Inhalt

VGH München, Beschluss v. 14.08.2019 – 4 CE 19.1546
Titel:

Örtliche Zuständigkeit für Obdachlosenunterbringung

Normenketten:
LStVG Art. 6
BayVwVfG Art. 1 Abs. 1 S. 1, Art. 3 Abs. 1 Nr. 4
GG Art. 11
BV Art. 109 Abs. 1
Leitsatz:
In Fällen der Obdachlosigkeit bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit der Sicherheitsbehörde gemäß Art. 3 Abs. 1 Nr. 4 BayVwVfG nicht nach dem Ort, an dem der Betroffene erstmals obdachlos geworden ist, sondern nach dem Ort, an dem er sich gerade aufhält und die Zuweisung einer Notunterkunft begehrt. (Rn. 11)
Schlagworte:
Obdachlosenunterbringung, örtliche Zuständigkeit der Sicherheitsbehörde, Unbeachtlichkeit der Zuständigkeit einer außerbayerischen Behörde, Zuständigkeit der Zuzugsgemeinde in Fällen des Ortswechsels, Recht auf freie Wahl des Aufenthaltsorts, Grundrecht auf Freizügigkeit
Vorinstanz:
VG München vom 05.08.2019 – M 22 E 19.3505
Fundstellen:
DÖV 2019, 1016
BayVBl 2020, 197
BeckRS 2019, 19812
LSK 2019, 19812

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragsgegnerin wendet sich gegen eine einstweilige Anordnung des Verwaltungsgerichts, mit der sie verpflichtet wurde, der Antragstellerin eine Obdachlosenunterkunft zur Verfügung zu stellen.
2
Die Antragstellerin war zuletzt von August 2018 bis zu ihrem Umzug nach Düsseldorf im Februar 2019 im Stadtgebiet der Antragsgegnerin gemeldet. Laut ihren Angaben wurde sie in Düsseldorf von ihrem Vermieter im Juni 2019 vor die Tür gesetzt; deshalb sei sie nach München zurückgekehrt, wo ihr Vater und ihre Geschwister lebten. Da niemand sie habe aufnehmen wollen, habe sie seither im Auto ihres Vaters oder im Frauenschutzraum der Frauenobdacheinrichtung KARLA 51 genächtigt.
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Einen von der Antragstellerin bei wiederholten Vorsprachen gestellten Antrag auf Zuweisung einer Notunterkunft lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 17. Juli 2019 ab, da die Obdachlosigkeit in Düsseldorf eingetreten sei und daher von einer Zuständigkeit der dortigen Ordnungsbehörde auszugehen sei.
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Die Antragstellerin wandte sich daraufhin mit einem Eilantrag an das Verwaltungsgericht München. Dieses verpflichtete die Antragsgegnerin mit Beschluss vom 5. August 2019 im Wege einer einstweiligen Anordnung, der Antragstellerin eine Notunterkunft bis zum 5. September 2019 zur Verfügung zu stellen. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin sei diese und nicht die Stadt Düsseldorf für die Obdachlosenunterbringung örtlich zuständig. Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs liege der für die örtliche Zuständigkeit gemäß Art. 3 Abs. 1 Nr. 4 BayVwVfG entscheidende Anlass für die Amtshandlung im Bereich der Gefahrenabwehr dort, wo die zu schützenden Interessen verletzt oder gefährdet seien. Die Gefahr für Leib und Leben im Sinne des Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 LStVG entstehe durch die Obdachlosigkeit, so dass die Zuständigkeit für die Behebung der Gefahr nach der Rechtslage in Bayern regelmäßig dort liege, wo die Gefahr eintrete, also wo der Betroffene obdachlos geworden sei. Die Frage einer vorrangigen Zuständigkeit der Stadt Düsseldorf beurteile sich allerdings nach den dortigen Vorschriften, die in der Rechtsprechung der nordrhein-westfälischen Verwaltungsgerichte einhellig dahingehend interpretiert würden, dass - anders als in Bayern - nicht auf den Ort des Eintritts der unfreiwilligen Obdachlosigkeit abgestellt werde, sondern darauf, wo der Obdachlose sich aktuell aufhalte und wo er die Unterbringung begehre. Hiernach sei eine Zuständigkeit der Stadt Düsseldorf nach dem dort geltenden Recht nicht gegeben, so dass mit der Rückkehr der Antragstellerin ins Stadtgebiet der Antragsgegnerin diese örtlich zuständig geworden sei, weil der Anlass für die Amtshandlung nunmehr in ihrem Bezirk hervortrete. Eine Rückkehr nach Düsseldorf könne der Antragstellerin unter den gegebenen Umständen nicht angesonnen werden; für ein rechtsmissbräuchliches Verhalten sei nichts ersichtlich. Es sei nachvollziehbar, dass sie nach dem Verlust ihrer Wohnung in Düsseldorf beschlossen habe, in ihre Heimatregion zurückzukehren, wo Verwandte und Freunde von ihr wohnten und wo sie bisher ihren Lebensmittelpunkt gehabt habe.
5
Gegen diesen Beschluss wendet sich die Antragsgegnerin mit ihrer Beschwerde.
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Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
II.
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1. Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 5. August 2019, die der Senat anhand der fristgerecht dargelegten Gründe überprüft (§ 146 Abs. 4 Sätze 6 und 1 VwGO), hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Ergebnis zu Recht stattgegeben.
8
a) Die Antragsgegnerin trägt im Wesentlichen vor, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts komme es auf die Frage einer etwaigen vorrangigen Zuständigkeit der Ordnungsbehörde eines anderen Bundeslandes nicht an, da sich der Anspruch auf Obdachlosenunterbringung stets nach dem jeweiligen Landesrecht richte. Es gelte das Gleiche wie bei Antragstellern aus anderen Staaten, bei denen ebenfalls allein die landesrechtlichen Vorschriften maßgebend seien. Die Antragstellerin habe jederzeit die Möglichkeit, in Düsseldorf einen Antrag zu stellen und dort untergebracht zu werden. Nicht nachvollziehbar seien auch die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zum Lebensmittelpunkt der Antragstellerin, da diese vor dem Wegzug nach Düsseldorf nur gut fünf Monate im Gebiet der Antragsgegnerin gewohnt habe.
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b) Diese Einwände sind nicht geeignet, den auf vorläufige obdachlosenrechtliche Unterbringung gerichteten Anordnungsanspruch der Antragstellerin gegenüber der Antragsgegnerin in Frage zu stellen.
10
Im Ansatzpunkt zutreffend weist allerdings die Antragsgegnerin in ihrer Beschwerdebegründung darauf hin, dass die örtliche Zuständigkeit der bayerischen Städte und Gemeinden als untere Sicherheitsbehörden (Art. 6 LStVG) nach der im Obdachlosenrecht regelmäßig anwendbaren Vorschrift des Art. 3 Abs. 1 Nr. 4 BayVwVfG (vgl. BayVGH vom 4.4.2017 - 4 CE 17.615 - NVwZ-RR 2017, 575 Rn. 5 m.w.N.) nicht davon abhängen kann, ob in derselben Angelegenheit vorrangig bzw. zusätzlich die Sicherheitsbehörde eines anderen Bundeslandes nach dem dort geltenden Recht zuständig ist. Die Auffangnorm des Art. 3 Abs. 1 Nr. 4 BayVwVfG gilt zwar, wie sich aus dem Wortlaut ergibt, nur subsidiär gegenüber einer sich aus den vorangehenden Nummern 1 bis 3 ergebenden Zuständigkeit. Diese kann aber wiederum nur für Behörden und Verwaltungsträger des Freistaates Bayern gelten (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG), so dass bei der Unterbringung von Obdachlosen die Verweisung auf die Zuständigkeit einer außerbayerischen Sicherheitsbehörde ebenso wenig in Betracht kommt wie der Verweis auf eine mögliche Aufnahme- und Unterbringungsverpflichtung des Herkunftslands eines hilfesuchenden Ausländers.
11
Entgegen der Annahme der Antragsgegnerin, die ansatzweise auch dem angegriffenen Beschluss des Verwaltungsgerichts zugrunde liegt, bestimmt sich jedoch die örtliche Zuständigkeit der Sicherheitsbehörde gemäß Art. 3 Abs. 1 Nr. 4 BayVwVfG nicht nach dem Ort, an dem der Betroffene - zu einem zurückliegenden Zeitpunkt - erstmals obdachlos geworden ist, sondern nach dem Ort, an dem er sich gerade aufhält und an dem die mit der Obdachlosigkeit verbundene Gefahr für Leben und Gesundheit daher aktuell auftritt (vgl. Ehmann, Obdachlosigkeit, 2. Aufl. 2006, S. 32; Schenk in Bengl/Berner/Emmerig, LStVG, Stand Mai 2018, Art. 7 Rn. 179). Da die den „Anlass für die Amtshandlung“ im Sinne des Art. 3 Abs. 1 Nr. 4 BayVwVfG bildende Gefahr sich stets auf einen (mit hinreichender Wahrscheinlichkeit drohenden) künftigen Schaden bezieht, kann es im Rahmen dieser Zuständigkeitsvorschrift nicht darauf ankommen, ob auch früher schon eine andere Sicherheitsbehörde aus dem gleichen Anlass hätte tätig werden können oder müssen. Verlegt eine Person, die durch den Verlust ihrer Unterkunft obdachlos geworden ist, in Ausübung ihres Grundrechts auf Freizügigkeit (Art. 11 GG, Art. 109 Abs. 1 BV) ihren Aufenthaltsort in eine andere Gemeinde, so ist daher allein diese Zuzugsgemeinde und nicht mehr die Gemeinde, in welcher die Obdachlosigkeit ursprünglich entstanden ist, für die Gefahrenabwehr sachlich und örtlich zuständig; eine Verweisung an die Behörde des früheren regulären Wohnorts scheidet aus (Huttner, Die Unterbringung Obdachloser durch die Polizei- und Sicherheitsbehörden, 2014, S. 23).
12
Diese Grundsätze liegen entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts nicht nur der von ihm zitierten außerbayerischen Rechtsprechung zum Obdachlosenrecht (VGH BW, B.v. 16.1.1996 - 1 S 3042/95 - NVwZ-RR 1996, 43; HessVGH, B.v. 5.2.2003 - 11 TG 3397/02 - NVwZ 2003, 1402; SächsOVG, B.v. 26.1.2016 - 3 B 358/15 - juris Rn. 5; vgl. auch Ruder, NVwZ 2012, 1283/1285; ders., VBlBW 2017, 1/5), sondern - bei richtigem Verständnis - auch der bisherigen Rechtsprechung des Senats zugrunde. So heißt es etwa in einem Beschluss vom 26. April 1995, dass für die Unterbringung einer obdachlosen Person nicht die Gemeinde des (letzten) gewöhnlichen Aufenthalts zuständig sei, sondern die Gemeinde, „in der der Betroffene obdachlos wird“; daher könne dieser nicht an die Gemeinde verwiesen werden, in der er früher einmal den Schwerpunkt seiner Lebensverhältnisse gehabt habe oder wo er gemeldet gewesen sei (BayVGH, B.v. 26.4.1995 - 4 CE 95.1023 - BayVBl 1995, 729). Auf diese Betrachtungsweise, wonach es für die Zuständigkeitsbestimmung auf den aktuell bestehenden Zustand der Obdachlosigkeit ankommt, nehmen auch die nachfolgend ergangenen Beschlüsse des Senats Bezug, indem sie auf das Moment des Gefahreneintritts verweisen (BayVGH, B.v. 7.1.2002 - 4 ZE 01.3176 - BayVBl 2003, 343; B.v. 9.10.2012 - 4 CE 15.2102 - juris Rn. 2; B.v. 5.12.2016 - 4 CE 16.2297 - NVwZ-RR 2017, 309; B.v. 4.4.2017 - 4 CE 17.615 - NVwZ-RR 2017, 575). Dass in diesen neueren Entscheidungen sprachlich ungenau diejenige Gemeinde als zuständig bezeichnet wird, in der die betreffende Person „obdachlos geworden ist“ (statt: „obdachlos wird“), kann im Kontext der übrigen Entscheidungsgründe nicht so verstanden werden, dass für die örtliche Zuständigkeit der - mitunter weit zurückliegende - Anfangszeitpunkt der Obdachlosigkeit maßgeblich wäre.
13
Im vorliegenden Fall kommt es demnach nicht darauf an, dass die Antragstellerin im Juni 2019 ihre Wohnung in Düsseldorf verloren hat und damit dort erstmals obdachlos geworden ist, sondern dass mit dem Zuzug ins Stadtgebiet der Antragsgegnerin nunmehr hier die aus der Obdachlosigkeit resultierenden (Gesundheits-)Gefahren drohen. Eine Rückkehr nach Düsseldorf, wo ihr keine eigene Unterkunft zur Verfügung steht und sie sich daher wiederum als Obdachlose melden müsste, kann von ihr im Hinblick auf das aus dem Grundrecht der Freizügigkeit folgende Recht, ihren Aufenthaltsort frei zu wählen, nicht verlangt werden. Besondere Anhaltspunkte, die ihr Unterbringungsbegehren ausnahmsweise als missbräuchlich erscheinen lassen könnten (vgl. BayVGH, B.v. 26.4.1995 - 4 CE 95.1023 - BayVBl 1995, 729), sind nicht ersichtlich. Ob für die Entscheidung der Antragstellerin, künftig im Gebiet der Antragsgegnerin leben zu wollen, „nachvollziehbare“ Gründe vorliegen, hat weder die Sicherheitsbehörde noch das Gericht zu überprüfen.
14
2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
15
3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47, § 53 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG, wobei im Verfahren der einstweiligen Anordnung die Hälfte des Auffangwertes angemessen erscheint (vgl. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit).
16
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).