Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 12.09.2019 – 1 AR 93/19
Titel:

Voraussetzungen für Zuständigkeitsbestimmung

Normenketten:
ZPO § 12, § 13, § 36 Abs. 1 Nr. 6, § 281 Abs. 1
EGZPO § 9
Leitsätze:
1. Eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO setzt voraus, dass verschiedene Gerichte, von denen eines für den Rechtsstreit zuständig ist, sich „rechtskräftig“ für unzuständig erklärt haben. Diese Anforderung wird durch Verweisungen nach § 281 Abs. 1 ZPO und sonstige die Zuständigkeit abschließend verneinende Entscheidungen erfüllt, nicht jedoch durch interne Abgaben und Aktenweiterleitungen oder Aktenrücksendungen. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
2. Darüber hinaus ist erforderlich, dass die Zuständigkeitsverneinung allen Parteien des Rechtsstreits mitgeteilt worden ist, denn erst dann kann sie als wirksam angesehen werden (ebenso BGH BeckRS 9998, 14874). (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses entfällt nicht deshalb, weil der Beschluss nicht mit einer fallbezogenen Begründung versehen ist. Jedenfalls dann, wenn eine Partei zu der Rechtsauffassung des verweisenden Gerichts nicht Stellung nimmt, obwohl sie dazu Gelegenheit hatte, genügt es, dass sich die Begründung für die Verweisung aus dem Akteninhalt erschließt; ein schwerwiegender Verstoß, der die Bindungswirkung entfallen lässt, liegt unter diesen Umständen nicht vor (ebenso BGH BeckRS 2014, 17303 Rn. 9). (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Zuständigkeitsbestimmung, Wohnsitz, Verweisungsantrag, Verweisung, Erklärung der Unzuständigkeit, Gerichtsstand
Fundstelle:
BeckRS 2019, 21394

Tenor

Eine Zuständigkeitsbestimmung wird zum gegenwärtigen Zeitpunkt abgelehnt.

