Inhalt

LG München I, Beschluss v. 29.01.2019 – 28 Qs 5/19
Titel:

Beschwerde von Angeklagten- Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger

Normenkette:
StPO § 140 Abs. 1 Nr. 9 u. Abs. 2, § 147 Abs. 4, § 397
Schlagworte:
Pflichtverteidiger, Nebenklage, Bestellung eines Pflichtverteidigers, Rechtsschutzversicherung, erhebliche Verfahrensverzögerungen, Polizeidienst, Umsetzungsfrist, Frustrationsverbot, Verteidigungsdefizit
Vorinstanz:
AG München, Beschluss vom 10.01.2019 – 1116 Ds 233 Js 220515/17
Fundstelle:
BeckRS 2019, 724

Tenor

1. Auf die Beschwerde des Angeklagten ... gegen den Beschluss des Amtsgerichts München vom 10.01.2019 wird dieser aufgehoben. Dem Angeklagten wird Rechtsanwalt Philipp Marquort, Exerzierplatz 32, 24103 Kiel, beigeordnet.
2. Die Staatskasse hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die Auslagen des Beschwerdeführers zu tragen.

Gründe

I.
1
Gegen den Beschwerdeführer wurde mit Anklageschrift vom 18.05.2018 Anklage erhoben. Darin legt die Staatsanwaltschaft München I dem Angeklagten unter anderem zur Last, dass dieser anlässlich der Durchsuchung seiner Wohnung am 24.11.2017 gegen 22:30 Uhr die Polizeibeamtin PMin ... beleidigt und den Polizeibeamten PK ... der den Angeklagten fixieren wollte, am Daumen verletzt habe. Als Zeugen für diesen Sachverhalt wurden seitens der Staatsanwaltschaft die bei dem Polizeieinsatz anwesenden Zeugen ... genannt. Bei diesen handelt es sich allesamt um Angehörige der bayrischen Polizei.
2
Mit Beschluss vom 07.11.2018 wurde dem bereits mit Schriftsatz vom 07.12.2017 gestellten Antrag auf Zulassung der Nebenklage des Zeugen ... stattgegeben. Der Nebenkläger wird von der Kanzlei ... vertreten.
3
Mit Antrag vom 07.01.2019 beantragte Rechtsanwalt Philipp Marquort seine Beiordnung als Pflichtverteidiger des Angeklagten gemäß § 140 Abs. 2 StPO. Hierin verwies er auf die Entscheidung des LG Bielefeld vom 15.06.2016, 6 Qs 246/16 VIII, und den Grundsatz der Waffengleichheit. Der Geschädigte sei als Nebenkläger anwaltlich vertreten.
4
Mit Verfügung vom 10.01.2019 nahm die Staatsanwaltschaft München I dahingehend Stellung, dass ein Fall der notwendigen Verteidigung nicht gegeben sei. Die Sach- und Rechtslage sei nicht schwierig. Allein der Umstand, dass der Geschädigte anwaltlich vertreten sei, genüge für das Vorliegen der notwendigen Verteidigung nicht.
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Mit Beschluss des Amtsgerichts München vom 10.01.2019 wurde der Beiordnungsantrag abgelehnt. Aus Gründen des fairen Verfahrens sei eine Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht erforderlich. Dass die Zeugen und der Geschädigte alle Polizeibeamten seien und letzterer zudem als Nebenkläger mit einem Anwalt beigetreten sei, bringe den Angeklagten in keine unterlegene Position. Der Angeklagte habe keine Sprachprobleme und ein umfassendes Fragerecht. Zudem habe er inzwischen gemäß § 147 Abs. 4 StPO - anders als noch im Zeitpunkt der Entscheidung durch das LG Bielefeld - ein umfassendes Recht auf Akteneinsicht.
6
Hiergegen legte Rechtsanwalt Marquort mit Schriftsatz vom 11.01.2019 Beschwerde ein. Da der Nebenkläger zwischenzeitlich Schadensersatzansprüche im Wege der Zivilklage geltend gemacht habe, führe dies dazu, dass ein Fall des § 140 Abs. 2 StPO gegeben sei. Die Bestellung eines Pflichtverteidigers ergebe sich außerdem aus einer teleologischen Reduktion des § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO und aus Art. 3 GG. Der Nebenkläger sei wohl rechtsschutzversichert bzw. der Freistaat übernehme höchstwahrscheinlich die Kosten der Nebenklage. Die Rechtsschutzversicherung des Angeklagten trete hingegen im Fall einer Strafverteidigung außerhalb von Verkehrsdelikten nicht ein. Letztlich sei auch die Richtlinie des Europäischen Parlaments vom 26.10.2016, (EU) 2016/1919, die von Deutschland bislang nicht umgesetzt wurde, zu berücksichtigen.
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Das Amtsgericht München half der Beschwerde vom 10.01.2019 mit Beschluss vom 14.01.2019 nicht ab. Ein Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO liege nicht vor. Die vom Geschädigten erhobene Zivilklage führe zu keiner anderen Betrachtung. Der Angeklagte könne im Zivilverfahren von seiner eventuell bestehenden Rechtsschutzversicherung Gebrauch machen. Die zivilrechtlichen Ansprüche seien im Strafverfahren nicht Gegenstand der Prüfung. Aus der genannten Richtlinie ergebe sich nichts anderes.
