Inhalt

VGH München, Urteil v. 30.07.2019 – 12 BV 16.2545
Titel:

Erstattungsanspruch des zweitangegangenen Rehabilitationsträgers für Aufwendungen einer selbstbeschafften Hilfemaßnahme

Normenketten:
SGB VIII § 34, § 36a, § 41
SGB IX a.F. § 14
SGB IX § 14, § 16
SGB X § 111, § 113
Leitsätze:
1. Zu den "Aufwendungen" i.S.v. § 14 Abs. 4 S. 1 SGB IX a.F. rechnen alle Individualkosten des Einzelfalls. Erstattungsleistungen nach § 36a Abs. 3 SGB VIII treten insoweit als Surrogat an die Stelle der eigentlichen Leistungspflicht. (Rn. 38) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Soweit § 14 Abs. 4 SGB IX darauf abstellt, dass die Feststellung der anderweitigen Zuständigkeit erst nach der Bewilligung der Leistung erfolgt, kommt diesem Umstand keine eigenständige Bedeutung zu. Da der zweitangegangene Rehabilitationsträger ungeachtet seiner tatsächlichen Zuständigkeit zur Leistung verpflichtet ist, kann es keinen Unterschied machen, ob die Feststellung seiner Unzuständigkeit im Innenverhältnis vor oder nach der Leistungsbewilligung erfolgt; dem Rehabilitationsträger, dem seine Zuständigkeit durch die rechtzeitige Weiterleitung des Antrags aufgedrängt wird, darf ein Erstattungsanspruch nicht versagt werden, auch wenn er seine Unzuständigkeit bereits vor der Leistungserbringung erkannt hat. (Rn. 41) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. § 14 SGB IX a.F. zielt darauf ab, im Interesse behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen durch rasche Klärung von Zuständigkeiten Nachteilen des gegliederten Sozialsystems entgegen zu wirken. Streitigkeiten über die Zuständigkeitsfrage einschließlich der vorläufigen Leistungserbringung bei ungeklärter Zuständigkeit sollen nach den Vorgaben von § 14 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX a.F. nicht zulasten der behinderten Menschen gehen. (Rn. 42) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Obligatorisches Gegenstück der schnellen und strikten Zuständigkeitsklärung im Außenverhältnis unter Beibehaltung des gegliederten Sozialsystems ist ein umfassender Ausgleichsmechanismus, der verhindert, dass Zufälligkeiten und Entlastungsstrategien im Zusammenhang mit der Zuständigkeitsordnung des § 14 SGB IX a.F. zu einer nicht der Intention des Gesetzgebers entsprechenden Lastenverschiebung zwischen den einzelnen Rehabilitationsträgern führen. Nicht im Verhältnis zum behinderten Menschen, sondern vielmehr im Erstattungsverhältnis der Rehabilitationsträger untereinander wird dem gegliederten Sozialsystem Rechnung getragen. (Rn. 45) (red. LS Clemens Kurzidem)
5. Ein Erstattungsanspruch des zweitangegangenen Rehabilitationsträgers scheidet nicht deshalb aus, weil er nicht hinreichend "schutzwürdig" ist; Anhaltspunkte, dass nur derjenige Rehabilitationsträger einen Erstattungsanspruch besitzt, der seinerseits "unverzüglich" bzw. ohne "pflichtwidrige Verzögerung" die Leistung an den Hilfebedürftigen erbringt, bietet das Gesetz nicht. Denn allein der Umstand, dass der erstangegangene Leistungsträger einen Antrag weiterleitet, führt nicht automatisch dazu, dass der zweitangegangene Träger ohne Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen die beantragte Hilfeleistung zu gewähren hat; ihm obliegt vielmehr die Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen des einschlägigen Leistungsgesetzes. (Rn. 48 – 49) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Hilfe für junge Volljährige, zweitangegangener Leistungsträger, Selbstbeschaffung, Verurteilung zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen, Kostenerstattungsanspruch, stationäre Unterbringung, selbstbeschaffte Leistung, Aufwendungsersatzanspruch, Antragsweiterleitung, Verurteilung zur Leistung, Feststellung der anderweitigen Zuständigkeit, Erstattungsanspruch, Schutzwürdigkeit
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 20.10.2016 – AN 6 K 15.1197
Fundstelle:
BeckRS 2019, 17338

Tenor

I. Die Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1
Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Aufwendungen, die durch eine von der Hilfsbedürftigen S. H. selbst beschafften stationären Unterbringung in der Einrichtung T. C. entstanden sind.