Gründe

I.
1
Die im Bezirk des Amtsgerichts Miesbach wohnende Klägerin hat ein Mahnverfahren vor dem Amtsgericht Coburg als Mahngericht für die Bezirke aller Amtsgerichte in Bayern (vgl. § 5 Abs. 1 RZVJu) gegen die im Bezirk des Amtsgerichts Neukölln wohnende Beklagte eingeleitet, in dem sie eine Hauptforderung aus „Warenlieferung/ -en gem. Kauf Tasche vom 28. 09. 18“ i. H. v. 340,00 € geltend gemacht hat. Als Prozessgericht hat sie das Amtsgericht Coburg angegeben. Gegen den am 19. Februar 2019 zugestellten Vollstreckungsbescheid hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 2. Mai 2019 Einspruch eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sowie die Einstellung der Zwangsvollstreckung beantragt. Daraufhin hat die Mahnabteilung des Amtsgerichts Coburg das Verfahren an die Zivilabteilung dieses Gerichts abgegeben, wo die Zwangsvollstreckung gegen Sicherheitsleistung einstweilen bis zur Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag und den damit verbundenen Einspruch eingestellt worden ist.
2
Mit Verfügungen vom 10. Mai 2019 hat das Amtsgericht Coburg die Klägerin aufgefordert, den Anspruch binnen zwei Wochen zu begründen, und die Parteien darauf hingewiesen, dass gegen seine örtliche Zuständigkeit Bedenken bestünden. Es komme nicht darauf an, dass das Amtsgericht Coburg - Zentrales Mahngericht - einen Vollstreckungsbescheid erlassen habe; ausschließlich zuständig sei das Gericht, das im Streitverfahren örtlich und sachlich zuständig sei; das sei nicht das Amtsgericht Coburg, da die Beklagte hier nicht ihren Wohnsitz habe. Nach § 13 ZPO komme eine Zuständigkeit des Amtsgerichts Berlin [sic] in Betracht; wegen der noch nicht erfolgten Anspruchsbegründung sei nicht ersichtlich, ob die Zuständigkeit eines anderen Gerichts ebenfalls in Betracht komme. Das Gericht hat der Klägerin unter Fristsetzung bis 16. Mai 2019 Gelegenheit gegeben, hierzu Stellung zu nehmen und mitzuteilen, ob ein Verweisungsantrag gestellt werde. Außerdem hat es der Beklagten Gelegenheit gegeben, sich binnen gleicher Frist dazu zu äußern, ob bei einem eventuellen Verweisungsantrag Einverständnis mit der Verweisung bestehe, und gemäß § 504 ZPO darauf hingewiesen, dass es bei rügeloser Verhandlung zur Hauptsache zuständig werde. Daraufhin hat die Klägerin mit Anwaltsschriftsatz vom 16. Mai 2019 die Verweisung des Rechtsstreits an das Amtsgericht Neukölln beantragt. Die Beklagte hat mit Anwaltsschriftsatz vom 20. Mai 2019 die Unzuständigkeit des Amtsgerichts Coburg gerügt und sich mit einer Verweisung an das zuständige Amtsgericht in Berlin einverstanden erklärt. Mit Beschluss vom 22. Mai 2019 hat sich das Amtsgericht Coburg für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Amtsgericht Neukölln verwiesen. Zur Begründung hat es lediglich ausgeführt, örtlich unzuständig zu sein; auf Antrag der Prozessbevollmächtigten habe sich das angegangene Gericht für unzuständig zu erklären und den Rechtsstreit an das örtlich zuständige Gericht zu verweisen.
3
Das Amtsgericht Neukölln hat in einem Vermerk vom 20. Juni 2019 die Auffassung vertreten, dass der Verweisungsbeschluss nicht bindend sei, weil das Amtsgericht Coburg seine örtliche Unzuständigkeit nicht geprüft habe und auch nicht habe prüfen können, weil bislang eine Anspruchsbegründung nicht vorliege; eine Verweisung ohne Prüfung der eigenen örtlichen (Un-)Zuständigkeit sowie unter Erwägung allein der §§ 12, 13 ZPO als mögliche die örtliche Zuständigkeit begründende Regelung erscheine willkürlich. Es hat die Akten dem Amtsgericht Coburg unter Bezugnahme auf den Vermerk übersandt und verfügt, dass dies den Parteivertretern mitgeteilt werde.
4
Mit Verfügung vom 2. Juli 2019 hat das Amtsgericht Coburg den Rechtsstreit mit der Bitte um Entscheidung gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO dem Bayerischen Obersten Landesgericht vorgelegt. Im Bestimmungsverfahren hat die Klägerin mitgeteilt, dass die schriftliche Nachricht des Amtsgerichts Neukölln betreffend die Aktenrücksendung an das Amtsgericht Coburg bei ihr nicht eingegangen sei.
II.
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Eine Zuständigkeitsbestimmung kommt derzeit nicht in Betracht.
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1. Für die mit der Vorlage angestrebte Zuständigkeitsbestimmung gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO ist das Bayerische Oberste Landesgericht gemäß § 36 Abs. 2 ZPO i.V. m. § 9 ERZPO zuständig.
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2. Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO liegen derzeit jedoch nicht vor.
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a) § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO setzt voraus, dass verschiedene Gerichte, von denen eines für den Rechtsstreit zuständig ist, sich „rechtskräftig“ für unzuständig erklärt haben.
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Diese Anforderung wird durch Verweisungen nach § 281 Abs. 1 ZPO und sonstige die Zuständigkeit abschließend verneinende Entscheidungen erfüllt (vgl. BRH, Beschluss vom 15. August 2017, X ARZ 204/17, NJW-RR 2017,1213 Rn. 12 m. w. N.), nicht jedoch durch interne Abgaben und Aktenweiterleitungen oder -rücksendungen (vgl. OLR München, Beschluss vom 6. November 2015, 34 AR 231/15, juris Rn. 5; Toussaint in BeckOK ZPO, 33. Ed. Stand: 1. Juli 2019, § 36 Rn. 39.1; Heinrich in Musielak/Voit, ZPO, 16. Aufl. 2019, § 36 Rn. 30; Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 40. Aufl. 2019, § 36 Rn. 23; Schultzky in Zöller, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 36 Rn. 35 a. E.; Patzina in Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Aufl. 2016, § 36 Rn. 37; jeweils m. w. N.).
