Inhalt

LG München I, Beschluss v. 04.06.2019 – 33 O 12196/17
Titel:

Automatische Umstellung auf regulierten Mobilfunktarif - Materielle Opt-out-Regelung

Normenkette:
VO (EU) 531/2012, Art.6a, Art. 6e Abs. 3
Leitsatz:
Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV zur Auslegung von Art. 6a und 6e Abs. 3 VO (EU) Nr. 531/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juni 2012 über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen in der Union folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Sind Art. 6a und 6e Abs. 3 der VO (EU) Nr. 531/2012 so auszulegen, dass Mobilfunkanbieter zum 15. Juni 2017 alle Kunden automatisch auf den regulierten Tarif nach Art. 6a der VO (EU) Nr. 531/2012 umstellen müssen, unabhängig davon, ob diese Kunden bis dahin einen regulierten Tarif oder einen speziellen, so genannten alternativen Roaming-Tarif besaßen? (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Roaming, Verbraucher, Tarif, Regulierung, Mobilfunk, Opt-out
Rechtsmittelinstanz:
EuGH Luxemburg, Urteil vom 03.09.2020 – C-539/19
Fundstellen:
BeckRS 2019, 28832
MMR 2020, 564
LSK 2019, 28832

Tenor

I. Das Verfahren wird gemäß § 148 ZPO ausgesetzt.
II. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV zur Auslegung von Art. 6a und 6e Abs. 3 VO (EU) Nr. 531/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juni 2012 über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen in der Union folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Sind Art. 6a und 6e Abs. 3 der VO (EU) Nr. 531/2012 so auszulegen, dass Mobilfunkanbieter zum 15. Juni 2017alleKunden automatisch auf den regulierten Tarif nach Art. 6a der VO (EU) Nr. 531/2012 umstellen müssen, unabhängig davon, ob diese Kunden bis dahin einen regulierten Tarif oder einen speziellen, so genannten alternativen Roaming-Tarif besaßen?

