecht alter oder kranker Menschen. Der Antrag sei wegen § 17 Abs. 2 GVG auch hinsichtlich § 21 4. BayIfSMV zulässig.
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3. Der Antragsgegner tritt dem Eilantrag entgegen. Das Abstandsgebot in § 1 Abs. 1 4. BayIfSMV sei ein programmatischer Appell ohne vollziehbare Regelung. Die Kontaktbeschränkung des § 2 Abs. 1 4. BayIfSMV ersetze als „gelockerte“ Regelung die vom Senat bestätigte frühere Ausgangsbeschränkung. Die Besuchsverbote des § 4 Abs. 1 Nr. 1 und 5 4. BayIfSMV, die zum 9. Mai 2020 gelockert worden seien, schützten besonders gefährdete Menschen vor dem hochansteckenden Virus in Krankenhäusern, Pflegeinrichtungen und Altenheimen. Die Bestimmung des § 21 4. BayIfSMV sei kein tauglicher Prüfungsgegenstand im Normenkontrollverfahren.
II.
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1. Der Eilantrag ist unzulässig, soweit er darauf gerichtet ist, die rein ordnungswidrigkeitsrechtliche Bestimmung des § 21 Nr. 1 und 4 4. BayIfSMV außer Vollzug zu setzen. Da der Verwaltungsgerichtshof nach § 47 Abs. 1 Satz 1 VwGO nur „im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit“ über die Gültigkeit von Normen entscheidet, unterliegen seiner Prüfung nur solche Bestimmungen, aus deren Anwendung sich Rechtsstreitigkeiten ergeben können, für die der Verwaltungsrechtsweg gegeben ist (vgl. Panzer in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand 7/2019, § 47 Rn. 33; Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 28). Auf reine Bußgeldbestimmungen - wie hier § 21 Nr. 1 und 4 4. BayIfSMV - erstreckt sich die Prüfungskompetenz der Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht, weil gegen die auf solche Normen gestützten Bußgeldbescheide nach § 68 OWiG allein die ordentlichen Gerichte angerufen werden können (vgl. BVerwG, U.v. 17.2.2005 - 7 CN 6.04 - juris Rn. 14; BVerwG, B.v. 27.7.1995 - 7 NB 1.95 - juris Rn. 21, OVG LSA, U.v. 17.3.2010 - 3 K 319/09 - juris Rn. 57). Der Hinweis der Antragstellerin auf § 17 Abs. 2 GVG geht deshalb fehl.
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2. Im Übrigen ist der Eilantrag zulässig, hat in der Sache aber keinen Erfolg.
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Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, liegen nach Auffassung des Senats nicht vor.
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a) Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 u.a.‒ juris Rn. 12; zustimmend OVG NW, B.v. 25.4.2019 - 4 B 480/19.NE - juris Rn. 9). Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann. Das muss insbesondere dann gelten, wenn - wie hier - die in der Hauptsache angegriffenen Normen in quantitativer und qualitativer Hinsicht erhebliche Grundrechtseingriffe enthalten oder begründen, sodass sich das Normenkontrollverfahren (ausnahmsweise) als zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten erweisen dürfte.
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Ergibt demnach die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist.
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b) Nach diesen Maßstäben kommt eine vorläufige Außervollzugsetzung der mit dem Normenkontrollantrag der Antragstellerin angegriffenen § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 und § 4 Abs. 1 Nr. 1 und 5 4. BayIfSMV nicht in Betracht. Bei summarischer Prüfung bestehen gegen die angegriffenen Bestimmungen keine durchgreifenden Bedenken. Diese finden voraussichtlich in § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG eine hinreichende gesetzliche Grundlage und stehen mit höherrangigem Recht im Einklang.
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aa) Der Senat hat sich bereits in mehreren Eilentscheidungen (BayVGH, B.v. 30.3.2020 - 20 NE 20.632 - NJW 2020, 1236; B.v. 9.4.2020 - 20 NE 20.663 - BeckRS 2020, 5446; 20 NE 20.688 - BeckRS 2020, 5449; 20 NE 20.704 - BeckRS 2020, 5450; B.v. 28.4.2020 - 20 NE 20.849 - BeckRS 2020, 7227) mit der Außervollzugsetzung von Teilregelungen der 1. und 2. BayIfSMV auseinandergesetzt. Dabei ist er im Rahmen der Eilverfahren davon ausgegangen, dass die Bestimmungen formell wirksam sein und in § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG eine wirksame Rechtsgrundlage finden dürften, die - jedenfalls bei verfassungskonformer Auslegung - nicht gegen höherrangiges Recht verstößt (vgl. auch zum Begriff der Schutzmaßnahme BayVGH, B.v. 30.3.2020 - 20 CS 20.611 - juris Rn. 9 ff.). Der Senat hat sich insbesondere auch mit den von der Antragstellerin gerügten Verstößen gegen das Bestimmtheitsgebot aus Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG (BayVGH, B.v. 30.3.2020 - 20 NE 20.632 - juris Rn. 40 ff.) und gegen das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG befasst (BayVGH, B.v. 12.5.2020 - 20 NE 20.1080 - juris Rn. 13 f.). Auf die diesbezüglichen Begründungen wird verwiesen.
