Inhalt

LSG München, Urteil v. 03.06.2019 – L 9 AL 207/15
Titel:

Arbeitslosenversicherung: Erfordernis zeitlicher Kongruenz bei der Anrechnung von Einkünften aus Gewerbebetrieb auf Arbeitslosengeld

Normenketten:
EStG § 4, § 5
SGB III § 138, § 155
SGB III aF § 119, § 141
SGB IV § 15
SGB X § 48
Leitsatz:
Nebeneinkommen aus Beschäftigung oder selbstständiger Tätigkeit sind im Hinblick auf Anrechnung des Nebeneinkommens auf Arbeitslosengeld nur insoweit relevant, als sie mit dem ALG-Bezug zusammentreffen. (Rn. 51) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Beschäftigungslosigkeit, Ermittlung des monatlichen Betrags der Einkünfte, Ruhen des Arbeitslosengelds, Zusammentreffen von Arbeitslosengeld und Einkünften aus Gewerbebetrieb, Arbeitslosengeld, Nebeneinkommen, Anrechnung, Periodenübereinstimmung, zeitliche Kongruenz, Gewinnermittlung, selbstständige Tätigkeit
Vorinstanz:
SG Regensburg, Urteil vom 30.06.2015 – S 12 AL 126/12
Fundstelle:
BeckRS 2019, 20912

Tenor

I. Auf die Berufung werden das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 30. Juni 2015 sowie der Bescheid vom 8. Juni 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. April 2012 aufgehoben.
II. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1
Im vorliegenden Berufungsverfahren wendet sich der Kläger gegen die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld (ALG) für den Zeitraum 01.01. bis 30.09.2006 und gegen die Anordnung der Erstattung von Leistungen sowie von Versicherungsbeiträgen.
2
Der 1966 geborene Kläger war zuletzt vom 01.04.1994 bis 30.09.2005 als Bauleiter versicherungspflichtig beschäftigt. Er arbeitete in Vollzeit bei der Firma K. GmbH, N-Stadt. Den Arbeitsplatz verlor er durch betriebsbedingte Kündigung seitens der Arbeitgeberin.
3
Am 05.10.2005 meldete er sich bei der Agentur für Arbeit N-Stadt. (AA) persönlich arbeitslos. Im ALG-Antrag gab der Kläger an, er übe weiterhin eine Beschäftigung/Tätigkeit aus, und zwar als Planer/Baubetreuer im zeitlichen Umfang von unter 15 Stunden wöchentlich. In einer gesonderten Erklärung zu der selbständigen Tätigkeit schrieb er, die selbständige Tätigkeit werde seit 2001 im Umfang von unter 15 Wochenstunden ausgeübt. Die Art der Tätigkeit beschrieb der Kläger mit Planung von Wohngebäuden, Vergabe und Abrechnung von Bauleistungen. Die Frage, ob er Arbeitgeber sei, verneinte er. In seiner Einschätzung des Einkommens aus dieser Tätigkeit gab er unter dem Datum 15.11.2005 an, die Tätigkeit habe im Jahr 2005 zu einem Negativeinkommen geführt. Er sagte zu, den Einkommensteuerbescheid 2005 nachzureichen. Als Gründe für das Minus nannte er: Verzinsung bei Banken, höhere Aufwendungen als vorgesehen, allgemeine Wirtschaftslage, zu hohe Herstellungskosten.
4
Mit Bescheid vom 24.11.2005 bewilligte die Beklagte dem Kläger vorläufig ALG ab dem 05.10.2005 für 360 Tage; das Bemessungsentgelt nahm sie mit 122,87 EUR an (Lohnsteuerklasse III; erhöhter Satz).
5
Mit Bescheid vom 24.10.2006 hob die Beklagte die ALG-Bewilligung ab 01.10.2006 auf, weil sich der Kläger aus dem Leistungsbezug abgemeldet hatte. Bezüglich der eingetretenen Überzahlung in Höhe von 162,78 EUR (Zeitraum 01. bis 03.10.2006) ordnete sie die Erstattung an. Entsprechend ging sie hinsichtlich der Beiträge zu Kranken- und Pflegeversicherung vor. Der Kläger akzeptierte dies alles.
6
Ende 2006 schickte sich die Beklagte an zu prüfen, welches Einkommen der Kläger aus der angegebenen Nebentätigkeit erzielt hatte. Erst nach wiederholter Aufforderung, verbunden mit der Androhung, Leistungen zu entziehen, übermittelte der Kläger unter dem Datum 28.02.2007 den von der AA gewünschten Einkommensteuerbescheid 2005. Dieser wies Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von minus 73.440 EUR aus. Angesichts positiver Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit ergab sich ein Gesamtbetrag der Einkünfte von minus 40.304 EUR. Die Beklagte sah keinen Anlass, für das Kalenderjahr 2005 Erwerbseinkünfte auf das bezogene ALG anzurechnen. Für die Einkommensverhältnisse 2006 interessierte sie sich zunächst nicht.
7
Nach langer Passivität entschloss sich die AA im März 2009, nunmehr die Nebeneinkünfte im Jahr 2006 zu ermitteln:
* Die AA forderte mit Schreiben vom 30.03.2009 den Kläger auf, für den Zeitraum 01.01. bis 30.09.2006 die Betriebseinnahmen anzugeben, eventuell auch die Betriebsausgaben (sofern diese 30% der Betriebseinnahmen übersteigen würden). Der Kläger reagierte nicht.
* Mit Schreiben vom 28.04.2009 erfolgte eine Erinnerung mit Androhung des Leistungsentzugs. Am 29.04.2009 rief die Ehefrau des Klägers bei der AA an: Sie, die Ehefrau, habe mit dem Steuerberater, dem Zeugen D., gesprochen, welcher davon ausgehe, dass die Gewinn- und Verlustrechnung (GuV) bis 31.05.2009 vorliegen werde; sie bitte, die Abgabefrist bis 10.06.2009 zu verlängern.
* Am 08.05.2009 rief die Steuerberaterkanzlei bei der AA an. Offenbar wurde in diesem Rahmen kommuniziert, eine Einnahmenüberschuss-Rechnung und der Einkommensteuerbescheid 2006 würden folgen. Dem war dann aber nicht so.
* Unter dem Datum 16.06.2009 mahnte die AA die GuV und den Steuerbescheid 2006 an (Frist: 03.07.2009). Erneut geschah innerhalb der gesetzten Frist nichts.
* Am 16.07.2009 telefonierte der Kläger mit der AA; man vereinbarte, der Steuerbescheid 2006 werde bis 27.07.2009 geschickt. Auch dieses Versprechen hielt der Kläger nicht.
* Unter dem Datum 27.08.2009 mahnte die AA erneut die GuV oder den Steuerbescheid 2006 an (Frist: 04.09.2009).
* Am 03.09.2009 telefonierte der Kläger mit der AA und teilte mit, der Steuerberater sei verhindert; erst in circa vier Wochen könnten die Unterlagen eingereicht werden. Die AA vermerkte die letztmalige Verlängerung der Wiedervorlage auf 30.10.2009. Aber wiederum geschah bis zum 30.10.2009 nichts.
* Unter dem Datum 04.11.2009 mahnte die AA abermals (Frist: 28.11.2009) und drohte nun auch wieder den Entzug der Leistungen an.
* Der Steuerberater rief am 25.11.2009 bei der AA an und teilte mit, er könne die Frist für die Einreichung des Steuerbescheids nicht einhalten. Man vereinbarte, die Wiedervorlage werde bis 15.01.2010 verlängert; es werde eine „GuV-Aufstellung“ geschickt. Wie auch bisher erfolgte keine fristgerechte Reaktion.
* Mit Schreiben vom 26.01.2010 hörte die AA den Kläger erstmals zu einer Aufhebung der Leistungsbewilligung und Erstattung der Leistungen an.