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1. Die im September 1990 geborene S. H. stammt aus dem im Bereich des Klägers gelegenen Ort W. Nach Erwerb des Realschulabschlusses absolvierte sie ab September 2008 bei einer in P. im Bereich des Beklagten angesiedelten Diakoniegemeinschaft ein freiwilliges soziales Jahr. Während ihres Aufenthalts in P. begab sie sich in ambulante psychotherapeutische Behandlung, in deren Verlauf eine Dysthymie diagnostiziert wurde. Eine daraufhin ärztlicherseits empfohlene medikamentöse Behandlung lehnte S. H. ab. Stattdessen bemühte sie sich um Aufnahme in eine therapeutische Einrichtung und absolvierte Ende August 2009 ein fünftägiges kostenloses Probewohnen in der christlichen Einrichtung T. C., die in H. im Bereich des Beigeladenen angesiedelt ist. Nach Abschluss des sozialen Jahrs verblieb S. H. zunächst noch bis 25. September 2009 in P. Danach hielt sie sich an wechselnden Aufenthaltsorten auf. Jedenfalls seit dem 2. November 2009 lebte sie in der Einrichtung T. C. in H.
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2. Nachdem das Sozialamt des Klägers einen Antrag von S. H. auf Übernahme der Kosten für eine stationäre Wiedereingliederungsmaßnahme nach § 75 Abs. 3 in Verbindung mit §§ 76 ff. Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) abgelehnt hatte, beantragte S. H. für ihren Aufenthalt in der Einrichtung T. C. in H. beim Beigeladenen am 2. Juli 2010, dort eingegangen am 5. Juli 2010, Eingliederungshilfe nach § 35a in Verbindung mit § 41 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII). Der Beigeladene leitete den Antrag an den Kläger mit der Begründung weiter, dass es sich bei T. C. in H. um eine sog. geschützte Einrichtung handele. Da S. H. ihren Wohnsitz in W., mithin im Bereich des Klägers habe, sei dieser für die Leistungsgewährung zuständig. Der Antrag ging beim Kläger mit Postzustellungsurkunde am 9. Juli 2010 ein.
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3. Der Kläger leitete den Antrag zunächst mit dem Hinweis an den Beigeladenen zurück, dass S. H. vor ihrer Aufnahme in die Einrichtung T. C. in H. ihren Aufenthalt in P. gehabt habe. Daraufhin übermittelte der Beigeladene mit Schreiben vom 12. August 2010 den Antrag dem Beklagten. Dieser gab ihn nach verschiedenen Sachverhaltsermittlungen, die zur Annahme der eigenen Zuständigkeit geführt hatten, gleichwohl mit Schreiben vom 16. Mai 2011 erneut an den Beigeladenen zurück und wies darauf hin, dass der Beigeladene den am 5. Juli 2010 gestellten Antrag nicht innerhalb von zwei Wochen nach § 14 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) an ihn weitergeleitet hätte. Daraufhin wandte sich der Beigeladene unter Hinweis auf § 14 Abs. 1 SGB IX wiederum an den Kläger, der als zweitangegangener Rehabilitationsträger für die Entscheidung über den Antrag vom 5. Juli 2010 zuständig sei. Demgegenüber verwies der Kläger auf § 86d SGB VIII, der der Regelung in § 14 Abs. 1 SGB IX vorgehe.
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4. In der Zwischenzeit versuchte S. H. im Wege des verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutzes die vorläufige Kostenübernahme für den Aufenthalt bei T. C. durch den Kläger zu erreichen. Nachdem das Verwaltungsgericht Kassel den Kläger zunächst mit Beschluss vom 28. Oktober 2011 (Az. 5 L 1225/11.KS) zur vorläufigen Übernahme der Kosten für den Aufenthalt bei T. C. ab Oktober 2011 verpflichtet hatte, wies hingegen der Hessische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 17. Januar 2012 (Az. 10 B 2227/11) den Antrag auf vorläufige Kostenübernahme ab. Die Hilfebedürftige S. H. habe die Notwendigkeit der Unterbringung bei T. C. nicht glaubhaft gemacht. Es sei zweifelhaft, ob sie zum berechtigten Personenkreis zähle. Insbesondere bestehe keine Notwendigkeit einer vollstationären Aufnahme. Ferner fehle es an einer Leistungsvereinbarung nach § 78b SGB VIII mit der Einrichtung T. C.