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Soweit die Antragstellerin darüber hinausgehend die Verletzung der Art. 48 und 98 BV rügt, kann sie ebenfalls nicht durchdringen. Art. 98 Satz 2 BV befasst sich mit der Einschränkung von Grundrechten und verbürgt für sich allein kein Grundrecht. Unter welchen Voraussetzungen Beschränkungen in Betracht kommen, ist nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs für das jeweilige Grundrecht zu entscheiden (BayVerfGH, E.v. 11.4.2017 - Vf. 12-VII-16 - juris Rn. 24 m.w.N.; Lindner/Wolff in Lindner/Möstl/Wolff, BV, 2. Aufl. 2017, Art. 98 Rn. 2). Art. 48 BV ist nicht relevant, weil die Staatsregierung keine Notstandsmaßnahme nach dieser Vorschrift getroffen hat. Ob dessen Voraussetzungen vorlägen, ist daher unerheblich. Darüber hinaus prüft das Normenkontrollgericht nach § 47 Abs. 3 VwGO die Vereinbarkeit der beanstandeten Regelungen mit den Grundrechten der Bayerischen Verfassung nicht (BayVerfGH, B.v. 23.3.1984 - Vf. 33-VI-82 - VerfGHE 37, 35 = BayVBl 1984, 460).
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bb) Nach den in den angeführten Entscheidungen des Senats dargestellten Maßstäben sind auch die von der Antragstellerin angegriffenen Bestimmungen der § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 und § 4 Abs. 1 Nr. 1 und 5 4. BayIfSMV als Bestandteil des zugrunde liegenden Gesamtkonzepts zum Schutz vor einer ungehinderten Ausbreitung des Infektionsgeschehens bei summarischer Prüfung von § 28 Abs. 1 IfSG gedeckt.
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(1) Bei dem allgemeinen Abstandsgebot (§ 1 Abs. 1 4. BayIfSMV) handelt es sich nach der Rechtsprechung des Senats um einen programmatischen Appell und kein zwingendes und ggf. durchsetzbares Gebot (BayVGH, B.v. 30.3.2020 - 20 NE 20.632 - juris Rn. 49 ff.). Die Vollziehung des Abstandsgebotes bedarf deshalb einer Konkretisierung im Einzelfall (Art. 35 Satz 1 BayVwVfG) durch die zuständigen Vollzugsbeamten. Das Gegenvorbringen der Antragstellerin, einer solchen Auslegung stehe ihre Bußgeldbewehrung entgegen, geht ins Leere. § 21 4. BayIfSMV enthält keinen darauf gerichteten Ordnungswidrigkeitstatbestand, weder in seiner Fassung vom 5. Mai 2020 (BayMBl. 240, 245), die die Antragstellerin in der Hauptsache angreift, noch in der aktuell gültigen Fassung vom 20. Mai 2020 (BayMBl. Nr. 287).
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(2) Die Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum (§ 2 Abs. 1 4. BayIfSMV), die zusammen mit der Kontaktbeschränkung im privaten Raum (§ 3 4. BayIfSMV) und der Sonderregelung für Spielplätze (§ 10 4. BayIfSMV) an die Stelle der früheren Ausgangsbeschränkungen (vgl. dazu BayVerfGH, E.v. 26.3.2020 - Vf. 6-VII-20 - juris und v, 24.4.2020 - Vf. 29-VII-20 - juris) getreten sind und seitdem weiter gelockert wurden, begegnen keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
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(a) Gegenstand des Eilantrags ist § 2 Abs. 1 4. BayIfSMV in der seit dem 8. Mai 2020 geltenden Fassung (BayMBl. 2020 Nr. 247), mit der die Wörter „eine weitere Person“ durch die Wörter „Angehörige eines weiteren Hausstands“ ersetzt wurden.