II.
8
Die zulässige Beschwerde ist begründet.
9
1. Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO vor.
10
a. Hat sich der Verletzte auf eigene Kosten oder im Wege von Prozesskostenhilfe eines anwaltlichen Beistands versichert, folgt aus diesem möglichen strukturellen Verteidigungsdefizits noch keine zwingende Beiordnungsnotwendigkeit. Notwendig aber auch hinreichend ist eine an den Umständen des Einzelfalls orientierte gerichtliche Prüfung der Fähigkeit des Angeklagten zur Selbstverteidigung, wobei namentlich die rechtlichen Befugnisse des Verletzten einerseits und das Verteidigungsverhalten des Angeklagten sowie die Komplexität von Anklagevorwurf und Beweislage andererseits einzustellen sind. Hierbei kommt insbesondere einer differenzierenden Betrachtung der dem Verletzten im Einzelfall konkret zustehenden rechtlichen Befugnisse besondere Bedeutung zu. Zu bedenken ist, dass der nebenklagende Verletzte mit den in § 397 StPO geregelten prozessualen Gestaltungsrechten sowie mit seinen weitreichenden Informationsrechten (vgl. § 406 e Abs. 1 S. 2 StPO) eine mit der Stellung der Anklagebehörde korrespondierende Verfahrensrolle innehat (OLG Hamburg, 1 Ws 160/15, BeckRs 2016, 48, amtliche Leitsätze, vgl. auch § 140 Rdnr. 25 BeckOK StPO, vgl. BT-Drs. 17/6261, 11, wonach eine Einzelfallprüfung stattfinden muss). Dem hierdurch begründeten strukturellen Verteidigungsdefizit kann durch die gerichtliche Fürsorge für den in der Hauptverhandlung unverteidigten Angeklagten nicht in jedem Fall in geeigneter Weide begegnet werden, zumal bei vielfachen gerichtlichen Hinweisen an den Angeklagten erhebliche Verfahrensverzögerungen auch wegen hierdurch veranlasster Ablehnungsgesuche des anwaltlich vertretenen Verletzten zu besorgen sind. Daher begründet die dem anwaltlich vertretenen Nebenkläger gegebene Verfahrensmacht regelmäßig bereits für sich die Annahme eines die Beiordnung erfordernden strukturellen Verteidigungsdefizits, es sei denn die Sachlage ist ausnahmsweise rechtlich wie tatsächlich ganz besonders einfach gelagert (OLG Hamburg, 1 Ws 160/15, BeckRs 2016, 48, Rdnr. 12).
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b. Im vorliegenden Fall kann von einer einfachen Sachlage nicht die Rede sein. Der Angeklagte ist nicht geständig. Ihm stehen die Aussagen von mindestens 5 Zeugen gegenüber, die alle wie die Geschädigten ... und ... als Polizeibeamte vor Ort waren und daher im Lager des Nebenklägers ... stehen dürften. Dem Amtsgericht ist zwar zuzustimmen, dass anders als im Fall des LG Bielefeld die rechtliche Würdigung des Widerstands weniger Schwierigkeiten macht. Auch steht dem Angeklagten inzwischen ein umfassendes Akteneinsichtsrecht zu. Das Amtsgericht verkennt aber, dass im Fall des LG Bielefeld der Geschädigte nicht als anwaltlich vertretener Nebenkläger beigetreten war. Das Landgericht hatte bereits allein auf Grund der Vielzahl der Belastungszeugen aus dem Polizeidienst und der rechtlichen Problematik einen Fall der notwendigen Verteidigung angenommen, ohne dass der Geschädigte zusätzlich noch als Nebenkläger mit Anwalt auftrat.
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Die oben unter II. 1.a. genannten Grundsätze auf den hiesigen Fall übertragen, führen hingegen zu folgendem Ergebnis: Auch mit umfassendem Akteneinsichtsrecht des Angeklagten liegt auf Grund der anwaltlich vertretenen Nebenklage und der damit einhergehenden Gestaltungsrechte sowie der anstehenden Vernehmungen von mehreren Angehörigen des Polizeidienstes, bei denen es für den Angeklagten gilt, Widersprüche in den Zeugenangaben herauszuarbeiten, ein strukturelles Verteidigungsdefizit und damit ein Fall der notwendigen Verteidigung vor.
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c. Die Frage, ob die vom Verteidiger erwähnte Richtlinie, die zwar bereits in Kraft ist, deren Umsetzungsfrist aber noch nicht abgelaufen ist, etwaige Vorwirkungen auf Grund des im Europarecht bestehenden Frustrationsverbots entfaltet und deshalb bei der Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO zu berücksichtigen ist, kann letztlich dahinstehen. Ebenfalls unerheblich ist, dass der Geschädigte bereits eine Zivilklage erhoben hat, für die der Ausgang des Strafverfahrens keine Präjudizwirkung entfaltet.
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2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 467 Abs. 1 StPO.