* Am 12.02.2010 rief der Zeuge D. bei der AA für Arbeit an und bat um Terminverlängerung bis 15.03.2010; der Vorgang wurde auf „WV 20.03.“ gelegt. Am 15.03.2010 übersandte der Steuerberater die schriftliche Bitte um Fristverlängerung bis 20.03. Nach ersten Erkenntnissen, so schrieb er, liege der Hinzuverdienst unterhalb der schädlichen Grenze; geeignete Unterlagen würden nachgereicht. Nachgereicht wurde allerdings nichts.
* Unter dem Datum 12.04.2010 mahnte die AA den Einkommensteuerbescheid 2006 an (Frist: 28.04.2010); im Betreff schrieb sie „Letzte Aufforderung!“.
* Am 29.04.2010 rief der Steuerberater bei der AA für Arbeit an und bat um Terminverlängerung. Er erklärte, die Einkommensteuererklärung sei noch nicht beim Finanzamt eingereicht worden. Das war zum damaligen Zeitpunkt definitiv die Unwahrheit. Die AA verfügte die Wiedervorlage auf den 30.06.2010. Aber der Kläger reagierte bis dahin nicht.
* Jetzt begann AA, sich wieder an den Kläger selbst zu wenden, und das in ganz freundlichem Ton, als ob nichts gewesen wäre. Mit Schreiben vom 02.07.2010 bat sie nett und bescheiden um Übersendung des Einkommensteuerbescheids 2006 bis 18.07.2010. Aber wiederum geschah nichts.
* Mit Schreiben vom 29.07.2010 bat die AA den Kläger wieder sehr freundlich und unaufdringlich um Übersendung des Einkommensteuerbescheids 2006 bis 11.08.2010. Aber nichts geschah. Auf diesem Schreiben ist handschriftlich vermerkt, laut telefonischer Rücksprache mit dem Finanzamt liege der Steuerbescheid 2006 bereits vor.
* Obwohl nun eigentlich eine Lüge aus dem Lager des Klägers aufgedeckt war, reagierte die AA mit einer freundlichen Erinnerung (Schreiben vom 17.08.2010), Frist bis 31.08.2010; immerhin mit Androhung des Leistungsentzugs ab 01.03.2006.
* Am 31.08.2010 rief der Steuerberater bei der AA für Arbeit an und bat um Terminverlängerung. Wiedervorlage wurde auf den 20.01.2011 verfügt. Ein Mitarbeiter des Steuerberaters erklärte telefonisch, der Steuerbescheid liege noch nicht vor, was wiederum nicht stimmte. Bis zum 20.01.2011 geschah wieder nichts.
* Aber: Wieder freundliche Bitte um Übersendung des Einkommensteuerbescheids 2006 bis 07.02.2011 (Schreiben vom 24.01.2011) - sogar ohne Androhung der Leistungsentziehung. Aber wieder erfolgte keine Reaktion.
* Dann erging eine erneute Anhörung wegen Leistungsaufhebung und Erstattung mit Schreiben vom 10.02.2011. Weder der Kläger noch der Steuerberater reagierte.
8
Erst als die AA im März 2011 das für den Kläger zuständige Finanzamt N-Stadt. kontaktierte, erhielt sie vermeintlich verwertbare Informationen: Das Finanzamt teilte der AA mit Schreiben vom 18.05.2011 mit, der Kläger habe während des Kalenderjahres 2006 eine gewerbliche Tätigkeit ausgeübt, wobei sich der anteilige Gewinn auf 37.537 EUR belaufe. Der Verfasser dieses Schreibens ergänzte am 19.05.2011 telefonisch, der Gewinn in Höhe von 37.537 EUR betreffe nur die gewerbliche Tätigkeit für die Zeit vom 01.01. bis 30.09.2006.
9
Der Einkommensteuerbescheid 2006 trägt das Datum 12.10.2009. Er weist Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von 59.469 EUR aus. Letztlich musste der Kläger wegen eines Verlustvortrags jedoch keine Steuern bezahlen; vielmehr errechnete das Finanzamt ein zu versteuerndes Einkommen von minus 14.098 EUR. Bereits unter dem Datum 30.01.2009 war ein Einkommensteuerbescheid 2006 ergangen, der Einkünfte aus Gewerbebetrieb sogar in Höhe von 85.836 EUR dokumentiert hatte und auf der Steuererklärung und dem Jahresabschluss des Klägers basierte. Im Lauf des Jahres 2009 fand jedoch eine Außenprüfung des Finanzamts beim Kläger statt, die letztlich zu dem geminderten Gewinn führte, welcher dann letztlich dem Einkommensteuerbescheid vom 12.10.2009 zugrunde lag.
10
Aus einem am 23.02.2007 erstellten Dokument des Finanzamts über das Steueranmeldungsverfahren zur Umsatzsteuer geht hervor, dass der Umsatz des Klägers im gesamten Jahr 2006 570.468 EUR betrug. Die Umsätze im Jahr 2005 wurden mit 359.220 EUR angegeben.
11
Die Auskunft des Finanzamts vom 18.05.2011 war für die AA Grund genug, den Kläger unter dem Datum 19.05.2011 anzuhören. Sie unterrichtete diesen über den Stand der Ermittlungen sowie über ihre Absicht, die Leistungsbewilligung aufzuheben und die Leistungserstattung anzuordnen, und gab ihm Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Stellungnahme (Schreiben vom 03.06.2011) kam vom Steuerberater des Klägers, dem Zeugen D.. Dieser schrieb, es treffe nicht zu, dass der Kläger im Zeitraum Januar bis September 2006 einen Gewinn von 37.537 EUR erzielt habe. Das authentische Betriebsergebnis werde vielmehr in einer separaten Gewinnermittlung ausgewiesen, die der Beklagten am 06.06.2011 zugeleitet werde. Zwar treffe zu, dass der Kläger 2006 ein Nebeneinkommen aus dem Gewerbe gehabt habe. Er habe aber stets darauf geachtet, dass die Hinzuverdienstgrenze nicht überschritten worden sei. Richtig sei auch, dass der Gewinn für das ganze Jahr 2006 höher gewesen sei; dieser sei jedoch erst in der Phase Oktober bis Dezember 2006 erwirtschaftet worden. Der Steuerberater machte seine Ankündigung, bis zum 06.06.2011 die gesonderte Bilanz zu übersenden, nicht wahr.
12
Mit Bescheid vom 08.06.2011 hob die Beklagte die Bewilligung von ALG ab 01.01.2006 auf der Grundlage von § 48 des Sozialgesetzbuchs Zehntes Buch (SGB X) auf. Sie begründete dies damit, der Kläger habe Einkommen oder Vermögen erzielt, das zum Wegfall oder zur Minderung seines Anspruchs geführt habe, und verwies insoweit auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X. Die Überzahlung habe der Kläger verursacht, weil er diese Änderung in den Verhältnissen nicht mitgeteilt habe. Den überzahlten Betrag in Höhe von 14.650,20 EUR müsse er erstatten; als Rechtsgrundlage nannte die Beklagte § 50 Abs. 1 SGB X. Außerdem habe der Kläger auf der Grundlage von § 335 des Dritten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB III) 3.220,74 EUR für die Beiträge zur privaten Krankenversicherung und 159,48 EUR für die Beiträge zur privaten Pflegeversicherung zu erstatten. Die Gesamtforderung betrage somit 18.030,42 EUR.
13
Am 04.07.2011 legte der Kläger gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid Widerspruch ein. Er trug vor, im Zeitraum Januar bis September 2009 habe er kein positives Einkommen erzielt, sondern nur einen Verlust erwirtschaftet. Dies ergebe sich aus der beigefügten Gewinnermittlung, die sein Steuerberater nun angefertigt habe. Er bedauere, dass es zu Verzögerungen gekommen sei. Bei der Gewinnermittlung, die dem Widerspruch beigefügt war, handelte es sich um einen Jahresabschluss zum Stichtag 30.09.2006.