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(b) Die Kontaktbeschränkung ist voraussichtlich von der Verordnungsermächtigung in § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG gedeckt. Die vom Senat zur früheren allgemeinen Ausgangsbeschränkung angeführten Erwägungen (BayVGH, B.v. 30.3.2020 - 20 NE 20.632 - juris Rn. 54 ff.; B.v. 9.4.2020 - 20 NE 20.663 - juris Rn. 38 ff.) - insbesondere zur Geeignetheit und Erforderlichkeit dieser Schutzmaßnahme - gelten insoweit entsprechend. In Bezug auf die Verhältnismäßigkeit ist zu berücksichtigen, dass sich die allgemeine Kontaktbeschränkung als weniger „streng“ erweist als die außer Kraft getretenen allgemeinen Ausgangsbeschränkungen (vgl. BayVerfGH, E.v. 8.5.2020 - Vf. 34-VII-20 - juris Rn. 116).
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(c) Das Vorbringen der Antragstellerin, für das Vorliegen einer erheblichen Gesundheitsgefährdung gebe es keine wissenschaftlich evidenzbasierte Grundlage, weil es sich bei SARS-CoV-2 um ein „harmloses Grippevirus“ handle, steht im Widerspruch zu den Einschätzungen des Robert-Koch-Instituts (RKI), denen der Gesetzgeber im Bereich des Infektionsschutzes besonderes Gewicht eingeräumt hat (BayVerfGH, E.v. 26.3.2020 - Vf. 6-VII-20 - juris Rn. 16; vgl. auch BVerfG, B.v. 10.4.2020 - 1 BvQ 28/20 - juris Rn. 13). Nach der weiterhin geltenden Risikobewertung des RKI vom 30. April 2020 (https://www.r...de/DE/Co../ Risikobewertung.html) wird die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland insgesamt als hoch eingeschätzt, für Risikogruppen als sehr hoch. Bayern ist unter den Bundesländern nach wie vor am stärksten betroffen. Nach dem täglichen Lage-/Situationsbericht des RKI zu COVID-19 vom 25. Mai 2020 (https://www.r...de/DE/C...File) beträgt hier bezogen auf 100.000 Einwohner die Zahl der labordiagnostisch bestätigten COVID-19-Fälle 354 (Bundesdurchschnitt 215) und der Todesfälle 18,2 (Bundesdurchschnitt 9,9).
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Die Einschätzung des Normgebers, dass eine Gefahrenlage für Leib und Leben einer Vielzahl von Menschen mit einer nicht auszuschließenden Überforderung der Kapazitäten des Gesundheitssystems nach wie vor gegeben ist, ist deshalb nachvollziehbar. Trotz der kontinuierlichen und spürbaren Abschwächung der Verbreitungsgeschwindigkeit gegenüber dem früheren exponentiellen Wachstum ist nicht ersichtlich, dass die Zahl der Neuinfizierten und der gegenwärtig infektiösen Personen bereits so klein ist, dass das Pandemiegeschehen allein durch individuelle Kontrollmaßnahmen beherrschbar wäre. Damit steht weiterhin außer Frage, dass die Zahl der Ansteckungen - mit den entsprechenden Gefahren für die Gesundheit und das Leben von Menschen, auch angesichts einer nach wie vor möglichen Überlastung des Gesundheitssystems - bei ungehinderten persönlichen Kontakten wieder erheblich zunehmen könnte (vgl. BayVerfGH, E.v. 8.5.2020 - Vf. 34-VII-20 - juris Rn. 106 ff.).
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(d) Erfolglos bleibt auch das Vorbringen der Antragstellerin, die Regelungen seien nicht erforderlich, weil Schutzmaßnahmen ausreichten, die sich alleine gegen Risikogruppen richten. Der Staat ist verfassungsrechtlich keineswegs darauf beschränkt, den Schutz gesundheits- und lebensgefährdeter Menschen allein durch Beschränkungen ihrer eigenen Freiheit zu bewerkstelligen. Vielmehr darf er Regelungen treffen, die auch den vermutlich gesünderen und weniger gefährdeten Menschen in gewissem Umfang Freiheitsbeschränkungen abverlangen, wenn gerade hierdurch auch den stärker gefährdeten Menschen, die sich ansonsten über längere Zeit vollständig aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückziehen müssten, ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Teilhabe und Freiheit gesichert werden kann. Abgesehen davon dürfte die von der Antragstellerin befürwortete Strategie des Selbstschutzes von Risikogruppen schon deshalb erheblichen praktischen Schwierigkeiten begegnen, weil nahezu ein Drittel der Bevölkerung 60 Jahre alt und älter und damit besonders gefährdet ist (BVerfG, B.v. 13.5.2020 - 1 BvR 1021/20 - juris Rn. 9).