Gründe

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I. Der Kläger macht gegen die Beklagte lauterkeitsrechtliche Unterlassungsansprüche wegen behaupteter Verstöße gegen die Regelungen der VO (EU) Nr. 531/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juni 2012 über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen in der Union (nachfolgend „Roaming-VO“) geltend.
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1. Der Kläger ist der Dachverband aller 16 Verbraucherzentralen und 25 weiterer verbraucher- und sozialorientierter Organisationen in Deutschland. Gemäß § 2 seiner Satzung bezweckt der Kläger, Verbraucherinteressen wahrzunehmen, insbesondere indem er Verstöße gegen das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb (UWG) und das Unterlassungsklagegesetz i.V.m. anderen Verbraucherschutzgesetzen durch geeignete Maßnahmen unterbindet.
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2. Die Beklagte ist ein Telekommunikationsanbieter. Sie bietet Verbrauchern unter anderem den Abschluss von Mobilfunkverträgen an.
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3. Auf ihrer Webseite www...de hat die Beklagte Informationen zum regulierten Roaming-Tarif veröffentlicht. Unter der Überschrift „Allgemeine Informationen“ erläutert die Beklagte:
„Alle O... Kunden können ab dem 22.05.2017 den Wechsel in den regulierten EU-Roaming-Tarif per SMS vornehmen. Hierfür schickst du bitte eine SMS mit dem Kennwort ‚JA“ an die 6.... Du wirst dann automatisch auf den regulierten Tarif umgestellt. Nach erfolgreicher Umstellung erhältst du eine Bestätigungs-SMS.“ (Internetauszug, Anlage K 1 [1/2])
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Unter der Überschrift „Wie bekommt man den regulierten EU-Roaming-Tarif?“ schreibt die Beklagte weiter (vgl. Internetauszug, Anlage K 1 [2/2] und Anlage K 2):
„Grundsätzlich kannst du jederzeit ganz einfach per O... App in den regulierten EU-Roaming-Tarif wechseln. Alle O... Kunden können ab dem 22.05.2017 den Wechsel in den regulierten EU-Roaming-Tarif zusätzlich per SMS vornehmen. Hierfür schickst du bitte eine SMS mit dem Kennwort ‚JA‘` an die 6.... Du wirst dann automatisch auf den regulierten Tarif umgestellt. Nach erfolgreicher Umstellung erhältst du eine Bestätigungs-SMS.
Sofern du dich bereits heute im regulierten EU-Roaming-Tarif (auch ‚Roaming Basic‘ bzw. ‚Weltzonenpack` und ‚Mobiles Internet Ausland‘ genannt) befindest, wirst du bis zum 15.06.2017 umgestellt, ohne dass du hierfür etwas veranlassen musst. Dein jetziger regulierter Roaming-Tarif wird dann automatisch in den neuen regulierten EU Roaming-Tarif überführt, so dass für dich ab dem 15.06.2017 die Inlandskonditionen deines Tarifes (für Gespräche, SMS und Daten) auch im EU-Ausland gelten.“
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4. Der Kläger ist der Auffassung die Beklagte verstoße mit ihrer Geschäftspraktik, die Umstellung der Bestandskunden, die vor dem 15.06.2017 einen alternativen Roaming-Tarif besaßen, auf einen regulierten Roaming-Tarif davon abhängig zu machen, dass die Verbraucher diese Umstellung durch eine SMS oder mittels der O... App aktiv veranlassen, gegen Art. 6a, 6e Abs. 3 Roaming-VO. Gemäß Art. 6e Abs. 3 UAbs. 2 der Roaming-VO seien die Konditionen den Verbrauchern automatisch mit Inkrafttreten der entsprechenden Regelung, also am 15.06.17 zur Verfügung zu stellen. Ein aktiver Wechsel von Seiten der Verbraucher, um „Roam-Like-At-Home“ in Anspruch nehmen zu können, dürfe nicht gefordert werden. Die Beklagte sei verpflichtet, automatisch auf das „Roam-Like-At-Home“-Roaming umzustellen, unabhängig davon, ob Verbraucher zuvor einen gesonderten Roamingtarif gewählt hätten oder nicht. Tatsächlich sehe die Beklagte vor, dass die Verbraucher in den Genuss der Vorzüge des regulierten Roaming-Tarifes nur kämen, wenn sie gegenüber der Beklagten eine gesonderte Erklärung abgäben. Mit diesem Verhalten verstoße die Beklagte gegen Art. 6e Abs. 3 der Roaming-Verordnung.
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Der Kläger beantragt daher mit Klageantrag Ziffer I. 1., die Beklagte zu verurteilen, es bei Meldung der gesetzlichen Ordnungsmittel zu unterlassen, im Rahmen geschäftlicher Handlungen im Internet gegenüber Verbrauchern im Rahmen bestehender Mobilfunkverträge (ausgenommen Verbraucher mit den Tarifen „Roaming Basic“, „Weltzonenpack“ und/oder „Mobiles Internet Ausland“) die Inanspruchnahme des seit dem 15.06.2017 geltenden regulierten Roamingtarifs (Roam-Like-At-Home) davon abhängig zu machen, dass Verbraucher gegenüber der Beklagten eine entsprechende Erklärung abgeben (insbesondere eine SMS mit dem Kennwort „JA“ an die Nummer 6... senden und/oder einen Wechsel über die O... App durchführen).