14
Auch der Erlass des Widerspruchsbescheids verzögerte sich. Die Widerspruchsstelle entschloss sich, den Jahresabschluss nicht anzuerkennen, solange das Finanzamt seine Gewinnmitteilung nicht geändert habe. Am 28.07.2011 kam es zu einem Telefonat zwischen dem Zeugen D. und der Widerspruchsstelle. Die Widerspruchsstelle vermerkte dazu, der Steuerberater habe nicht eingesehen, dass die Daten des Finanzamts herangezogen würden; denn dabei habe es sich lediglich um den Dreiviertelanteil des Jahresbetrags gehandelt. Es sei nicht berücksichtigt worden, wann die positiven Einnahmen tatsächlich zugeflossen seien. Der Bearbeiter der Widerspruchsstelle erwiderte, im hier vorliegenden Fall komme es nicht auf den Zufluss, sondern auf die Zeit der Erarbeitung an. Bei einem erneuten Telefonat am 01.08.2011 wandte der Zeuge D. ein, bis 31.08.2006 seien die geschäftlichen Aktivitäten des Klägers sehr gering gewesen. Die Gewinne seien hauptsächlich in der Zeit vom 01.09. bis 31.12.2006 erarbeitet worden. Man vereinbarte, der Zeuge D. erhalte bis 31.10.2011 Zeit, eine aussagekräftige Aufstellung zu übersenden. Aber wieder blieb der Steuerberater stumm. So setzte die Widerspruchsstelle mit Schreiben vom 12.01.2012 eine letzte Frist bis 30.01.2012, damit er darlege, warum der Bescheid nicht richtig sei. Auf diesem Schreiben ist ein Telefonat mit dem Zeugen D. vom 30.01.2012 vermerkt: Herr D., so der Vermerk, sei sich sicher, dass der Kläger während der Arbeitslosigkeit nur einen sehr kleinen Anteil des Gewinns erarbeitet habe. Es sei sehr aufwändig, hierfür Beweise zu erarbeiten. Der Bearbeiter der Widerspruchsstelle gewährte eine letzte Fristverlängerung bis 28.02.2012. Dann, so steht im Vermerk, werde ohne weiteren Rückruf entschieden. Der Zeuge D. ließ nichts mehr von sich hören.
15
Mit Widerspruchsbescheid vom 20.04.2012 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Sie stützte sich im Wesentlichen auf die Gewinnmitteilung des Finanzamts N-Stadt. Sie schrieb, da aus den vorliegenden Unterlagen nicht erkennbar sei, wie hoch die Betriebseinnahmen im fraglichen Zeitraum gewesen seien, diese aber keinesfalls unter dem ermittelten Gewinn liegen könnten, werde der vom Finanzamt mitgeteilte Betrag als Betriebseinnahmen angesetzt.
16
Am 29.05.2012 hat der Kläger beim Sozialgericht Regensburg Klage erhoben. Zur Begründung ist vorgetragen worden, die Beklagte habe zu Unrecht auf den Gewinn abgestellt; vielmehr hätte sie auf das steuerrechtliche Einkommen rekurrieren müssen; das Einkommen für 2006 liege bei minus 14.098 EUR. Zudem hat der Kläger den Einwand der Entreicherung, die Einrede der Verwirkung und die Einrede der Verjährung erhoben. Erstmals hat der Kläger den Einkommensteuerbescheid 2006 vorgelegt. Zudem hat er ausdrücklich gefordert, den Verlustvortrag zu berücksichtigen.
17
Mit Urteil vom 29.10.2015 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. In der Begründung hat es geschrieben, nach dem letztverbindlichen Einkommensteuerbescheid 2006 sei von einem Gesamtbetrag der Einkünfte in Höhe von 62.118 EUR auszugehen. Zwar weise der Steuerbescheid ein negatives zu versteuerndes Einkommen aus, allerdings ergebe sich dieses negative Einkommen lediglich daraus, dass beim Kläger ein Verlustvortrag in Höhe von 63.403 EUR angesetzt worden sei. Dieser sei nicht berücksichtigungsfähig. Die Einwendungen des Bevollmächtigten des Klägers hätten am Ergebnis nichts ändern können. Das zivilrechtliche Institut der Entreicherung, das dem Bereicherungsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs zuzuordnen sei, sei im Sozialrecht mit Blick auf bestehende Spezialregeln nicht unmittelbar einschlägig. Im Übrigen sei auch nicht ersichtlich, wieso beim Kläger mit Blick auf die Aufhebung und Erstattung Verwirkung oder Verjährung eingetreten sein sollte. Im Übrigen sei für das Institut der Verwirkung davon auszugehen, dass die Voraussetzungen einer Verwirkung ohnehin nicht vorliegen würden. Die lange Zeitdauer, die der gegenständlichen Konstellation zugrunde liege, sei ausschließlich auf die verzögernde Behandlung durch den Kläger selbst zurückzuführen. Die Beklagte habe jedenfalls zu keinem Zeitpunkt das Verfahren so zögerlich betrieben, dass von einer Verwirkung ausgegangen werden könnte.
18
Am 15.08.2015 hat der Kläger Berufung eingelegt. Zunächst hat er das Rechtsmittel damit begründet, das Sozialgericht habe zu Unrecht den Verlustvortrag nicht berücksichtigt. Denn es gelte der Vorrang des Einkommensteuerrechts. Bei der Ermittlung des Einkommens seien die Betriebsausgaben gewinnmindernd zu berücksichtigen, weswegen auch der Verlustvortrag abgezogen werden müsse. Außerdem hat der Kläger abermals den Einwand der Entreicherung erhoben. Er, so der Kläger, habe zu keiner Zeit das Verfahren vor der AA verzögert. Er habe vielmehr stets zeitnah den Zeugen D. mit der Wahrnehmung der Angelegenheit beauftragt.
19
Nach entsprechenden Hinweisen seitens des Senats ist der Kläger von dieser Argumentation abgerückt. Zuletzt vertritt er die Ansicht, er habe im maßgebenden Zeitraum Januar bis September 2009 weder die 15-Stunden-Grenze des § 119 Abs. 3 Satz 1 SGB III aF verletzt noch in dieser Zeit auf das ALG anzurechnendes Einkommen erzielt.
20
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 30.06.2015 sowie den Bescheid vom 08.06.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.04.2012 aufzuheben.
21
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
22
Sie hält das Urteil des Sozialgerichts für richtig. Nachdem sie sich im Berufungsverfahren zunächst fast zur Gänze inaktiv verhalten hat, verlegt sie sich zuletzt auf einen Aspekt, der für sie bis dato kaum eine Rolle gespielt hat: Der Kläger, so bringt sie vor, habe die 15-Stunden-Grenze des § 119 Abs. 3 Satz 1 SGB III aF verletzt und daher nicht einmal einen Anspruch dem Grunde nach gehabt. Diesbezüglich macht sie geltend, die Beweislast für deren Einhaltung liege nicht bei ihr, sondern angesichts dessen massiver Verzögerungen beim Kläger. Im Hinblick auf die Anrechnung des Nebeneinkommens räumt die Beklagte zwar ein, dass die Handhabung, den Jahresgewinn zu zwölfteln und das Ergebnis mit neun zu multiplizieren, falsch war. Jedoch meint sie, dadurch zu einem bilanziellen Gewinn für den Zeitraum Januar bis September 2006 zu kommen, dass sie den Übergangsgewinn, der durch den Wechsel der Gewinnermittlungsart von 2005 auf 2006 entstanden war, als relevanten Gewinn ansieht.
23
Im Rahmen seiner Ermittlungen hat der Senat das Finanzamt N-Stadt. schriftlich und telefonisch befragt sowie von dort folgende, den Kläger betreffende Akten beigezogen: Einkommensteuerakten, Gewerbesteuerakten, Betriebsprüfungsakten. Am 23.11.2018 sowie am 17.05.2019 hat er jeweils einen Erörterungs- und Beweisaufnahmetermin durchgeführt. Dabei ist jeweils der Zeuge D. zur Geschäftstätigkeit des Klägers im Jahr 2005/2006 sowie zu konkreten Aspekten der Bilanzierung befragt worden.
