Inhalt

LSG München, Beschluss v. 08.10.2019 – L 20 KR 479/19 B ER
Titel:

Sozialprozessrecht: Zur Eilbedürftigkeit einer Regelungsanordnung im Sinne eines Überprüfungsbescheids im Zusammenhang mit der Beitragserhebung auf Direktversicherungen

Normenketten:
SGG § 86b Abs. 2 S. 2
SGB X § 44
Leitsätze:
1. Wird im gerichtlichen Eilverfahren ausschließlich geltend gemacht, dass die Beitragsforderung materiell-rechtlich unbegründet sei, kann der Antrag nur dahingehend verstanden werden, dass das Ziel des Rechtsschutzbegehrens eine Regelungsanordnung gemäß ist. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen (Regelungs-)Anordnung ist nicht schon deshalb unzulässig, weil die Beitragsbescheide, deren Vollstreckung mittels des einstweiligen Rechtschutzes abgewendet werden soll, bereits bestandskräftig sind. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Beweislast im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens dafür, dass sich ein Sachverhalt als unrichtig erwiesen hat, trägt im gerichtlichen Eilverfahren der Antragsteller, nicht die Antragsgegnerin, weil die maßgebende Norm für die Beurteilung des vorliegenden Rechtsstreits - anders als im Ausgangsverfahren, in dem die Beitragspflicht der Kapitallauszahlungen bestandskräftig festgestellt worden ist - § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X ist. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Beitragsrecht, Beitragserhebung in der gesetzlichen Krankenversicherung, Rechtskräftige Entscheidung, Beitragsbemessungsgrundlage, Auszahlung aus Direktversicherung, kein Erhalt des Zahlbetrags, Abtretung wegen Insolvenz, Überprüfungsbescheid, gerichtliches Eilverfahren, Regelungsanordnung, Beweislast
Vorinstanz:
SG Würzburg, Beschluss vom 01.08.2019 – S 17 KR 368/19 ER
Fundstelle:
BeckRS 2019, 23836

Tenor

I. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 1. August 2019 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller und Beschwerdeführer (im Folgenden: Antragsteller) begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes, von Krankenversicherungsbeiträgen auf Kapitalleistungen aus Direktversicherungen freigestellt zu werden.
2
Der Antragsteller ist 1949 geboren und seit dem 01.08.2012 in der Krankenversicherung der Rentner bei der Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin (im Folgenden: Antragsgegnerin) pflichtversichert.
3
Am 07.08.2012 hatte die H. Lebensversicherung AG der Antragsgegnerin mitgeteilt, dass der Antragsteller zum 01.08.2012 Kapitalleistungen aus vier Versicherungsverträgen in Höhe von insgesamt 33.896,04 EUR erhalten habe. Mit Bescheid vom 13.08.2012 hatte die Antragsgegnerin gegenüber dem Antragsteller erklärt, dass er hieraus ab 01.09.2012 bis 31.08.2022 Beiträge (zur gesetzlichen Krankenversicherung und sozialen Pflegeversicherung) aus 282,47 EUR (aus 33.896,04 EUR errechneter monatlicher Zahlbetrag) zu entrichten habe.
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Dagegen hatte der Antragsteller Widerspruch eingelegt und diesen damit begründet, dass er nicht Versicherungsnehmer gewesen und auch keine Auszahlung an ihn erfolgt sei, da er seine Ansprüche wegen Insolvenz abgetreten habe. Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 18.09.2013), Klage (Urteil des Sozialgerichts [SG] Würzburg vom 01.07.2014,) und Berufung (Rücknahme der unter dem Aktenzeichen L 20 KR 427/14 geführten Berufung in der mündlichen Verhandlung am 21.03.2017 vor dem Bayer. Landessozialgericht [LSG]) waren erfolglos geblieben. Dabei war dem Antragsteller in der mündlichen Verhandlung vor dem Bayer. LSG erläutert worden, dass seine zwischenzeitlich aufgestellte Behauptung, er sei bereits 1978 Versicherungsnehmer gewesen, in den vorliegenden Unterlagen keine Stütze finde und daher keine Erfolgsaussichten für die Berufung bestünden. Wenn er neue, noch nicht bekannte Unterlagen auffinden würde und sich daraus neue Tatsachen ergeben würden, könne er einen Überprüfungsantrag stellen.