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5. In der Folge lehnte der Kläger mit Bescheid vom 27. März 2012 den Antrag von S. H. ab. Die Hilfebedürftige sei junge Volljährige, bei der es jedoch an einem allgemeinen Defizit in der Persönlichkeitsentwicklung fehle. Für die Behandlung von Erkrankungen sei vorrangig die Krankenhilfe zuständig. Im vorliegenden Fall kämen zwar grundsätzlich Leistungen der Eingliederungshilfe für Behinderte in Betracht, jedoch weder eine vollstationäre Betreuung noch eine selbstbeschaffte Hilfe. Nach Zurückweisung ihres hiergegen eingelegten Widerspruchs erhob S. H. erneut Klage. Sie besitze als junge Volljährige einen Anspruch auf Eingliederungshilfeleistungen. Die Voraussetzungen der Kostenerstattung für selbstbeschaffte Hilfen seien gegeben. Die Notwendigkeit einer stationären Betreuung sei von den beteiligten Rehabilitationsträgern zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt worden.
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Auf einen zwischenzeitlich von S. H. am 1. Juli 2013 gestellten Wiederholungsantrag bewilligte nunmehr der Landeswohlfahrtsverband Hessen ab 1. Oktober 2013 die Übernahme der Kosten der Unterbringung bei T. C. als Eingliederungshilfeleistung nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch.
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6. Mit Urteil vom 3. November 2014 (Az.: 5 K 918/12.KS) verurteilte das Verwaltungsgericht Kassel den Kläger, der Hilfebedürftigen Aufwendungen in Höhe von insgesamt 94.213,23 € für ihren Aufenthalt bei T. C. vom 5. Juli 2010 bis 30. September 2013 nach § 36a Abs. 3 SGB VIII zu erstatten. Insoweit wäre der Kläger als zweitangegangener Leistungsträger nach § 14 SGB IX für die Leistungserbringung zuständig gewesen. Die Voraussetzungen für eine Selbstbeschaffung der Hilfe hätten vorgelegen.
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7. Im Zuge des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens hatte der Kläger mit Schreiben vom 19. Dezember 2013 beim Beklagten vorsorglich Kostenerstattung aufgrund des gewöhnlichen Aufenthalts von S. H. im beklagten Landkreis vor Leistungsbeginn geltend gemacht. Diesen Antrag wiederholte er mit Schreiben vom 20. Juni 2014. Nach Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Kassel machte der Kläger mit Schreiben vom 10. März 2015 beim Beklagten erneut Kostenerstattung nach § 14 Abs. 4 SGB IX in Höhe von 94.213,23 € geltend. Dies lehnte der Beklagte mit Schreiben vom 16. April 2015 und 10. Juli 2015 unter Berufung auf § 105 Abs. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ab. Die Voraussetzungen des spezielleren Erstattungsanspruchs nach § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX wären nur dann gegeben, wenn „eine Schutzwürdigkeit aus der bindenden Zuständigkeit des zweitangegangenen Leistungsträgers gegeben wäre“. Da die Kosten jedoch nicht vom Kläger getragen worden seien, vielmehr die Einrichtung selbst die Kosten bis zur Verurteilung des Klägers durch das VG Kassel getragen hätte, besitze dieser auch kein schutzwürdiges Interesse.
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8. Daraufhin erhob der Kläger mit Schriftsatz vom 24. Juli 2015 Klage zum Verwaltungsgericht Ansbach mit dem Antrag,
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den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger in der Jugendhilfeangelegenheit S. H. im Zeitraum vom 5. Juli 2010 bis 30. September 2013 angefallene Aufwendungen in Höhe von 94.213,33 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
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Das Verwaltungsgericht gab der Klage mit Urteil vom 20. Oktober 2016 statt und verurteilte den Beklagten antragsgemäß. Zugleich ließ es die Berufung gegen seine Entscheidung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zu. Rechtsgrundlage für den im Wege der Leistungsklage geltend gemachten Erstattungsanspruch bilde § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX. § 14 SGB IX gehe den speziellen Regelungen über die fortdauernde oder vorläufige Leistungspflicht nach §§ 86 bis 86d SGB VIII als eine für Rehabilitationsträger abschließende Spezialregelung vor. Dies gelte gleichermaßen für den Vorrang gegenüber den allgemeinen Regeln zur vorläufigen Zuständigkeit in § 43 Abs. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) und in den jeweiligen Leistungsgesetzen der Rehabilitationsträger.