24
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsakten der Beklagten, aber auch auf die genannten Akten des Finanzamts verwiesen. Alle Akten haben vorgelegen, sind als Streitstoff in das Verfahren eingeführt worden und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

Entscheidungsgründe

25
Die Berufung des Klägers ist erfolgreich. Sie ist zulässig und in vollem Umfang begründet.
26
Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Aufhebungsbescheid vom 08.06.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.04.2012 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in dessen Rechten.
27
Streitgegenstand der reinen Anfechtungsklage ist der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 08.06.2011. Damit hob die Beklagte ab 01.01.2006 die Bewilligung von ALG auf und ordnete zudem die Erstattung sowohl des bis einschließlich 30.09.2006 geleisteten ALG wie auch der erbrachten Beiträge zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung des Klägers an. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Aufhebung der ursprünglichen Leistungsbewilligung ab 01.01.2006 liegen nicht vor, weswegen auch die korrespondierende Anordnung der Erstattung von Leistungen und Versicherungsbeiträgen nicht rechtens ist.
28
Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Dauerverwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei dessen Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine rückwirkende Aufhebung lässt § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht zu. Diesbezüglich liefert § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X eine Rechtsgrundlage. Danach soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit
1.
die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt,
2.
der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist,
3.
nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsakts Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder
4.
der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.
29
Die Prüfung der Rechtsgrundlage für die Aufhebung eines Dauerverwaltungsakts für die Vergangenheit erfordert demnach ein zweistufiges Vorgehen. Erstens verlangt § 48 Abs. 1 SGB X sowohl für eine Aufhebung für die Zukunft wie auch für die Vergangenheit eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Verwaltungsakts mit Dauerwirkung vorgelegen haben. Zweitens muss geprüft werden, ob deswegen die Aufhebung möglich ist. Insbesondere stellt sich im Rahmen dessen die Frage, ob bei einer rückwirkenden Aufhebung einer der besonderen Tatbestände des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X erfüllt ist.
30
Im vorliegenden Fall scheitert die Aufhebung schon daran, dass es nicht zu einer nachträglichen Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Verwaltungsakts mit Dauerwirkung vorgelegen haben, gekommen ist. Weder ist die Arbeitslosigkeit des Klägers zeitlich nach der unter dem Datum 24.11.2005 ausgesprochenen Leistungsbewilligung, aber vor dem 01.10.2006 entfallen (dazu unten a) noch hat dieser für den Zeitraum Januar bis September 2006 auf das ALG anzurechnendes Erwerbseinkommen erzielt (dazu unten b).
31
a) Während des streitgegenständlichen Zeitraums 01.01. bis 30.09.2006 hat durchgängig Arbeitslosigkeit vorgelegen. Anders als die Beklagte meint, ist die Beschäftigungslosigkeit nicht durch eine Verletzung der 15-Stunden-Grenze des § 119 Abs. 3 Satz 1 SGB III aF entfallen. Rechtsgrundlage ist § 119 SGB III in der Fassung vom 23.12.2003 (aF). Die Vorschrift lautet, soweit hier von Bedeutung:
32
(1) Arbeitslos ist ein Arbeitnehmer, der
1.
nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht (Beschäftigungslosigkeit),
2.
sich bemüht, seine Beschäftigungslosigkeit zu beenden (Eigenbemühungen) und
3.
den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht (Verfügbarkeit).
(2) …
33
(3) 1Die Ausübung einer Beschäftigung, selbständigen Tätigkeit oder Tätigkeit als mithelfender Familienangehöriger (Erwerbstätigkeit) schließt die Beschäftigungslosigkeit nicht aus, wenn die Arbeits- oder Tätigkeitszeit (Arbeitszeit) weniger als 15 Stunden wöchentlich umfasst; gelegentliche Abweichungen von geringer Dauer bleiben unberücksichtigt. … Der Senat ist davon überzeugt, dass die Beschäftigungslosigkeit als Tatbestandsvoraussetzung der Arbeitslosigkeit im Zeitraum 01.01. bis 30.09.2006 nicht aufgehoben war. Er nimmt insoweit wohlgemerkt kein Non liquet an, weswegen er nicht aufgrund der objektiven Beweislast entscheidet. Der Kläger hat sich innerhalb der von § 119 Abs. 3 Satz 1 SGB III aF gezogenen Grenzen bewegt. Zwar hat er eine selbständige Tätigkeit ausgeübt, jedoch nur im Umfang von unter 15 Stunden wöchentlich. Allenfalls kam es zu unschädlichen Abweichungen von geringer Dauer.
34
Der Senat bedient sich diesbezüglich in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) einer prognostischen Betrachtungsweise (vgl. BSG, Urteil vom 29.10.2008 - B 11 AL 52/07 R). Insoweit macht es keinen Unterschied, ob es sich bei der Nebentätigkeit um eine abhängige Beschäftigung oder um eine selbständige Tätigkeit handelt. Im ALG-Antrag hatte der Kläger angegeben, er würde der selbständigen Tätigkeit als Baubetreuer im Umfang von unter 15 Stunden wöchentlich nachgehen. Das begründete zunächst die Prognose, der Kläger werde diese Grenze auch einhalten. Weiterer Anhaltspunkte für ein Einhalten bedurfte es damals nicht. So werden allgemein auch die Verfügbarkeit oder die hinreichenden Eigenbemühungen zunächst allein anhand der Ankreuzungen und Angaben im Antrag prospektiv beurteilt.
35
Im weiteren Verlauf traten bis 30.09.2006 keine Ereignisse hinzu, welche die anfängliche Prognose hinfällig machten. Für das Jahr 2005 sah die Beklagte selbst keine Anhaltspunkte, die Berechtigung der ALG-Gewährung in Frage zu stellen. Solche fehlen auch für das Jahr 2006 bis einschließlich Ende September.
36
Der Kläger selbst hat von Anfang an beteuert, er habe die 15-Stunden-Grenze nicht erreicht. Zudem hat der Zeuge D., der über die Geschäftstätigkeit des Klägers hervorragend Bescheid weiß, mehrfach versichert, der Kläger habe in den ersten acht beziehungsweise neun Monaten des Jahres 2006 seine selbständige Tätigkeit - gerade wegen des ALG-Bezugs - sehr zurückgefahren. Zwar hat der Zeuge D. im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren seinerseits den Eindruck hinterlassen, nicht wirklich mit der AA kooperieren zu wollen. Das war jedoch im Berufungsverfahren anders. Seine Angaben bei den Beweisaufnahmeterminen haben in hohem Maß glaubhaft gewirkt und nicht ansatzweise den Verdacht begründet, ihm gehe es primär darum, der Kläger möge „unversehrt davonkommen“. Gerade bei seinen Aussagen im Beweisaufnahmetermin vom 17.05.2019 hat der Zeuge D. einen sehr gewissenhaften, eher sogar „übervorsichtigen“ Eindruck hinterlassen. Er ist offenkundig bemüht gewesen, ihm mögen nicht vorschnell unpräzise Aussagen zugunsten des Klägers in den Mund gelegt werden. Dass die vom Zeugen D. erstellte Steuererklärung 2006 einen höheren Gewinn ausgewiesen hatte, als die Außenprüfung bestätigen konnte, zeigt, dass der Zeuge D. schon 2009 nicht eifernd auf Bevorzugung des Klägers aus war. Daran hat sich zur Überzeugung des Senats nichts geändert.
37
Der Jahresabschluss, den der Zeuge D. für den Kläger zum Stichtag 30.09.2006 erstellt hatte und der erstmals mit dem Widerspruch vorgelegt worden war, bestätigt in Zusammenschau mit der Eröffnungsbilanz zum 01.01.2006 diese Einschätzung. In der Eröffnungsbilanz zum 01.01.2006 waren halbfertige Produkte in Höhe von über 320.000 EUR aktiviert worden. Dieser Bestand wurde bis zum 30.09.2006 nahezu vollständig abgebaut. Die vom 01.01. bis 30.09.2006 erzielten Umsätze des Klägers waren nur um etwa 70.000 EUR höher als das Volumen des während dieser Zeit abgebauten Bestands an halbfertigen Produkten. Das indiziert, dass nur etwas mehr als 70.000 EUR Umsatz auf solche Baufortschritte gefallen sind, die tatsächlich in 2006 stattgefunden hatten. In der Branche, in der der Kläger tätig war und ist, ist es sicherlich leicht möglich, innerhalb von neun Monaten Umsätze von circa 70.000 EUR mit einer Arbeitsleistung von unter 15 Stunden wöchentlich zu generieren. Denn das Gewerbe zeichnet sich durch sehr hohe Aufwendungen für Fremdleistungen aus, aber auch durch hohe Umsätze. Die Bilanzierung lässt die Behauptung des Klägers, er habe die 15-Stunden-Grenze nicht erreicht, plausibel und schlüssig erscheinen; es passt sozusagen alles zusammen.
38
Selbiges gilt für die Beschreibungen der einzelnen Bauprojekte, die der Kläger mit Schriftsatz vom 13.05.2019 eingereicht hat. Daraus ergibt sich glaubhaft und eindeutig, dass die meisten der Bauprojekte, die der Senat aus dem zum 30.09.2006 erstellten Jahresabschluss identifiziert und „herausgezogen“ hat, entweder 2005 schon nahezu beendet oder erst im letzten Quartal 2006 wesentlich initiiert worden waren. Damit lässt sich eine Arbeitszeit von weniger als 15 Stunden wöchentlich ohne Widersprüche und Verwerfungen vereinbaren.
39
Die Beklagte hat bezüglich der Einhaltung der 15-Stunden-Grenze immer nur Spekulationen zu Ungunsten des Klägers geäußert. Interessanter Weise hatte sie sich während des jahrelangen Verwaltungs- und Widerspruchsverfahrens in keiner Weise um das Arbeitsquantum im fraglichen Zeitraum gekümmert. Die Einhaltung der 15-Stunden-Grenze wurde überhaupt nicht als Problem wahrgenommen. Dementsprechend hat die Beklagte auch keinerlei Mühe aufgewandt, um in diese Richtung zu ermitteln. Soweit ersichtlich, hat sie erstmals in einem Schriftsatz vom 16.09.2014 im erstinstanzlichen Verfahren - also nicht weniger als acht Jahre nach Ablauf des ALG-Bezugs - das Thema überhaupt angesprochen, dann aber - ein bemerkenswerter Kontrast - derart nachdrücklich, dass sie dem Sozialgericht „Arbeitsaufträge“ erteilt hat (Einholung eines Sachverständigengutachtens!). Es wäre besser gewesen, die Beklagte wäre zeitgerecht ihrer eigenen Amtsermittlungspflicht nachgekommen, statt sehr viel später die Gerichte über deren Amtsermittlungspflicht zu belehren.
40
Gerade im letzten Schriftsatz der Beklagten vom 24.05.2019 ist mit deutlich spürbarem Eifer gegen die Einhaltung der 15-Stunden-Grenze argumentiert worden. Wenn die Beklagte in diesem Zusammenhang vorträgt, sie sei „überzeugt“, dass der Kläger länger als kurzzeitig tätig gewesen sei, dann kann sie damit nicht diejenige Überzeugung meinen, die für den Senat Maßstab für die Entscheidung sein muss. Vielmehr verwechselt die Beklagte ihr „Bauchgefühl“ mit Überzeugung im rechtlichen Sinn. Geradezu provozierend mutet an, wenn sie mit der Formulierung „bestenfalls unvollständig“ insinuiert, der Kläger könnte seine Stellungnahme vom 13.05.2019 „frisiert“ oder sogar erlogen haben. Denn nichts anderes als das Versagen der AA, die erst 2009 Anlass sah, sich um das Nebeneinkommen 2006 zu kümmern, hat dazu geführt, dass die Beklagte jetzt ein Defizit an Fakten beklagt. Das Vorbringen der Beklagten, Vor- und Nacharbeiten müssten eingerechnet werden, ist ins Blaue hinein erfolgt. Denn die Beklagte hat sich bis heute nicht dafür interessiert und kundig gemacht, wie die Tätigkeit des Klägers konkret ausgesehen hat. So weiß sie nicht - sondern spekuliert nur -, ob und welche „Vor- und Nacharbeiten“ es überhaupt gab. Sie ist auch nicht orientiert, welcher Zeitaufwand in Zusammenhang mit der Tätigkeit des Klägers generell „üblich“ ist. Offenbar wünscht sie sich einen pauschalen Zeitzuschlag für Vor- und Nacharbeiten, welche auch immer das sein mögen. Der Beklagten ist hoffentlich selbst klar, dass dies illusorisch ist. Und nochmals: Wie sollte man von einzelnen generell anfallenden Verrichtungen auf einen konkreten Zeitaufwand des Klägers in einer konkreten Woche schließen? Das ist schlechterdings unmöglich.
41
Das gilt im Besonderen für ein weiteres Scheinargument der Beklagten, mit dem sie den Boden der Logik vollends verlässt: Wegen eines größeren Projekts hat der Zeuge D. im Beweisaufnahmetermin am 17.05.2019 letzte Bedenken der Beklagten ausgeräumt - was deren Sitzungsvertreterin auch offen zugegeben hat. Gleichwohl hat sich die Beklagte darauf versteift, der Kläger habe die 15-Stunden-Grenze verletzt. In dem besagten Schriftsatz vom 24.05.2019 weist sie in diesem Kontext darauf hin, bei dem genannten größeren Projekt sei für den Kläger vor dem 30.09.2009 ein Aufwand von 3.000 EUR (!) entstanden. Wie die Beklagte aus diesem banalen Umstand auf eine Verletzung der 15-Stunden-Grenze schließen möchte, bleibt ihr Geheimnis. Wie soll man daraus Folgerungen auf einen bestimmten Zeitaufwand in einer bestimmten Woche ziehen? Falls die Beklagte mit ihrem neuen Vortrag beabsichtigen sollte, den Kläger als generell unehrlichen Menschen zu entlarven, so wäre dies misslungen und als diffamierend scharf zurückzuweisen. Mit ihrem Vorbringen lässt die Beklagte Sachlichkeit und Objektivität, die eine Behörde stets und nicht weniger als ein Gericht an den Tag zu legen hat, vermissen. Blinder Eifer und bloßes „Gewinnenwollen“ seitens einer Behörde haben im sozialgerichtlichen Verfahren nichts zu suchen.
42
Auf die Rolle des Klägers im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren, die dieser - wenigstens insoweit hat die Beklagte Recht - mehr als unglücklich gestaltet hat, kommt es nicht an. Denn die Frage einer Umkehr der Beweislast zu Lasten des Klägers stellt sich nicht. Die objektive Beweislast wird nur bei einem Non liquet relevant. Bereits oben hat der Senat aber unterstrichen, dass er von der Einhaltung der 15-Stunden-Grenze überzeugt ist.
43
Auch wenn es rechtlich also nicht mehr darauf ankommt, soll nicht verschwiegen werden, dass der Vortrag der Beklagten, den Kläger einseitig als Faktor endloser Verzögerungen zu charakterisieren, allzu selbstgefällig ist und die Wahrheit verzerrt. Dem objektiven Beobachter bietet sich vielmehr ein Bild erheblicher behördlicher Insuffizienz; insoweit muss auch dem Sozialgericht widersprochen werden. Allerdings haben beide Seiten gehörig das ihre dazu beigetragen, dass sich das Verfahren zu einer Groteske entwickelt hat. Die Darstellung der Chronologie im Tatbestand spricht für sich. Den Kardinalfehler im ganzen Verfahren überhaupt hat jedoch die Beklagte dadurch begangen, dass sie sich erst 2009 darum zu kümmern begann, wie hoch das Nebeneinkommen 2006 war. Wäre sie dagegen zeitnah vorgegangen, wäre es mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit von vornherein nicht zu Differenzen gekommen. Den Kläger rehabilitiert in gewisser Weise, dass er und der Zeuge D. - und das zu Recht - nicht verstanden hatten, was die AA denn überhaupt mit einer Darstellung der Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben sowie dem Einkommensteuerbescheid 2006 anfangen wollte. Die Verweigerungshaltung ist daher zu einem guten Anteil dem Umstand geschuldet, dass die AA schlicht eine falsche Herangehensweise propagierte. Nach alldem kann es nur Unverständnis und Verwunderung hervorrufen, dass die Beklagte im Berufungsverfahren das Verhalten der AA als bürgerfreundlich und in Ordnung hat darstellen wollen.
44
Ein weiterer Gesichtspunkt soll lediglich der Vollständigkeit halber angesprochen werden: Selbst wenn es gelänge, dem Kläger eine Verletzung der 15-Stunden-Grenze nachzuweisen, käme eine Aufhebung der Leistungsbewilligung wegen Wegfalls der Arbeitslosigkeit nicht in Betracht. Denn es würde insoweit an einem Tatbestand des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X fehlen. Das für die damalige Zeit einschlägige Merkblatt 1 der Beklagten lässt nämlich in keiner Weise erahnen, dass es hinsichtlich der 15-Stunden-Grenze nicht auf eine durchschnittliche, regelmäßige Arbeitszeit ankommt, sondern dass grundsätzlich schon einzelne „Ausreißer“ schädlich sein können. Der Kläger hätte somit schlicht nicht wissen können, dass ein Erreichen der 15-Stunden-Grenze beispielsweise in lediglich zwei Wochen geeignet gewesen wäre, den ALG-Anspruch zu beseitigen.
45
b) Die mit Bescheid vom 24.11.2005 ausgesprochene Bewilligung ist auch nicht dadurch nachträglich „rechtswidrig geworden“, dass sich der gesetzlich zustehende Leistungsbetrag aufgrund des Nebeneinkommens des Klägers gemindert hat oder gar ganz weggefallen ist. Denn der Kläger hat in Bezug auf die Phase 01.01. bis 30.09.2006 gerade kein anzurechnendes Einkommen erzielt.
46
Ob und inwieweit Nebeneinkommen auf das ALG anzurechnen ist, regelte seinerzeit § 141 SGB III in der Fassung vom 23.12.2003 (aF). Diese Vorschrift lautet:
47
(1) 1Übt der Arbeitslose während einer Zeit, für die ihm Arbeitslosengeld zusteht, eine weniger als 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung aus, ist das Arbeitsentgelt aus der Beschäftigung nach Abzug der Steuern, der Sozialversicherungsbeiträge und der Werbungskosten sowie eines Freibetrages in Höhe von 165 Euro auf das Arbeitslosengeld für den Kalendermonat, in dem die Beschäftigung ausgeübt wird, anzurechnen. 2Satz 1 gilt für selbständige Tätigkeiten und Tätigkeiten als mithelfender Familienangehöriger entsprechend mit der Maßgabe, dass pauschal 30 Prozent der Betriebseinnahmen als Betriebsausgaben angesetzt werden, es sei denn, der Arbeitslose weist höhere Betriebsausgaben nach.
48
(2) Hat der Arbeitslose in den letzten 18 Monaten vor der Entstehung des Anspruches neben einem Versicherungspflichtverhältnis eine geringfügige Beschäftigung mindestens zwölf Monate lang ausgeübt, so bleibt das Arbeitsentgelt bis zu dem Betrag anrechnungsfrei, der in den letzten zwölf Monaten vor der Entstehung des Anspruches aus einer geringfügigen Beschäftigung durchschnittlich auf den Monat entfällt, mindestens jedoch ein Betrag in Höhe des Freibetrages, der sich nach Absatz 1 ergeben würde.
49
(3) Hat der Arbeitslose in den letzten 18 Monaten vor der Entstehung des Anspruches neben einem Versicherungspflichtverhältnis eine selbständige Tätigkeit oder Tätigkeit als mithelfender Familienangehöriger von weniger als 15 Stunden wöchentlich mindestens zwölf Monate lang ausgeübt, so bleibt das Arbeitseinkommen bis zu dem Betrag anrechnungsfrei, der in den letzten zwölf Monaten vor der Entstehung des Anspruches durchschnittlich auf den Monat entfällt, mindestens jedoch ein Betrag in Höhe des Freibetrages, der sich nach Absatz 1 ergeben würde.
50
(4) Leistungen, die ein Bezieher von Arbeitslosengeld bei beruflicher Weiterbildung
1. von seinem Arbeitgeber oder dem Träger der Weiterbildung wegen der Teilnahme oder
2. auf Grund eines früheren oder bestehenden Arbeitsverhältnisses ohne Ausübung einer Beschäftigung für die Zeit der Teilnahme erhält, werden nach Abzug der Steuern, des auf den Arbeitnehmer entfallenden Anteils der Sozialversicherungsbeiträge und eines Freibetrages von 400 Euro monatlich auf das Arbeitslosengeld angerechnet.
51
Beklagte und Sozialgericht haben eine falsche Berechnung durchgeführt. Beide haben den Fehler gemacht, den im Einkommensteuerbescheid 2006 ausgewiesenen Jahresgewinn durch zwölf zu teilen - damit einen „durchschnittlichen Monatsbetrag“ zu erhalten - und dann diesen Durchschnitt mit neun zu multiplizieren. Das mag zwar einfach und verlockend erscheinen, den Vorgaben des Gesetzes wird diese Methode aber nicht gerecht. Aus § 141 Abs. 1 SGB III aF ergibt sich eindeutig, dass eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nur insoweit relevant ist, als sie mit dem ALG-Bezug zusammentrifft. Was der Kläger im vierten Quartal 2006 erwirtschaftet hat, muss daher gänzlich außenvorbleiben. Das harmoniert mit der Formulierung des BSG, Einkünfte aus einer Nebenbeschäftigung und auch aus einer selbständigen Nebentätigkeit müssten während des ALG-Bezugszeitraums erarbeitet worden sein (BSG, Urteil vom 14.06.1983 - 7 RAr 10/82 - nichtselbständige Tätigkeit; Urteil vom 05.09.2006 - B 7a AL 38/05 R - selbständige Tätigkeit; vgl. zu den Besonderheiten bei selbständig Erwerbstätigen LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 21.02.2014 - L 3 AL 29/12). Der Senat hält dieses Erfordernis der Periodenüberstimmung - das BSG spricht von „zeitlicher Kongruenz“ - für eine rechtliche Selbstverständlichkeit (vgl. auch LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 21.02.2014 - L 3 AL 29/12).
52
Dem Erfordernis der Periodenübereinstimmung wird aber durch die Berechnungsweise der Beklagten und des Sozialgerichts nicht genügt. Auch wenn die Beklagte es nicht wahrhaben will, so hat der Kläger seine Aktivitäten als selbständiger Bauplaner geschickt, exakt und völlig legal mit den rechtlichen Vorgaben für den ALG-Bezug kompatibel gestaltet. Er hat sich nämlich in den Monaten Januar bis September beruflich sehr zurückgenommen, während er im letzten Quartal 2006 zahlreiche neue Projekte in Angriff genommen hat. In diesem letzten Quartal musste er selbst - ohne Flankierung durch eine Sozialleistung - den Lebensunterhalt für sich und seine Familie sicherstellen und wäre selbstredend berechtigt gewesen, dabei auch ausgesprochen gut zu verdienen. All dies darf das in einer anderen Periode ausgezahlte ALG nicht berühren. Genau dieses Tabu wird aber verletzt, wenn man den hohen Gewinn im letzten Quartal mit einbezieht, um für das erste bis dritte Quartal einen durchschnittlichen Gewinn zu berechnen. Nach der Vorgehensweise des Beklagten und des Sozialgerichts wird der Kläger dafür bestraft, dass er in Zeiten außerhalb des ALG-Bezugs effizient seiner Erwerbstätigkeit nachgegangen ist. Auf diese Weise gestaltet man wider dem Gesetz periodenfremde Einkünfte ALGschädlich um.