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Darüber hinaus ist erforderlich, dass die Zuständigkeitsverneinung allen Parteien des Rechtsstreits mitgeteilt worden ist, denn erst dann kann sie als wirksam angesehen werden (vgl. BRH, Beschluss vom 4. Juni 1997, XII ARZ 13/97, NJW-RR 1997, 1161 [juris Rn. 4]; BayObLR, Beschluss vom 2. Februar 2005, 1Z AR 16/15, NJW-RR 2005, 1012 [juris Rn. 3]; OLR Düsseldorf, Beschluss vom 19. Januar 2015, 5 Sa 83/14, juris Rn. 8; jeweils m. w. N.).
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b) Vorliegend hat sich bisher nur eines der beteiligten Gerichte - das Amtsgericht Coburg - rechtskräftig i. S. d. § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO für unzuständig erklärt, indem es das dort spätestens seit Eingang der Akten rechtshängige (vgl. BRH, Urt. v. 5. Februar 2009, III ZR 164/08, BRHZ 179, 329 Rn. 17) Verfahren nach § 281 Abs. 1 ZPO verwiesen hat.
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Dagegen liegt in der Verfügung der Aktenrückübersendung des Amtsgerichts Neukölln keine i. S. d. § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO rechtskräftige Erklärung dessen Unzuständigkeit. Ihr kann auch unter Berücksichtigung des dazu gefertigten Vermerks nicht entnommen werden, dass sich dieses Gericht für unzuständig erachtete, sondern lediglich, dass es den Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Coburg als nicht bindend ansehe. Im Übrigen ist die Rücksendung der Klägerin nicht mitgeteilt worden, so dass die Rücksendungsverfügung auch unter diesem Gesichtspunkt nicht als rechtskräftige Erklärung angesehen werden kann.
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3. Zur Vermeidung weiteren Zuständigkeitsstreits weist der Senat darauf hin, dass der Rechtsstreit ungeachtet des Fehlens einer Anspruchsbegründung mit bindender Wirkung nach § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO an das Amtsgericht Neukölln verwiesen worden sein dürfte.
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a) Nach § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO ist ein auf der Grundlage von § 281 ZPO ergangener Verweisungsbeschluss für das Gericht bindend, an das die Sache verwiesen wird. Die Bindungswirkung entfällt nur dann, wenn der Verweisungsbeschluss schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen anzusehen ist, etwa weil er auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen wurde oder jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als willkürlich betrachtet werden muss. Als in diesem Sinne willkürlich erweist sich ein Verweisungsbeschluss dann, wenn er bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken als schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar und unverständlich erscheint und deshalb offensichtlich unhaltbar ist (st. Rspr., vgl. BRH, Beschluss vom 15. August 2017, X ARZ 204/17, NJW-RR 2017, 1213 Rn. 15 m. w. N.).
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b) Danach gibt es keinen Grund, dem Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Coburg die gesetzliche Bindungswirkung abzusprechen.
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Er beruht nicht auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs. Das Amtsgericht Coburg hat die Parteien darauf hingewiesen, dass es sich aufgrund der ihm bekannten Umstände für örtlich unzuständig erachte, und diesen Gelegenheit zur Stellungnahme dazu gegeben, die von beiden Parteien genutzt worden ist, wobei insbesondere die Klägerin davon abgesehen hat, neue Umstände vorzutragen, aus denen sich die Zuständigkeit des Amtsgerichts Coburg hätte ergeben sollen, sondern lediglich die Verweisung beantragt hat.
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Die Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses entfällt auch nicht deshalb, weil der Beschluss nicht mit einer fallbezogenen Begründung versehen ist. Jedenfalls dann, wenn eine Partei zu der Rechtsauffassung des verweisenden Gerichts nicht Stellung nimmt, obwohl sie dazu Gelegenheit hatte, genügt es, dass sich die Begründung für die Verweisung aus dem Akteninhalt - hier dem Hinweis vom 10. Mai 2019 - erschließt; ein schwerwiegender Verstoß, der die Bindungswirkung entfallen lässt, liegt unter diesen Umständen nicht vor (vgl. BRH, Beschluss vom 26. August 2014, X ARZ 275/14, juris Rn. 9).
18
Schließlich stellt es sich auch nicht als willkürlich dar, dass sich das Amtsgericht Coburg für den Rechtsstreit wegen des Kaufs einer Tasche zwischen der im Bezirk des Amtsgerichts Miesbach wohnenden Klägerin und der im Bezirk des Amtsgerichts Neukölln wohnenden Beklagten als örtlich unzuständig angesehen hat. Einziger Bezugspunkt zum Amtsgericht Coburg ist die Zuständigkeitskonzentration für Mahnverfahren bei diesem Gericht, die für den Gerichtsstand ohne Bedeutung ist. Da die Klägerin die ihr eingeräumte Gelegenheit nicht ergriffen hatte, tatsächliche Grundlagen für einen besonderen Gerichtsstand - etwa eine wirksame Vereinbarung zum Erfüllungsort oder zum Gerichtsstand - vorzutragen oder zumindest derartigen Vortrag in der Anspruchsbegründung anzukündigen, kann es nicht als willkürlich angesehen werden, dass sich das Amtsgericht Coburg ohne weiteres Zuwarten für örtlich unzuständig erklärt hat.