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(3) Auch eine vorläufige Außervollzugsetzung der mit dem Normenkontrollantrag angegriffenen speziellen Besuchsverbote in Krankenhäusern und vergleichbaren Einrichtungen sowie in Altenheimen und Seniorenresidenzen (§ 4 Abs. 1 Nr. 1 und 5 4. BayIfSMV) kommt nach den oben dargestellten Maßstäben nicht in Betracht.
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(a) § 4 Abs. 1 Nr. 1 und 5 4. BayIfSMV ist nach summarischer Prüfung von der Verordnungsermächtigung in § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG gedeckt.
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Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 Alt. 2 IfSG in der Fassung vom 19. Mai 2020 (BGBl. I S. 1018) kann die zuständige Behörde insbesondere Personen verpflichten, von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten. Die Bestimmung bezieht sich entgegen der Auffassung der Antragstellerin nicht nur auf den in Halbsatz 1 beschriebenen Personenkreis (Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige, Ausscheider), sondern auch auf „Nichtstörer“. Aus ihrem Wortlaut folgt nicht, dass nur der in Halbsatz 1 bezeichnete Personenkreis Adressat einer Schutzmaßnahme sein kann; vielmehr können sich solche auch gegen (sonstige) Dritte („Nichtstörer“) richten (vgl. BVerwG, U.v. 22.3.2012 - 3 C 16.11 - juris Rn. 26; VGH BW, B.v. 9.4.2020 - 1 S 925/20 - juris Rn. 33). Die Regelung beinhaltet eine weitere beispielhafte Aufzählung der im Halbsatz 1 genannten „notwendigen Schutzmaßnahmen“, die neben die in §§ 29 bis 31 IfSG genannten Schutzmaßnahmen treten (OVG Berlin-Bbg, B.v. 3.4.2020 - OVG 11 S 14/20 - juris Rn. 9). Diese Wortlautauslegung wird auch durch die Gesetzesmaterialien gestützt. Der Gesetzgeber wollte mit der Neuregelung an die Vorgängerregelungen des § 28 IfSG und damit auch an die Bestimmung des § 34 BSeuchG anknüpfen (BT-Drs. 19/18111 S. 25). Im Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes hat er zu § 34 BSeuchG ausdrücklich klargestellt, dass Maßnahmen nicht nur gegen die in Satz 1 (seinerzeit neu) Genannten (Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige usw.) in Betracht kämen, sondern auch gegenüber „Nichtstörern“ (BT-Drs. 8/2468 S. 27).
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Die Bestimmung wahrt nach summarischer Prüfung auch den strengen Verhältnismäßigkeitsvorbehalt, an den der Verordnungsgeber nach § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG inhaltlich („soweit“) und zeitlich („solange“) gebunden ist. Die angegriffene Regelung enthält kein striktes Besuchsverbot mehr, sondern erlaubt einmal täglich den Besuch einer Person aus dem Kreis der in § 3 Satz 1 4. BayIfSMV genannten Familienangehörigen, bei Minderjährigen auch von Eltern oder Sorgeberechtigten gemeinsam (§ 4 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 4. BayIfSMV). Damit werden die erheblich nachteiligen Folgen der bisherigen Isolierung zumindest gemildert (vgl. auch BayVerfGH, E.v. 8.5.2020 - Vf. 34-VII-20 - juris Rn. 123). Die Begleitung Sterbender durch den engsten Familienkreis ist jederzeit zulässig (§ 4 Abs. 3 4. BayIfSMV).
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Soweit die Antragstellerin vorbringt, sie dürfe eine gute langjährige Freundin (84 Jahre alt), die im Krankenhaus liege und zunehmend depressiv sei, nur 20 Minuten pro Tag und ohne Berührung besuchen, zeigt sie keine unverhältnismäßige persönliche Betroffenheit auf. Auch wenn das bei den Besuchen in Krankenhäusern geltende Abstandsgebot (vgl. § 4 Abs. 2 Satz 3 4. BayIfSMV) bestimmte Personengruppen, wie z.B. psychisch Erkrankte, besonders hart treffen mag, bedeutet dies nicht, dass die Befolgung der Hygiene-Empfehlungen des RKI für sie unzumutbar wäre (vgl. BVerfG, B.v. 1.5.2020 - 1 BvQ 42/20 - juris Rn. 10 zur Anwendung der Hygiene-Empfehlungen bei therapeutischer und ärztlicher Hilfe für psychisch Erkrankte).