53
Der richtige Weg kann nur darin liegen, in die Ermittlung des Einkommens nur diejenigen Monate des Jahres 2006 einzubeziehen, in denen auch tatsächlich ALG bezogen wurde (vgl. zu einem vergleichbaren Problem im Elterngeldrecht BSG, Urteil vom 13.12.2018 - B 10 EG 5/17 R). Klar ist, dass nicht Monat für Monat die konkreten Verrichtungen des Klägers rekonstruiert und diese irgendwie monetär bewertet werden müssen, sondern lediglich eine annähernd authentische Gewinnermittlung vonnöten ist. Genau das hat der Kläger schlussendlich ermöglicht, indem sein Steuerberater, der Zeuge D., eine Bilanz zum Stichtag 30.09.2006 erstellt hat (eingereicht mit dem Widerspruch). In Zusammenschau mit der zum 01.01.2006 erstellten Eröffnungsbilanz lässt sich auf diese Weise ablesen, welcher Gewinn exakt im fraglichen Zeitraum 01.01. bis 30.09.2006 erzielt worden war. Dieser periodengerecht ermittelte Gewinn darf und muss dann in gleichen Anteilen auf die neun Monate des ALG-Bezugs 2006 aufgeteilt und auf das jeweilige monatliche ALG angerechnet werden.
54
Die Art und Weise der Gewinnermittlung durch die Beklagte lässt ein durchdachtes Konzept vermissen. Diesen Vorwurf muss sich die Beklagte insoweit gefallen lassen, als sie „aus dem Bauch heraus“ argumentiert (zum Beispiel im Widerspruchsbescheid), von dem im Einkommensteuerbescheid festgestellten Gewinn könne man ja sogar noch im Sinn von § 141 Abs. 1 Satz 2 SGB III aF pauschal 30% als Betriebsausgaben absetzen, dann verbleibe immer noch ein Restgewinn, der jeglicher Zahlung von ALG für die ersten drei Quartale 2006 entgegenstehe. Diese Herangehensweise verkennt die verschiedenen Wege, wie der Gewinn ermittelt werden kann. Ein entsprechendes Negativzeugnis muss aber auch dem Gesetzgeber ausgestellt werden, wenn der in § 141 Abs. 1 Satz 2 SGB III aF generell angeordnet hat, es müssten grundsätzlich 30% pauschal als Betriebsausgaben angesetzt werden.
55
Bei alldem wird nicht beachtet, dass nach ganz herrschender Meinung im Rahmen von § 141 Abs. 1 SGB III aF das Arbeitseinkommen unter Heranziehung von § 15 SGB IV zu ermitteln ist (vgl. BSG, Urteil vom 05.09.2006 - B 7a AL 38/05 R; LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 21.02.2014 - L 3 AL 29/12). Es kann nicht genug betont werden, dass § 141 SGB III aF, genauso wie der aktuelle § 155 SGB III, kein eigenständiges Reglement zur Ermittlung des Arbeitseinkommens Selbständiger installiert hat. Der Rückgriff auf § 15 SGB IV ist alternativlos. Die Norm lautete seinerzeit (aF):
56
Arbeitseinkommen ist der nach den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommensteuerrechts ermittelte Gewinn aus einer selbständigen Tätigkeit. 2Bei der Ermittlung des Gewinns sind steuerliche Vergünstigungen unberücksichtigt zu lassen und Veräußerungsgewinne abzuziehen.
57
Verfehlt wäre zu argumentieren, § 141 Abs. 1 SGB III aF nehme nicht auf das Arbeitseinkommen Bezug, weswegen § 15 SGB IV aF nicht anwendbar sei. Daran wäre allein richtig, dass der Begriff „Arbeitseinkommen“ in § 141 Abs. 1 SGB III aF nicht explizit erscheint. Allerdings erwähnt Satz 1 den Begriff „Arbeitsentgelt“ (vgl. § 14 SGB IV). Und wenn Satz 2 Satz 1 für entsprechend anwendbar erklärt, versteht es sich von selbst, dass im Rahmen der analogen Anwendung der auf Beschäftigungen gemünzte Begriff „Arbeitsentgelt“ durch „Arbeitseinkommen“ ersetzt werden muss. Im Übrigen erwähnt zumindest § 141 Abs. 3 SGB III aF den Begriff „Arbeitseinkommen“ ausdrücklich.
58
Gilt also für die Ermittlung des Arbeitseinkommens § 15 SGB IV aF, sieht man sich damit konfrontiert, dass die Gewinnermittlung nahezu eins zu eins nach den Vorgaben des Einkommensteuerrechts zu erfolgen hat. Angesichts der immensen Aussagekraft der einkommensteuerrechtlichen Verhältnisse auch für die Ermittlung des Arbeitseinkommens nach dem Sozialrecht wäre es schlicht auch nicht darstellbar, auf der Ebene des Sozialrechts ein eigenständiges Berechnungsregime vorzusehen.
59
Im Einkommensteuerrecht gibt es indes zwei Methoden, den Gewinn zu ermitteln, zum einen die Einnahmenüberschuss-Rechnung nach § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG), zum andern den Betriebsvermögensvergleich durch Bilanzierung (§ 4 Abs. 1, § 5 Abs. 1 EStG). § 15 Satz 1 SGB IV aF impliziert, dass auch die vom Betroffenen gewählte Methode der einkommensteuerrechtlichen Gewinnermittlung für das Sozialrecht maßgebend sein muss. Einkommensteuerrechtlich wurde der Gewinn des Klägers im Jahr 2006 nach dem Betriebsvermögensvergleich gemäß § 4 Abs. 1 EStG ermittelt. Der Kläger hatte sich diese Methode übrigens nicht ausgesucht, sondern war aufgrund der Vorschriften der Abgabenordnung dazu gezwungen. § 15 Satz 1 SGB IV aF bewirkt, dass auch das Arbeitseinkommen im Sinn des Sozialrechts just auf diesem Weg zu ermitteln ist. Derjenige, der einkommensteuerrechtlich gezwungen oder erlaubt seinen Gewinn durch Betriebsvermögensvergleich ermittelt, kann sozialrechtlich nicht in die Einnahmenüberschuss-Rechnung gedrängt werden; das sieht inzwischen auch die Beklagte ein. Jegliches Ansinnen der Behörde, den Kläger zur Offenbarung seiner Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben zu veranlassen, war angesichts dessen verfehlt. Des Weiteren geht die Regelung im Gesetz, es seien pauschal 30% der Betriebseinnahmen als Betriebsausgaben abzusetzen, für Fälle des Betriebsvermögensvergleichs komplett ins Leere. Denn beim Betriebsvermögensvergleich gibt es schlechterdings keine Betriebsausgaben. Leider hat der Gesetzgeber dieses Defizit auch in der aktuellen Fassung der Vorschrift, § 155 SGB III, nicht korrigiert.
60
Zusammenfassend hat der Kläger mit der Vorlage einer Bilanz zum Stichtag 30.09.2006 genau das Richtige veranlasst, um den maßgebenden Gewinn zu ermitteln. Er hat nämlich einerseits den passenden Referenzzeitraum herangezogen, und zwar den 01.01. bis 30.09.2006. Und er hat andererseits den korrekten Modus gewählt, indem er einen Betriebsvermögensvergleich (zwischen Eröffnungsbilanz und der Bilanz zum Stichtag 30.09.2006) vorgenommen hat.
61
Die zum Stichtag 30.09.2006 erstellte Bilanz, der von daher höchste Relevanz zukommt, überzeugt den Senat voll und ganz. Auch die Beklagte hat es zu keiner Zeit unternommen, deren Richtigkeit anzuzweifeln. Der Senat lässt dahinstehen, ob bereits die handelsrechtlich begründete Vermutung der Richtigkeit der Bilanz hier eine eingehende Überprüfung durch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit erübrigt. Der Senat hat jedenfalls diese eingehende Prüfung vorgenommen und kommt zum Ergebnis, dass die Bilanzierung zum Stichtag 30.09.2006 für die Beurteilung der sozialrechtlichen Verhältnisse übernommen werden muss.