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5. Die Beklagte tritt dem entgegen und macht geltend, dass unter der Anwendung der Roaming-VO zwei Arten von Roaming-Tarifen zu unterscheiden seien: regulierte Roaming-Tarife und alternative Roaming-Tarife. Regulierte Tarife seien Standardtarife, bei denen grundsätzlich keine Aufschläge auf den inländischen Endkundentarif erhoben werden dürften. Daneben könnten Mobilfunkanbieter weiterhin alternative Roaming-Tarife zur Verfügung stellen, die vom inländischen Endkundentarif abweichende Bedingungen vorsähen. Unstreitig verlange die Roaming-Verordnung für Kunden, die sich bereits vor dem 15.06.2017 im regulierten Roaming-Tarif befunden hätten, eine automatische Anwendung des „Roam-Like-At-Home“-Tarifs. Die Pflicht zur automatischen Umstellung nach Art. 6e Abs. 3 der Roaming-VO gelte jedoch nicht für Kunden, die sich zum 15.06.2017 in einem alternativen Tarif befunden hätten.
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II. Die aufgeworfene Frage betrifft die Auslegung von sekundärem Gemeinschaftsrecht. Ihre Klärung ist für die im vorliegenden Rechtsstreit zu treffende Entscheidung erheblich, denn der Erfolg des Klageantrages Ziffer I. 1 hängt von der Auslegung der Art. 6a und 6e Abs. 3 Roaming-VO ab, der die Abschaffung von Endkunden-Roamingaufschlägen regelt. Da die Beklagte bisher nicht sämtliche Kunden, die sich zum 15.06.2017 in einem alternativen Tarif befunden haben, auf den „Roam-Like-At-Home“-Tarif umgestellt hat, dauert der mutmaßliche Störungszustand weiterhin an. Erledigung ist nicht etwa mit Verstreichen des Stichtages 15.06.2017 eingetreten.
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1. Dem Kläger steht der mit Klageantrag Ziffer I. 1. begehrte Unterlassungsanspruch zu, wenn Art. 6a und 6e Abs. 3 Roaming-VO eine automatische Umstellung von Verträgen auf den regulierten „Roam-Like-At-Home“-Tarif im Sinne von Art. 6a Roaming-VO nicht nur für Kunden verlangt, die zum 15.06.2017 bereits einen regulierten Tarif besaßen, sondern auch für Kunden, die sich zum Stichtag in einem speziellen, so genannten alternativen Roaming-Tarif befanden.
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2. Die Frage, ob die automatische Umstellung auf den regulierten Tarif nach Art. 6a Roaming-VO nur Verträge von Kunden betrifft, die bis dahin einen regulierten Tarif besaßen, oder ob Art. 6e Abs. 3 Roaming-VO eine automatische Umstellung von Verträgen auch solcher Kunden fordert, die sich in einem speziellen, so genanntem alternativen Roaming-Tarif befanden, ist - soweit ersichtlich - obergerichtlich noch nicht entschieden worden. Literaturmeinungen finden sich hierzu ebenfalls nicht. Es existieren jedoch divergierende Stellungnahmen der Europäischen Kommission einerseits und der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland sowie der Bundesnetzagentur als nationaler Regulierungsbehörde im Sinne von Art. 16 Roaming-VO andererseits.
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a) Die Europäische Kommission erklärt auf der Internetseite der Europäischen Union unter der Rubrik „Roaming zu Inlandspreisen (Roam like at Home): Häufig gestellte Fragen“ (vgl. Anlage K 11):
„8. Ich habe bereits einen besonderen Roamingtarif, den ich selbst gewählt habe (zum Beispiel: ich zahle etwas mehr als den auf EU-Ebene geregelten Roamingpreis in der EU, aber ich erhalte sehr gute Preise für das Roaming in den USA und Kanada, wohin ich oft reise). Kann ich diesen Tarif nach dem 15. Juni 2017 beibehalten?
Ja. Ihr Anbieter wird Sie vor dem 15. Juni 2017 kontaktieren und Sie fragen, ob Sie ihren speziellen Roamingtarif beibehalten wollen. Wenn Sie das bestätigen, bleibt der Tarif bestehen. Antworten Sie mit Nein oder gar nicht, werden Sie automatisch auf die neuen Bedingungen des Roaming zu Inlandspreisen umgestellt.“
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Der Ansicht der Kommission schließt sich der Klägervertreter an und führt ergänzend aus, dass nach dem Wortlaut des Art. 6e Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 531/2012 für „alle bestehenden und neuen Roamingkunden“ die in Art. 6a und 6b geregelten regulierten Tarife anzuwenden seien - und zwar „automatisch“. Es werde also keinerlei Differenzierung zwischen jenen „bestehenden“ Kunden gemacht, die vor dem 15. Juni 2017 einen regulierten Tarif verwendet hätten und solchen „bestehenden“ Kunden, die vor dem 15. Juni 2017 einen alternativen Tarif verwendet hätten. Diese Auslegung decke sich auch mit dem Sinn und Zweck. Nach der Vorstellung des Verordnungsgebers sollten die Verbraucher grundsätzlich von dem regulierten Roaming-Tarif profitieren. Nur wenn sie eine aktive Entscheidung für einen alternativen Tarif träfen, solle dieser Tarif berücksichtigt werden. Die Tatsache, dass die Verbraucher sich für den alternativen Tarif zu Zeiten entschieden hätten, als der regulierte Tarif noch deutlich unattraktiver gewesen sei, erlaube keinen Rückschluss darauf, dass diese Abwägungsentscheidung noch heute so getroffen würde.