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Mit Schreiben vom 29.03.2017 wandte sich der Antragsteller an die Antragsgegnerin und beanstandete erneut die Beitragserhebung aus den Kapitalleistungen. Die Beiträge zu den Lebensversicherungen - so der Antragsteller - seien schon ab 01.07.1978 privat bezahlt worden. Alte Vertragsunterlagen habe er aber nicht mehr. Er „bitte nur darum, künftige Beitragsfestsetzungen aus allen Verträgen unter Berücksichtigung des erstmals am 22.03.2017 von H. (für die Versicherung 1…) mitgeteilten versicherungsrelevanten Anteils von 89% (19.205,49./. 21.533,6 EUR) der bescheinigten Kapitalleistungen vorzunehmen“, wobei die Mitteilung der H. Lebensversicherung AG vom 22.03.2017 nur einen der Versicherungsverträge (K1…-KO) betraf und für diesen Vertrag der Anteil der per Entgeltumwandlung finanzierten Leistungen mit 19.205,49 EUR beziffert wurde, wohingegen dieser Anteil von der H. Lebensversicherung AG zuvor noch mit (niedrigeren) 19.129,48 EUR angegeben worden war.
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Nach nochmaliger Prüfung lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 11.09.2017 eine Rücknahme des Bescheides vom 13.08.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.09.2013 ab; sofern die H. Lebensversicherung AG die Auszahlungssumme von zunächst 19.129,48 EUR auf 19.205,49 EUR korrigiert habe, werde wegen der geringfügigen Erhöhung von einer Neuberechnung zu Lasten des Antragstellers abgesehen.
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Den dagegen erhobenen Widerspruch - die entsprechende Frage der Höhe der Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung wurde bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens zurückgestellt (Schreiben der Antragsgegnerin vom 13.03.2018) - wies die Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 09.05.2018 zurück und verwies zur Begründung darauf, dass die H. Lebensversicherung AG bestätigt habe, dass die von der Antragsgegnerin der Beitragspflicht zugrunde gelegten Beträge der Richtigkeit entsprächen. Bezüglich der Versicherung K1.-KO sei nochmals bestätigt worden, dass der ursprünglich gemeldete beitragspflichtige Betrag von 19.129,48 EUR auf 19.205,49 EUR korrigiert worden sei. Die Antragsgegnerin belasse es jedoch bei dem ursprünglichen niedrigeren Betrag. Eine Änderung des beitragspflichtigen Gesamtbetrages komme somit nicht in Betracht.
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Dagegen erhob der Antragsteller am 12.06.2018 Klage zum SG Würzburg mit dem Ziel der Nichtverbeitragung der Kapitalleistungen der H. Lebensversicherung AG (Aktenzeichen des SG: S 17 KR 244/18). Zur Begründung trug er vor, dass die Kapitalleistungen der H. Lebensversicherung AG an ihn nicht ausgezahlt worden seien. Sein ehemaliger Arbeitgeber habe ihm zudem zum 01.08.1978 die Versicherungen als „normale“ Lebensversicherungen überlassen.
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Wegen drohender Vollstreckungsmaßnahmen hat der Antragsteller mit Schreiben vom 30.06.2019, beim SG eingegangen am 08.07.2019, die „Aussetzung der Vollziehung“ beantragt. Zur Begründung hat er mit Schreiben vom 15.07.2019 angegeben, dass er wirtschaftlich nicht in der Lage sei, die aus der ihm nicht zugeflossenen Kapitalleistung berechneten Beiträge zu entrichten.
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Mit Beschluss vom 01.08.2019 hat das SG den Antrag des Antragstellers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) abgelehnt, da weder ein Anordnungsgrund noch ein Anordnungsanspruch bestehe.
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Dagegen hat der Antragsteller mit Schreiben vom 26.08.2019, beim SG eingegangen am 30.08.2019, Beschwerde eingelegt. Das Insolvenzverfahren über sein Vermögen sei - so der Antragsteller - mangels Masse eingestellt worden (Beschluss des Amtsgerichts A-Stadt vom 14.04.2011). Neben der Rente habe er nur völlig unbedeutende Einkünfte. In den steuerlich rechtskräftig veranlagten Jahren 2012 bis 2015 habe er neben der Rente nur Einkünfte von kumuliert 969,- EUR gehabt. Das Urteil des SG vom 01.07.2014 sei mit falschen Angaben erwirkt worden, da Auszahlungen aus den Lebensversicherungen nie an ihn, sondern direkt an Dritte erfolgt seien. Zudem habe die Antragsgegnerin - so der Antragsteller im Schreiben vom 04.10.2019 - keinen Beweis dafür vorgelegt, dass eine betriebliche Altersversorgung bestanden habe und Auszahlungen an ihn erfolgt seien, sodass aufgrund der Beweislastregeln seinem Antrag stattzugeben sei.
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Der Antragsteller beantragt,
den Beschluss des SG vom 01.08.2019 aufzuheben und die „Aussetzung der Vollziehung“ einer Beitragserhebung auf die Kapitalleistungen der H. Lebensversicherung AG anzuordnen.
13
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf den Inhalt beider Gerichtsakten, der beigezogenen Verwaltungsakte der Antragsgegnerin und der Akten des Senats zum Aktenzeichen L 20 KR 427/14 Bezug genommen.
II.
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Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig (§§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG -), in der Sache aber unbegründet.
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Die Beschwerde gegen den Beschluss des SG vom 01.08.2019 ist zurückzuweisen. Das SG ist zutreffend davon ausgegangen, dass das Rechtsschutzziel des Antragstellers auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG gerichtet ist (vgl. unten Ziff. 1.). Der Antragsteller hat aber das Vorliegen weder eines Anordnungsanspruches noch eines Anordnungsgrundes glaubhaft gemacht, so dass auch bei Abwägung der Gesamtumstände die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nicht zu rechtfertigen ist (vgl. unten Ziff. 2.).
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1. Auslegung des Begehrens des Antragstellers
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Das SG hat das Rechtsschutzbegehren des Antragstellers zutreffend als Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG ausgelegt.
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Zwar könnte in einem Antrag auf „Aussetzung der Vollziehung“ aus Beitragsbescheiden, mit denen - infolge der Berufungsrücknahme im Verfahren L 20 KR 427/14 - rechtskräftig bestätigt Beiträge auf Kapitalleistungen erhoben werden, auch ein Rechtsschutzbegehren gegen die Zwangsvollstreckung liegen (vgl. zur Thematik Bayer. LSG, Beschluss vom 29.04.2014, L 7 AS 260/14 B ER). Wird aber ausschließlich geltend gemacht, dass die Beitragsforderung materiell-rechtlich unbegründet sei, kann der Antrag nur dahingehend verstanden werden, dass das Ziel des Rechtsschutzbegehrens eine Regelungsanordnung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG ist. Denn Einwendungen gegen den zu vollstreckenden Verwaltungsakt selbst sind gemäß § 256 Abgabenordnung (AO) außerhalb des Vollstreckungsverfahrens zu verfolgen (vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 30.07.2015, L 11 KR 3149/15 ER).
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Dies zugrunde gelegt und unter Berücksichtigung des Umstands, dass Maßstab der Auslegung von Prozesserklärungen und Anträgen bei Gericht der Empfängerhorizont eines verständigen Beteiligten ist (vgl. Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 12.12.2013, B 4 AS 17/13), wobei der Grundsatz des Meistbegünstigungsprinzips (vgl. BSG, Urteil vom 14.06.2018, B 9 SB 2/16 R) oder - in anderen Worten - einer rechtsschutzgewährenden Auslegung (vgl. Bundesfinanzhof, Beschluss vom 29.11.1995, X B 328/94) zu berücksichtigen ist, ist der Antrag des Antragstellers im Schreiben vom 30.06.2019 als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zu sehen. Der Antragsteller hat sich ausschließlich darauf gestützt, dass die Beitragsforderung der Antragsgegnerin materiell-rechtlich insofern unberechtigt sei, als eine Beitragserhebung auf die Kapitalleistungen der H. Lebensversicherung AG erfolgt. Zudem ist zu berücksichtigen, dass er seinen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz im Zusammenhang mit einem gerichtlichen Verfahren, dessen Gegenstand ein Überprüfungsbescheid gemäß § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ist, gestellt hat. Er strebt also die vorläufige Vorwegnahme des von ihm im Rahmen des Verfahrens nach § 44 SGB X erwünschten Ergebnisses an, um für sich wesentliche Nachteile zu vermeiden. Irgendwelche Einwendungen, die die Zwangsvollstreckung aus den Beitragsbescheiden an sich betreffen würden, die auch nicht Gegenstand des Hauptsacheverfahrens sind, hat der Antragsteller nicht erhoben.
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2. Prüfung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen nicht vor.
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Gegenstand des Hauptsacheverfahrens und des Verfahrens im einstweiligen Rechtsschutz ist die Korrektur der Beitragserhebung der Antragsgegnerin, der - rechtskräftig bestätigt - die Kapitalleistungen der H. Lebensversicherung AG zugrunde gelegt werden, im Rahmen eines Überprüfungsantrags gemäß § 44 SGB X, wobei der Antragsteller gegen den ablehnenden Überprüfungsbescheid vom 11.09.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 09.05.2018 bereits eine Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zum SG (Aktenzeichen des SG: S 17 KR 244/18) erhoben hat, über die noch nicht entschieden ist. Rechtsgrundlage für einen einstweiligen Rechtsschutz ist daher nicht § 86b Abs. 1 SGG, der bei der Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch oder Klage gegen einen Beitragsbescheid einschlägig wäre, sondern § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG, weil es um die Abänderung einer rechtskräftig bestätigten Beitragserhebung (aus Kapitalleistungen aus Direktversicherungen) geht.
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2.1. Zur Zulässigkeit des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bei einem Überprüfungsantrag gemäß § 44 SGB X Ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen (Regelungs-)Anordnung ist nicht schon deshalb unzulässig, weil die Beitragsbescheide, deren Vollstreckung mittels des einstweiligen Rechtschutzes abgewendet werden soll, bereits bestandskräftig sind (vgl. Bayer. LSG, Beschluss vom 11.09.2015, L 16 AS 510/15 B ER - m.w.N.). Zwar wird faktisch ein einstweiliger Rechtsschutz gegen einen bestandskräftigen Verwaltungsakt begehrt. Da aber der Gesetzgeber mit § 44 SGB X eine Möglichkeit zur Durchbrechung der Bestandskraft geschaffen hat, erfordert dies auch eine Abbildung im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes, der auch bei jedem anderen materiellen Antrag eröffnet ist, über den noch nicht bestandskräftig entschieden ist.
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Ob der Überprüfungsantrag des Antragstellers im Schreiben vom 29.03.2017 tatsächlich darauf gerichtet war, die mit Bescheid vom 13.08.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.09.2013 ausgesprochene Verbeitragung der Auszahlungen aus den vier Direktversicherungen (in Höhe von insgesamt 33.896,04 EUR beitragspflichtiger Auszahlungen) in Gänze aufzuheben oder Ziel nur die Zugrundelegung eines niedrigen Betrags war, wofür die Formulierung im Schreiben vom 29.03.2017 („Ich bitte nur darum, künftige Beitragsfestsetzungen aus allen Verträgen unter Berücksichtigung des erstmals am 22.03.2017 von H. (für die Versicherung 1…) mitgeteilten versicherungsrelevanten Anteils von 89% (19.205,49./. 21.533,6 EUR) der bescheinigten Kapitalleistungen vorzunehmen.“) sprechen könnte, was auch zu einer teilweisen Unzulässigkeit eines auf Nichtverbeitragung der Auszahlung in Gänze gerichteten Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz führen würde, kann vorliegend dahingestellt bleiben. Denn selbst dann, wenn davon ausgegangen wird, dass der Überprüfungsantrag gegen die Beitragserhebung aus den Kapitalleistungen an sich gerichtet ist, kann der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz keinen Erfolg haben (vgl. dazu im Folgenden).