62
Den sich daraus für den Zeitraum Januar bis September 2006 ergebenden Fehlbetrag von 78.654,52 EUR will die Beklagte gleichwohl nicht akzeptieren. Der Senat gibt ihr nur insoweit Recht, als der in der Bilanz ausgewiesene „Sonderposten mit Rücklageanteil“ in Höhe von 30.000 EUR möglicherweise im Rahmen von § 141 SGB III aF nicht gewinnmindernd wirken darf. Da es aber letztlich nicht darauf ankommt - es bliebe dann immer noch ein Fehlbetrag von 48.654,52 EUR -, lässt er dieses Problem offen.
63
Entscheidend ist, dass der Jahresabschluss zum 30.09.2006 richtiger Weise eine „Verminderung des Bestands in Ausführung befindlicher Bauaufträge“ in Höhe von 322.000 EUR ausweist (vgl. § 275 Abs. 2 Nr. 2, § 277 Abs. 2 des Handelsgesetzbuchs). Dabei handelt es sich im Rahmen der GuV um einen Aufwand, bilanziell letztlich um eine Verminderung des Eigenkapitals und damit des steuerrechtlich relevanten Gewinns. Zum 31.12.2005 hatte der Kläger in hohem Maß halbfertige Produkte erstellt, die aber sein „Lager“ noch nicht verlassen hatten und für die er noch nicht entsprechend dem Grad der Fertigstellung Umsätze hatte erzielen können (das geschah erst 2006). Es handelte sich um eine „Produktion auf Halde“. Der Kläger hat diese unfertigen Erzeugnisse gemäß den handelsrechtlichen Vorgaben in der Eröffnungsbilanz 2006 aktiviert (unter dem Stichwort „in Ausführung befindliche Bauaufträge“ - Konto 7090). Zugleich wurde auf einem Ertragskonto die Gegenbuchung durchgeführt, was letztlich das Eigenkapital und damit auch den Gewinn bis zum Zeitpunkt 31.12.2005, 24.00 Uhr, erhöht hat. Dieser Aktivbestand wurde bis Ende September 2006 fast komplett wieder abgebaut und aufgelöst (die Bilanz zum 30.09.2006 weist nur noch 3.000 EUR aus). Die Auflösung ist deswegen notwendig geworden, weil die zunächst in Ausführung befindlichen Bauaufträge abgeschlossen wurden und so „aus dem Lager“ verschwanden. Das wiederum hat maßgeblich zu den hohen Umsatzerlösen (394.353,41 EUR) beigetragen. Damit die 322.000 EUR aber nicht doppelt bilanziell als Gewinn berücksichtigt wurden (das war ja schon 2005 geschehen), musste die Auflösung des „Lagers“ mit der Buchung als Aufwand in dem Erfolgskonto „Bestandsveränderung Bauaufträge“ einhergehen.
64
Diese Bilanzierung trägt der Vorgabe des BSG, entscheidend sei, wann das Einkommen erarbeitet worden sei, in geradezu idealer Weise Rechnung. Denn erarbeitet wurde das Einkommen zum großen Teil bereits 2005, nämlich zu dem Anteil, wie die halbfertigen Produkte in der Eröffnungsbilanz aktiviert worden waren. Dagegen darf nicht eingewandt werden, die entsprechenden tatsächlichen Umsätze seien erst 2006 erzielt worden. Das würde wiederum die grundlegenden Unterschiede zwischen Einnahmenüberschuss-Rechnung und Betriebsvermögensvergleich verkennen. Ermittelt jemand wie der Kläger seinen Gewinn durch Betriebsvermögensvergleich, darf keinesfalls auf den monetären Zufluss der Umsätze abgestellt werden. Maßgebend ist vielmehr die sich in aktivierbaren Gütern ausdrückende Wertschöpfung; und die erfolgte im Wesentlichen schon 2005.
65
Falsch ist der zuletzt erhobene Einwand der Beklagten, der durch den Übergang von der Einnahmenüberschuss-Rechnung zur Bilanzierung entstandene Übergangsgewinn müsse vollständig oder anteilig dem Gewinn zugerechnet werden. Dadurch, so der Beklagte, komme der Kläger letztlich doch in die „Gewinnzone“. Der Kläger hat in der Tat den Gewinn für 2005 noch in Form der Einnahmenüberschuss-Rechnung nach § 4 Abs. 3 EStG ermittelt. Er hat also lediglich die gesamten Betriebsausgaben von den gesamten Betriebseinnahmen abgezogen. Für das Jahr 2006 musste er aber auf den Betriebsvermögensvergleich übergehen. Das hat erfordert, erstens eine Eröffnungsbilanz zum 01.10.2006 zu erstellen und zweitens von Beginn des Jahres 2006 an eine doppelte Buchführung zu unterhalten. Mit dem 01.01.2006, 0.00 Uhr, war die bloße Einnahmen-Ausgaben-Rechnung beendet. Der Übergang von der Einnahmenüberschuss-Rechnung zur Bilanzierung kann mit einem so genannten Übergangsgewinn oder Übergangsverlust verbunden sein. Der Steuerberater hat dafür eine eigene Gewinnermittlung erstellt, die einen Übergangsgewinn von 108.076,64 EUR ausweist. Dieser Übergangsgewinn muss auch versteuert werden. Aus R 4.6 Abs. 1 der Einkommensteuer-Richtlinien geht hervor, dass die Anrechnung als Gewinn und damit die Versteuerung auf drei Jahre aufgeteilt werden kann. So wird die durch die Umstellung entstandene Steuerlast gestreckt. Bilanziell entstanden war der Übergangsgewinn aber bereits am 01.01.2006, 0.00 Uhr. Denn der im Rahmen der Ermittlung des Übergangsgewinns bewertete Bestand war zu diesem Zeitpunkt bereits vorhanden - er war im Jahr 2005 lediglich rechnerisch uninteressant, weil eben eine andere Gewinnermittlungsmethode griff. Rechnerisch relevant wurde er erst mit der Umstellung der Gewinnermittlung. Die Substanz dessen war aber vorher schon da. Von daher vermag der Senat nicht nachzuvollziehen, wie die Beklagte zu dem Schluss kommt, der Übergangsgewinn sei ausgerechnet dem hier streitigen Zeitraum zuzurechnen. Ihre Mutmaßung wird schon dadurch wiederlegt, dass der Übergangsgewinn bereits in die Posten der Eröffnungsbilanz zum 01.01.2006 eingearbeitet war. Schon das allein muss der Beklagten an sich zeigen, dass der Übergangsgewinn nicht dem hier fraglichen Zeitraum zugeordnet werden darf. Dass die Versteuerung des Übergangsgewinns erst später erfolgt, spielt dagegen keine Rolle. Dabei handelt es sich um eine spezifische Handhabung der Versteuerung, nicht aber um einen Aspekt der Ermittlung des Gewinns, auf die § 15 Satz 1 SGB IV aF abstellt.
66
Es mutet kurios an, dass die Beklagte ihre Mutmaßung ausgerechnet „im Lichte des BSG-Urteils vom 05.09.2006 - B 7a AL 38/05 R“ für richtig hält. Das Gegenteil ist der Fall. Die besagte BSG-Rechtsprechung akzentuiert gerade die Erarbeitung des Nebeneinkommens. Niemand wird aber behaupten wollen, der Kläger habe den Übergangsgewinn oder auch nur einen Teil davon zwischen dem 01.01. und 30.09.2006 erarbeitet. Erarbeitet war er vielmehr bereits zum 31.12.2005, 24.00 Uhr - das zeigt die Eröffnungsbilanz.
67
Im Lichte des BSG-Urteils vom 05.09.2006 - B 7a AL 38/05 R erscheint die Haltung der Beklagten also als eher abwegig.
68
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
69
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.