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b) Die Bundesregierung hat demgegenüber am 22.08.2017 auf eine Anfrage geantwortet:
„Mobilfunkanbieter müssen allen Kunden, die einen regulierten Tarif (vormals Eurotarif) besitzen, automatisch auf den regulierten RLAH (‚Roam like at home‘)-Tarif umstellen. Kunden mit alternativen Tarifen müssen darüber informiert werden, dass ab dem 15.06.2017 die regulierten RLAH-Tarife gelten und ein Wechsel von einem alternativen Tarif in den regulierten RLAH jederzeit innerhalb eines Tages und ohne Kosten möglich ist“ (vgl. Schreiben der Bundesregierung, Anlage B 2).
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Auch die Bundesnetzagentur antwortet auf ihrer Internetseite auf die Frage „Wird mein Vertrag automatisch zum 15.06.2017 auf Roam-Like-At-Home“ umgestellt?“:
„Dies ist abhängig davon, ob Sie sich für einen alternativen Tarif entschieden haben oder einen regulierten Tarif nutzen. Sofern Sie einen alternativen Tarif nutzen, informiert Sie Ihr Mobilfunkanbieter über den Start von RLAH und die damit verbundenen Vorteile. Sie haben jederzeit die Möglichkeit, kostenlos in einen regulierten Roamingtarif (zurück-) zu wechseln.“
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Der Ansicht von Bundesregierung und Bundesnetzagentur folgt die Beklagte, die meint, dass bereits nach Wortlaut und Systematik von Art. 6e Abs. 3 der Roaming-VO die Pflicht zur automatischen Umstellung bestehender Verträge nur für regulierte, nicht aber für alternative Tarife gälte. Gegen das Bestehen einer Pflicht zur automatischen Umstellung alternativer Tarife sprächen auch Sinn und Zweck der Regelung. Bei alternativen Roaming-Tarifen handele es sich regelmäßig um Konditionen, die der Kunde aufgrund seines individuellen Nutzungsverhaltens bewusst gewählt habe und die im Vergleich mit einem regulierten Roaming-Tarif für ihn vorteilhaft seien (z.B. weil er Vielnutzer in bestimmten Ländern sei und seinen Roaming-Tarif auf diese Nutzung abgestimmt habe). Würde die Beklagte alternative Roaming-Tarife, die auf die individuellen Bedürfnisse des Kunden zugeschnitten seien, automatisch auf den regulierten Roaming-Tarif umstellen, würden dem Kunden diese selbst gewählten Vorteile ohne seine Zustimmung entzogen. Es würde damit zum Nachteil des Kunden in dessen Vertragsfreiheit eingegriffen. Die Kunden der Beklagten in alternativen Tarifen hätten jedoch jederzeit die Möglichkeit, innerhalb eines Arbeitstages in den regulierten Tarif zu wechseln. Die Beklagte erinnere sie auch - wie in Art. 14 Abs. 3 der Roaming-Verordnung vorgesehen - an diese Möglichkeit. Dass der Verordnungsgeber Art. 6e Abs. 3 der Roaming-VO in Bezug auf die alternativen Tarife als „Optin“-Bestimmung ausgestalten und die Mobilfunkanbieter eben nicht zu einer automatischen Umstellung habe zwingen wollen, verdeutliche ferner der im Dezember 2018 eingeführte neue Art. 5a derselben Verordnung. Die Neuregelung führe u.a. eine Preisobergrenze für die „regulierte intra-EU-Kommunikation“ ein, die für regulierte Tarife gelte, nicht aber für alternative Tarife. Der neue Art. 5a Abs. 3 zwinge die Mobilfunkanbieter dazu, einen Bestandskunden im alternativen Tarif automatisch auf einen regulierten Tarif umzustellen, wenn der alternative Tarif die Obergrenze überschreite und der Kunde nicht mitteile, dass er den alternativen Tarif behalten möchte. Art. 5a Abs. 3 enthalte also eine „Opt-out-Regelung“. Hätte der Verordnungsgeber beabsichtigt, in Art. 6e Abs. 3 ebenfalls eine Pflicht der Mobilfunkanbieter zum automatischen Umstellen der Bestandskunden in alternativen Tarifen zu begründen, so würde er auch hier eine „Opt-out-Regelung“ vorgesehen haben.
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III. Zu entscheiden, welcher Auffassung zu folgen ist, obliegt dem Gerichtshof, weshalb eine Vorabentscheidung herbeizuführen ist. Die Kammer macht daher in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens von der Möglichkeit Gebrauch, das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. b), Abs. 2 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen.