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VG Würzburg, Urteil v. 28.08.2019 – W 9 K 19.30942
Titel:

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen drohender Verfolgung aufgrund sexueller Orientierung bei Rückkehr nach Afghanistan

Normenketten:
AsylG § 3, § 77 Abs. 1
EMRK Art. 3
VwGO § 102 Abs. 2, § 113 Abs. 1 S. 1, Abs. 5 S. 1
RL 2011/95/EU Art. 6
Leitsätze:
1. Unter Berücksichtigung der Rspr. des EuGH kann angesichts des sensiblen Charakters der Fragen, die die persönliche Sphäre einer Person, insbesondere ihre Sexualität, betreffen, allein daraus, dass die schutzsuchende Person ihre Homosexualität aufgrund ihres Zögerns, intime Aspekte ihres Lebens zu offenbaren, nicht bei der ersten Gelegenheit zur Darlegung der Verfolgungsgründe bei der Anhörung vor dem Bundesamt angegeben hat, nicht auf ihre Unglaubwürdigkeit geschlossen werden. (Rn. 17 – 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nach der vorliegenden Erkenntnismittellage droht Personen, die ihre Homosexualität offen in Afghanistan leben, eine flüchtlingsrelevante Verfolgung.  (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
3. Insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass eine Verfolgung durch die afghanischen Behörden wegen der sexuellen Orientierung des Schutzsuchenden zu befürchten ist, ist der afghanische Staat unter Zugrundelegung der aktuellen Erkenntnisse nicht in der Lage oder nicht willens, Schutz vor Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu bieten.  (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Afghanistan, Homosexualität, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Verfolgungsgefahr, Verheimlichung, sexuelle Orientierung, soziale Gruppe
Fundstelle:
BeckRS 2019, 27205

Tenor

I. Ziffer 1 und Ziffern 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18. September 2017 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

1
Der am … … 1999 geborene Kläger, nach eigenen Angaben afghanischer Staatsangehöriger hazarischer Volks- und schiitischer Glaubenszugehörigkeit, reiste nach eigenen Angaben am 29. Mai 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 5. Oktober 2015 einen Asylantrag.
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In seiner Anhörung am 10. Mai 2016 vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) gab der Kläger im Wesentlichen an, seine Familie habe Afghanistan verlassen, als er ein Jahr alt gewesen sei. Er sei im Iran aufgewachsen. Er habe die Schule bis zur sechsten Klasse besucht. Im Iran sei die Lage für Afghanen schwer. Die finanzielle Situation seiner Familie sei schlecht gewesen. Im Übrigen wird auf die Niederschrift Bezug genommen.
3
Mit Bescheid vom 18. September 2017 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers ab, erkannte die Flüchtlingseigenschaft und einen subsidiären Schutzstatus nicht zu und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Außerdem forderte es den Kläger zur Ausreise innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheids bzw. nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens auf; für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung nach Afghanistan angedroht. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter lägen nicht vor. Der Kläger sei kein Flüchtling im Sinne des § 3 AsylG. Aus den Schilderungen ergäben sich keine Verfolgungshandlungen im Sinne von schwerwiegenden Verletzungen der Menschenrechte gegenüber dem Kläger. Der Kläger habe insgesamt keine Gründe vorbringen können, die an flüchtlingsrechtlich relevante persönliche Merkmale anknüpften. Die engeren Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter lägen ebenfalls nicht vor. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus seien nicht gegeben. Es sei nicht davon auszugehen, dass dem Kläger im Herkunftsland die Todesstrafe, Folter oder unmenschliche Behandlung drohten. Kriegsbedingte Gefahren seien ebenfalls nicht ausreichend als Gefahr genannt worden. Deswegen bestehe kein Grund zu der Annahme, dass dem Kläger im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan solche Gefahren aufgrund individueller Umstände drohten. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Afghanistan führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Klägers sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung nicht beachtlich. Es drohe dem Kläger auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde. Im Übrigen wird auf den Bescheid Bezug genommen.
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Laut Postzustellungsurkunde wurde der Bescheid dem Kläger am 22. September 2017 zugestellt.
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Der Kläger ließ am 2. Oktober 2017 durch seinen Bevollmächtigten Klage zum Verwaltungsgericht Würzburg erheben und beantragen,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
hilfsweise festzustellen, dass bei dem Kläger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
7
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Kläger homosexuell orientiert sei. Er sei noch nie mit einer Frau zusammen gewesen. In Deutschland habe er noch keinen Kontakt zu Männern gehabt, da dies für ihn aufgrund vergangener Erfahrungen schwierig sei. Im Iran habe er zwar Beziehungen zu älteren Männer gehabt, habe jedoch feststellen müssen, dass diese nur auf sexuelle Beziehungen aus gewesen seien. Er habe dies nicht gewollt, sei aber vergewaltigt worden. Es habe sich um circa vier bis fünf Männer gehandelt. Von einem Mann sei der Kläger auch geschlagen worden. Der Kläger befürchte aufgrund seiner Homosexualität, die auf einer unumstößlichen Orientierung beruhe, in Afghanistan verfolgt zu werden. Außerdem befinde sich der Kläger in psychiatrischer Behandlung. Es falle dem Kläger schwer, sich offen zu seiner sexuellen Orientierung zu bekennen. Im Übrigen wird auf die Klagebegründung Bezug genommen.
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Die Beklagte beantragte,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung verwies die Beklagte auf die angefochtene Entscheidung.
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Mit Beschluss vom 20. Mai 2019 wurde der Rechtsstreit der Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.
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In der mündlichen Verhandlung am 23. August 2019 war der Kläger persönlich mit seinem Bevollmächtigten erschienen. In das Verfahren wurden die in der Erkenntnismittelliste Afghanistan (Stand: April 2019) enthaltenen Erkenntnismittel eingeführt. Die Sach- und Rechtslage wurde mit den Erschienenen erörtert. Der Kläger wurde informatorisch gehört. Der Klägerbevollmächtigte wiederholte den bereits schriftlich gestellten Klageantrag. Auf das Protokoll wird verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, insbesondere auf das weitere schriftsätzliche Vorbringen der Beteiligten, sowie auf den Inhalt der einschlägigen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Die einschlägige Behördenakte wurde beigezogen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage, über die trotz des Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung verhandelt und entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist auch begründet. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1, Abs. 4 AsylG. Der Bescheid des Bundesamtes vom 18. September 2017 ist, soweit er Gegenstand der Klage ist und der Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entgegensteht, rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, soweit er keinen Ausschlusstatbestand nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt. Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention - GK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Nach § 77 Abs. 1 AsylG ist vorliegend das Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), das zuletzt durch Artikel 45 des Gesetzes vom 15. August 2019 (BGBl. I S. 1307) geändert worden ist (AsylG), anzuwenden. Dieses Gesetz setzt in §§ 3 bis 3e AsylG - wie die Vorgängerregelungen in §§ 3 ff. AsylVfG - die Vorschriften der Art. 6 bis 10 der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl Nr. L 337, S. 9) - Qualifikationsrichtlinie (QRL) - im deutschen Recht um. Nach § 3a Abs. 1 AsylG gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 - EMRK (BGBl 1952 II, S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylG muss die Verfolgung an eines der flüchtlingsrelevanten Merkmale anknüpfen, die in § 3b Abs. 1 AsylG näher beschrieben sind, wobei es nach § 3b Abs. 2 AsylG ausreicht, wenn der betreffenden Person das jeweilige Merkmal von ihren Verfolgern zugeschrieben wird. Nach § 3c AsylG kann eine solche Verfolgung nicht nur vom Staat, sondern auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. Schutz vor Verfolgung kann gemäß § 3d AsylG nur geboten werden vom Staat oder von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, sofern sie willens und in der Lage sind, Schutz zu bieten. Der Schutz muss gemäß § 3d Abs. 2 AsylG wirksam und nicht nur vorübergehender Art sein. Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3e AsylG jedoch nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zum Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat, sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
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Bei der Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft ist der asylrechtliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu Grunde zu legen. Dies setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Hierbei ist maßgeblich, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - NVwZ 2013, 936/940). Der Schutzsuchende muss sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darlegen. Er muss die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, zu denen insbesondere seine persönlichen Erlebnisse fallen, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, den geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen (VG Bayreuth, U.v. 13.7.2015 - B 3 K 14.30344 - juris).
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Nach diesen Grundsätzen hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Das Gericht ist davon überzeugt (§ 108 Abs. 1 VwGO), dass sich der Kläger aus begründeter Furcht vor einer Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und ihm bei einer Rückkehr gezielt Verfolgungsmaßnahmen staatlicher und nichtstaatlicher Akteure mit asylrelevanter Intensität mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit landesweit drohen.
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1.1 Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger homosexuell ist und seine sexuelle Orientierung für ihn identitätsprägend ist.
18
Der Kläger erschien dem Gericht persönlich glaubwürdig. Er machte auf die erkennende Einzelrichterin in der mündlichen Verhandlung am 23. August 2019 einen ehrlichen, ernsthaften und authentischen Eindruck. Der Kläger beantwortete die Fragen des Gerichts ohne inhaltliche Übertreibungen. Vor dem Hintergrund der individuellen Lage, den persönlichen, sozialen und kulturellen Umständen des Klägers sowie seines Alters und des sensiblen Charakters der Informationen ist es für die Einzelrichterin nachvollziehbar, dass der Kläger zurückhaltend über seine sexuelle Orientierung berichtete.
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Im Rahmen seiner informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger zur vollen Überzeugung des Gerichts glaubhaft gemacht, homosexuell zu sein und dass seine sexuelle Orientierung für ihn identitätsprägend ist. Bei der Würdigung der Aussagen des Klägers berücksichtigt die Einzelrichterin die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U.v. 2.12.2014 - C-148/13 bis 150/13 - juris). Insbesondere ist der Kläger nicht deshalb unglaubwürdig und seine Angaben nicht deshalb unglaubhaft oder gesteigert, weil der Kläger seine sexuelle Orientierung nicht bei der ersten ihm gegebenen Gelegenheit zur Darlegung der Verfolgungsgründe bei der Anhörung vor dem Bundesamt geltend gemacht hat (vgl. EuGH, U.v. 2.12.2014 - C-148/13 bis 150/13 - juris Rn. 59). Angesichts des sensiblen Charakters der Fragen, die die persönliche Sphäre einer Person, insbesondere ihre Sexualität, betreffen, kann allein daraus, dass diese Person, weil sie zögert, intime Aspekte ihres Lebens zu offenbaren, ihre Homosexualität nicht sofort angegeben hat, nicht geschlossen werden, dass sie unglaubwürdig ist (EuGH a.a.O. Rn. 69). Auch in der mündlichen Verhandlung fiel es dem Kläger sichtlich schwer, offen über seine sexuelle Orientierung zu reden.
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Vor dem Hintergrund des persönlichen Eindrucks, den die Einzelrichterin in der mündlichen Verhandlung vom Kläger erlangt hat, seiner Persönlichkeitsstruktur, seiner kulturellen, gesellschaftlichen und religiösen Prägung sowie seiner intellektuellen Disposition hat der Kläger die Entwicklung und das Ausleben seiner homosexuellen Identität nachvollziehbar geschildert. Der Kläger hat die Entdeckung der eigenen sexuellen Identität glaubhaft beschrieben. Zu diesem Zeitpunkt befand er sich noch am Beginn der Pubertät. Daher ist es schlüssig, dass er aus kindlicher Sicht schildert, wie er erstmalig vermutet habe, sich zu Männern hingezogen zu fühlen. Aufgrund des noch jungen Alters des Klägers, seiner bisherigen psychischen Probleme und seiner geschilderten negativen Erfahrungen im Iran ist es nachvollziehbar, dass der Kläger in Deutschland noch keine Beziehungen zu Männern hatte und sich schwer tut, offen zu seiner sexuellen Orientierung zu stehen. Der Kläger konnte auch plausibel erklären, warum er sich seiner Familie bislang nicht anvertraut hat. Der Kläger gab an, im Iran sei Homosexualität strafbar sowie gesellschaftlich und religiös geächtet. Im Iran habe er aufgrund der gesellschaftlichen Tabuisierung seine sexuelle Orientierung verheimlichen müssen. Er habe niemandem vertraut. Seine Familie sei sehr religiös und er habe kein gutes Verhältnis zu seinem Vater. Hiervon ist der Kläger sichtlich betroffen bzw. belastet.
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1.2 Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan und des Offenbaren bzw. Ausleben seiner Homosexualität droht dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe durch staatliche und nichtstaatliche Akteure.
22
Nach der vorliegenden Erkenntnismittellage droht zur Überzeugung des Gerichts Personen, die ihre Homosexualität offen in Afghanistan leben, eine flüchtlingsrelevante Verfolgung. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes kennt die afghanische Verfassung kein Verbot der Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung. Entsprechende Forderungen im Rahmen des Universal Periodic Review-Verfahrens im Januar 2014 in Genf, gleichgeschlechtliche Paare zu schützen und nicht zu diskriminieren, wies die afghanische Vertretung (als eine der wenigen nicht akzeptierten Forderungen) zurück. Bisexuelle und homosexuelle Orientierung sowie transsexuelles Leben werden von der breiten Gesellschaft abgelehnt und können daher nicht in der Öffentlichkeit gelebt werden. Laut Art. 247 des afghanischen Strafgesetzbuchs werden neben außerehelichem Geschlechtsverkehr auch solche Sexualpraktiken, die üblicherweise mit männlicher Homosexualität in Verbindung gebracht werden, mit langjähriger Haftstrafe sanktioniert. Neben der sozialen Ächtung von Bisexuellen, Homosexuellen und Transsexuellen verstärken Bestimmungen und Auslegung des islamischen Rechts (der Scharia, die z. T. von noch konservativeren vorislamischen Stammestraditionen beeinflusst wird) mit Androhungen von Strafen bis hin zur Todesstrafe den Druck auf die Betroffenen. Organisationen, die sich für den Schutz der sexuellen Orientierung einsetzen, arbeiten im Untergrund. Eine systematische Verfolgung durch staatliche Organe ist nicht nachweisbar, was allerdings an der vollkommenen Tabuisierung des Themas liegt. Über die Durchführung von Strafverfahren gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle, Transgender und Intersexuelle liegen dem Auswärtigen Amt deshalb keine Erkenntnisse vor. Es wird allerdings von gewalttätigen Übergriffen bis hin zu Vergewaltigungen homosexueller Männer durch die afghanische Polizei berichtet. Die Betroffenen haben keinen Zugang zum Gesundheitssystem und müssen bei „Entdeckung“ den Verlust ihres Arbeitsplatzes und soziale Ausgrenzung fürchten, können aber auch Opfer von Gewalt werden. Daneben kommt es - v. a. aufgrund der starken Geschlechtertrennung - zu freiwilligen und erzwungenen homosexuellen Handlungen zwischen heterosexuellen Männern (Auswärtige Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 31.5.2018, S. 16). Laut Erkenntnissen von EASO sind im kodifizierten und im islamischen Recht Afghanistans sexuelle Beziehungen nur im Kontext einer heterosexuellen Ehe zulässig. Somit sind gleichgeschlechtliche Handlungen sowohl nach dem Strafgesetzbuch als auch nach der Scharia strafbar, wobei Letztere als Höchststrafe die Todesstrafe vorsieht. Nach Angaben der International Lesbian, Gay, Trans and Intersex Association sind die Gesetze auf gleichgeschlechtliche Handlungen sowohl von Männern als auch von Frauen anwendbar. Die schwedische Agentur für internationale Entwicklungszusammenarbeit legte 2014 einen Bericht vor, in dem sie feststellte, dass Unzucht, außerehelicher Geschlechtsverkehr und Homosexualität als Ehrverletzung betrachtet werden können und somit Art. 398 des Strafgesetzbuches greifen kann. Laut diesem Artikel erhalten Personen, die in Verteidigung ihrer Ehre einen Mord begehen, eine verminderte Strafe (EASO Country of Origin Information Report: Afghanistan Individuals targeted under societal und legal norms, December 2017, S. 70). Dem UNHCR zufolge sind einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen in Afghanistan illegal und können nach dem neuen afghanischen Strafgesetzbuch mit Haftstrafen von bis zu zwei Jahren geahndet werden. Die Höchststrafe für gleichgeschlechtliche Beziehungen ist nach der Scharia die Todesstrafe, doch seit dem Ende der Taliban-Herrschaft wurden keine Todesstrafen aufgrund gleichgeschlechtlicher Beziehungen durch die Justiz verhängt. Die gesellschaftliche Tabuisierung von Homosexualität ist weiterhin in starkem Ausmaß vorhanden. Tatsächlich oder vermeintlich homosexuelle Männer und Jungen haben Berichten zufolge nur begrenzt Zugang zu medizinischer Versorgung und werden wegen ihrer sexuellen Orientierung von ihren Arbeitgebern entlassen. Personen mit unterschiedlichen sexuellen Ausrichtungen und Geschlechtsidentitäten werden laut Berichten Opfer von Diskriminierung und Gewalt, auch durch Behörden, Familienangehörige und Angehörige ihrer Gemeinschaften sowie durch regierungsfeindliche Kräfte. Insgesamt sind homophobe Einstellungen sowie Gewalt gegen homo-, bi-, oder transsexuelle-Gruppen in Afghanistan allgegenwärtig. Berichten zufolge werden Personen mit unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten von der Polizei nicht geschützt; es liegen vielmehr Berichte vor, dass Polizisten gegen solche Personen aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen sexuellen Orientierung mit Schikanen, Gewalt (einschließlich Vergewaltigung), Festnahme und Inhaftierung vorgehen. Organisationen, die sich für den Schutz der Freiheit von Personen mit unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten einsetzen, bleiben Berichten zufolge im Untergrund, da sie legal nicht eingetragen werden können (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer asylsuchender vom 30.8.2018, S. 100 ff.).
23
Demnach drohen dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG durch staatliche und nichtstaatliche Akteure nach § 3c Nr. 1 und 3 AsylG. Unter Zugrundelegung der aktuellen Erkenntnismittellage ist der afghanische Staat nicht in der Lage oder nicht willens, Schutz vor Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu bieten. Dies gilt insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass der Kläger auch eine Verfolgung durch die afghanischen Behörden zu befürchten hat.
24
Die Verfolgung beruht auf der Zugehörigkeit des Klägers zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG). Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a und b AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Diese kumulativen Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 2 AsylG kann in Übereinstimmung mit Art. 10 Abs. 1 Buchst. d QRL als eine bestimmte soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet. Die sexuelle Ausrichtung einer Person stellt ein Merkmal dar, dass so bedeutsam für ihre Identität ist, dass sie nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten (EuGH, U.v. 7.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 - juris Rn. 46). Das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, erlaubt die Feststellung, dass diese Personen eine abgegrenzte Gruppe bilden, die von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (EuGH, U.v. 7.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 - juris Rn. 48).
25
Wegen der Bedeutung des Merkmals der sexuellen Ausrichtung kann von einem Asylbewerber auch nicht erwartet werden, dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält, um eine Verfolgung zu vermeiden (EuGH, U.v. 7.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 - juris Rn. 70 f.).
26
1.3 Für den Kläger besteht in Afghanistan keine Möglichkeit eines internen Schutzes nach § 3e AsylG, weil die Verfolgungsgefahr landesweit besteht.
27
Nach alledem war dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ohne dass es noch auf den vom Klägerbevollmächtigten bedingt gestellten Beweisantrag ankam.
28
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.