2.2. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund
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Ein Anordnungsanspruch ist nicht glaubhaft gemacht.
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Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch darauf, zu was der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus. Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG glaubhaft zu machen. Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander, es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung der Art, als die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf eine einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die einstweilige Anordnung wird erlassen, wenn es dem Antragsteller unter Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten nicht zuzumuten ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.
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Liegt dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ein ablehnender Bescheid gemäß § 44 SGB X zugrunde, sind an Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund besonders hohe Anforderungen zu stellen. So ist es im Regelfall einem Antragsteller zuzumuten, die Entscheidung über den Überprüfungsantrag im Verwaltungs- und anschließenden gerichtlichen Hauptsacheverfahren abzuwarten. Dies bedeutet, dass besonders strenge Anforderungen zu stellen sind zum einen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs, also dass die Rechtswidrigkeit des bestandskräftigen Bescheids, dessen Änderung mit dem Überprüfungsantrag bezweckt wird, offensichtlich ist und deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einem für den Antragsteller positiven Ausgang des Überprüfungsverfahrens zu rechnen ist, zum anderen auch an die Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes, also dass massive Eingriffe in die soziale und wirtschaftliche Existenz mit erheblichen Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse offenkundig sind. Nur dann, wenn unter beiden Gesichtspunkten diese besonders hohen Anforderungen erfüllt sind, ist es nämlich im Rahmen der geltenden Rechtsordnung gerechtfertigt, im Vollstreckungsverfahren die Bestandskraft des zu überprüfenden Verwaltungsakts zu ignorieren. Anderenfalls würde die Untersagung der Vollstreckung durch Erlass einer einstweiligen Anordnung bei unsicherem Ausgang des Überprüfungsverfahrens gemäß § 44 SGB X im Widerspruch zur Wertung des § 257 AO stehen, der bei der Vollstreckung von Beitragsforderungen Anwendung findet, wenn eine (- wie hier - bundesweite) Krankenkasse die Vollstreckung gemäß § 66 SGB X nach dem Verwaltungsvollstreckungsgesetz des Bundes wählt (vgl. § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB X i.V.m. § 5 Abs. 1 Verwaltungsvollstreckungsgesetz). Gemäß § 257 Abs. 1 Nr. 2 AO ist die Vollstreckung (erst) einzustellen oder zu beschränken, sobald der Verwaltungsakt, aus dem vollstreckt wird, aufgehoben wird (vgl. zu allem LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.05.2013, L 19 AS 638/13 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.11.2013, L 9 KR 254/13 B ER; Bayer. LSG, Beschluss vom 11.09.2015, L 16 AS 510/15 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14.12.2015, L 8 AY 55/15 B ER; Sächsisches LSG, Beschluss vom 22.02.2016, L 3 AS 613/15 B ER).
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Dies zugrunde gelegt kann der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung keinen Erfolg haben.
2.2.1. Anordnungsanspruch
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Davon, dass der Überprüfungsantrag des Antragstellers offenkundige Erfolgsaussichten hätte, also dass die Rechtswidrigkeit der bestandskräftigen Feststellung, dass Beiträge auf die Kapitalleistungen im zugrunde gelegten Umfang zu erheben sind, offensichtlich wäre, kann keine Rede sein. Bereits in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 21.03.2017 ist dem Antragsteller bedeutet worden, dass ein Überprüfungsantrag allenfalls dann erfolgreich sein könnte, wenn er neue, bisher nicht bekannte Unterlagen dazu vorlegen könnte, dass er bereits früher als bis dahin angenommen in die Stellung als Versicherungsnehmer eingerückt wäre. Solche Unterlagen hat der Antragsteller aber nicht vorgelegt. Vielmehr hat er seinen Überprüfungsantrag im Schreiben vom 29.03.2017 mit altbekannten Umständen begründet und selbst zugestanden, dass er „keine eigenen alten Vertragsunterlagen“ habe und sich daher „auch nicht in der Lage [sehe], den allgemeinen, vom Gericht angesprochenen Überprüfungsantrag zu stellen.“ Der Antragsteller hat so mit seinen eigenen Worten mehr als deutlich gemacht, dass für seinen Überprüfungsantrag keine Erfolgsaussichten bestehen.