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Auch ihr Einwand, die Regelung verletze das Selbstbestimmungsrecht alter oder kranker Menschen, denen es frei stehen müsse, sich selbst zu gefährden, geht fehl. Die Antragstellerin verkennt, dass es nicht nur um den Schutz des Einzelnen, sondern auch um denjenigen aller anderen Bewohner wie auch des Personals der Einrichtungen geht. Ihr Vorwurf, die angegriffene Regelung sei mangels Besuchsverbots für in den eigenen vier Wänden lebende Senioren inkonsistent, greift schon deshalb zu kurz. Hinzu kommt, dass der Normgeber besonders bei Massenerscheinungen generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen treffen darf, ohne wegen der damit unvermeidlich verbundenen Härten gegen den Gleichheitsgrundsatz zu verstoßen; Unebenheiten, Friktionen und Mängel sowie gewisse Benachteiligungen in besonders gelagerten Einzelfällen, die sich im Zusammenhang mit Differenzierungen ergeben, müssen in Kauf genommen werden, solange sich für das insgesamt gefundene Regelungsergebnis ein plausibler, sachlich vertretbarer Grund anführen lässt (BayVerfGH, E.v. 15.5.2020 - Vf. 34-VII-20 - juris Rn. 12).
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Soweit die Antragstellerin vorbringt, dass auch das Pflegepersonal das Virus innerhalb der Einrichtungen übertragen kann, ist dem entgegenzuhalten, dass das von Besuchern ausgehende Infektionsrisiko für den gesundheits- und/oder altersbedingt besonders gefährdeten Personenkreis zu dem nicht gänzlich vermeidbaren Gefährdungsrisiko durch das Personal kumulativ hinzutritt. Abgesehen davon verfügt das Pflegepersonal über besondere Schutzausrüstung und ist hinsichtlich zu beachtender Sicherheitsvorkehrungen besonders instruiert und fachlich versiert (vgl. auch OVG Berlin-Bbg, B.v. 3.4.2020 - OVG 11 S 14/20 - juris Rn. 12).
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(b) Aber selbst wenn man davon ausginge, dass die Erfolgsaussichten in der Hauptsache als offen anzusehen wären, würde jedenfalls die Folgenabwägung zu dem Ergebnis führen, dass der Eilantrag abzulehnen ist.
42
Durch den weiteren Vollzug der angegriffenen Verordnung wird die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 101 BV) sowohl der in diesen Einrichtungen untergebrachten Menschen als auch derjenigen, die sie besuchen wollen, aber nicht dürfen, erheblich beeinträchtigt. Die mittelbaren Folgen einer solchen Isolierung können gravierend sein und ihrerseits zu massiven Gesundheitsbeeinträchtigungen führen. Würde der Vollzug der Verordnung jedoch ausgesetzt, wäre die Gefahr einer Einbringung des Virus in die u.a. durch das Besuchsverbot geschützten Einrichtungen durch einen nicht reglementierten Besucherverkehr stark erhöht. Patienten in Krankenhäusern und ähnlichen Einrichtungen sowie Bewohner von Altenheimen und Seniorenresidenzen (vgl. hierzu RKI, Prävention und Management von COVID-19 in Alten- und Pflegeeinrichtungen und Einrichtungen für Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen, Stand 20.5.2020, S. 4, https://www.r...de/DE/C../InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Alten_Pflegeeinrichtung_Empfehlung.pdf?_blob=publicationFile) gehören aufgrund ihrer persönlichen Konstitution und/oder ihres Lebensalters, aber auch aufgrund ihrer gemeinsamen räumlichen Unterbringung, zu den von der Erkrankung mit COVID-19 besonders gefährdeten Personengruppen. Dies belegen zahlreiche COVID-19-Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen und Krankenhäusern in Deutschland, bei denen die Zahl der Verstorbenen vergleichsweise hoch ist (vgl. Lagebericht des RKI v. 25.5.2020, a.a.O., S. 6).
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Da die von der Antragstellerin teilweise angegriffene Verordnung bereits mit Ablauf des 29. Mai 2020 außer Kraft tritt (§ 24 Satz 1 4. BayIfSMV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Gegenstandswertes für das Eilverfahren auf der Grundlage von Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit hier nicht angebracht erscheint.
44
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).