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Sofern der Antragsteller im Schreiben vom 04.10.2019 meint, dass das Bestehen einer betrieblichen Altersversorgung und die Auszahlung der Versicherungsleistungen an ihn nicht nachgewiesen seien, ist dies nicht nachvollziehbar - die Frage der betrieblichen Altersversorgung in Form von Direktversicherungen ist im rechtskräftig beendeten gerichtlichen Verfahren positiv beantwortet worden - bzw. nicht entscheidungserheblich - auf die Frage eines Geldflusses in Form einer Auszahlung an den Kläger selbst kommt es nicht an. Zudem verkennt der Antragsteller auch den Grundsatz der objektiven Beweislast. Denn die Beweislast im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens dafür, dass sich ein Sachverhalt als unrichtig erwiesen hat, trägt der Antragsteller, nicht die Antragsgegnerin, weil die maßgebende Norm für die Beurteilung des vorliegenden Rechtsstreits - anders als im Ausgangsverfahren, in dem die Beitragspflicht der Kapitallauszahlungen bestandskräftig festgestellt worden ist - § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist (vgl. BSG, Urteil vom 25.06.2002, B 11 AL 3/02 R).
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Lediglich der Vollständigkeit halber weist der Senat auf Folgendes hin: Zwar wäre die Antragsgegnerin mangels des Vortrags (und Nachweises) neuer entscheidungserheblicher Tatsachen und mangels von Hinweisen darauf, dass die bestandskräftige Entscheidung falsch gewesen wäre, nicht verpflichtet gewesen, in die weitere Sachprüfung einzusteigen, sondern hätte sich ohne jede Sachprüfung auf die Bindungswirkung ihre bestandskräftigen Entscheidung berufen dürfen (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 03.02.1988, 9/9a RV 18/86). Da die Antragsgegnerin aber eine umfassende Überprüfung ihres bestandskräftigen, die Beitragserhebung aus den Kapitalleistungen aussprechenden Bescheides vorgenommen hat, hat auch im gerichtlichen Verfahren eine vollständige Überprüfung zu erfolgen. Es ist aber nicht offensichtlich, dass sich dabei ein Grund für die Aufhebung des bestandskräftigen Bescheides ergeben wird; vielmehr ist auch unter diesem Gesichtspunkt von offenkundig fehlenden Erfolgsaussichten des Überprüfungsantrags auszugehen.
2.2.2. Anordnungsgrund
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Darauf, dass auch ein Anordnungsgrund nicht offensichtlich erkennbar ist, kommt es vorliegend im Rahmen der Güterabwägung nicht mehr entscheidend an. Von einer Existenzgefährdung des Antragstellers kann wegen der geltenden Pfändungsobergrenzen ohnehin nicht ausgegangen werden. Zudem hat er, obwohl das SG im angefochtenen Beschluss darauf hingewiesen hat, auch im Beschwerdeverfahren keinerlei Angaben zu seinem Vermögen gemacht, sondern nur Einkommenssteuerbescheide aus den Jahren 2012 bis 2015 vorgelegt, wonach er nur ein geringes Einkommen neben der Rente beziehe. Angaben zu seinem Vermögen hat er aber nicht gemacht. Allein der Umstand, dass im Jahr 2011 ein Insolvenzverfahren eingestellt worden ist, lässt noch keinen ausreichenden Rückschluss auf die Vermögensverhältnisse heute, also acht Jahre später zu.
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Angesichts der aufgezeigten Umstände kommt auch im Rahmen einer Gesamtabwägung der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht in Betracht.
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Die Beschwerde gegen den Beschluss vom 01.08.2019 ist daher zurückzuweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Sie folgt aus dem Unterliegen des Antragstellers.
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Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).