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Nach der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zu § 14 SGB IX solle diese Regelung dem Bedürfnis Rechnung tragen, im Interesse Behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen durch rasche Klärung von Zuständigkeiten Nachteilen des gegliederten Sozialleistungssystems entgegenzuwirken. Streitigkeiten über die Zuständigkeit einschließlich der Pflicht zur Erbringung vorläufiger Leistungen bei ungeklärter Zuständigkeit oder bei Eilbedürftigkeit der Maßnahme sollten nicht zu Lasten des behinderten Menschen bzw. der Schnelligkeit und Qualität der Leistungen gehen. Durch rasche Klärung der Zuständigkeit sollte vielmehr das Verwaltungsverfahren deutlich vereinfacht werden, damit die Berechtigten die erforderlichen Leistungen so schnell wie möglich erhalten. Insoweit nehme die Vorschrift in Kauf, dass eine endgültige Klärung der Zuständigkeit mit entsprechendem Kostenausgleich zwischen den Rehabilitationsträgern nach § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX erst nach der Leistungsbewilligung durch den vorläufig zuständigen Rehabilitationsträger erfolge.
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Im vorliegenden Fall sei der Kläger nach Weiterleitung des Antrag vom 5. Juli 2009 als zweitangegangener Rehabilitationsträger an die Feststellung der Zuständigkeit durch den Beigeladenen als erstangegangenen Träger gebunden. Eine Weiterleitung des Antrags sei dem Kläger damit von Rechts wegen nicht möglich gewesen. Er hätte den geltend gemachten Bedarf ungeachtet der tatsächlichen Zuständigkeit unverzüglich feststellen und über den Antrag nach den Vorschriften des Achten Buchs Sozialgesetzbuch entscheiden müssen. Dies habe der Kläger unterlassen, sodass er vom Verwaltungsgericht Kassel verurteilt worden sei, den Betrag von 94.213,33 € an S. H. zu zahlen.
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Unter Berücksichtigung des Zwecks von § 14 SGB IX und der gesetzgeberischen Entscheidung, dass der zweitangegangene Rehabilitationsträger nicht auf Dauer die Kosten der von ihm verlangten Maßnahme zu tragen habe, müsse auch in dem Fall, in dem der zweitangegangene Rehabilitationsträger nicht freiwillig leiste, sondern hierzu erst durch Gerichtsurteil angehalten werde, eine Erstattungspflicht des zuständigen Leistungsträgers nach § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX bestehen. Eine Sanktionierung des zweitangegangenen Leistungsträgers wäre zwar für den Fall, dass er seine Leistungspflicht aus § 14 Abs. 2 SGB IX nicht erfülle, zur Vermeidung einer unberechtigten Leistungsverweigerung bzw. Untätigkeit vorstellbar. Eine solche Sanktion würde jedoch eine erhebliche Rechtsbeeinträchtigung des zweitangegangenen Rehabilitationsträgers darstellen, die ausdrücklich im Gesetz hätte geregelt werden müssen und die im Übrigen dem in § 14 Abs. 4 SGB IX zum Ausdruck gekommenen gesetzgeberischen Gedanken widerspreche, dass letztlich immer der zuständige Leistungsträger die Kosten der Maßnahme zu tragen habe.
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Die Zuständigkeit für die von der Hilfebedürftigen S. H. beantragten Maßnahme nach §§ 41, 35a, 34 SGB VIII liege, was nicht mehr streitig sei, beim Beklagten. Letzterer habe im Schriftsatz vom 15. September 2015 selbst zu erkennen gegeben, dass er für die Leistungserbringung örtlich zuständig gewesen wäre, da S. H. vor Hilfebeginn zumindest ihren tatsächlichen Aufenthalt im Landkreis Fürth gehabt habe und andernorts keinen gewöhnlichen Aufenthalt mehr begründet hätte. Auch die Voraussetzungen für die Erstattung der Aufwendungen einer selbstbeschafften Hilfe nach § 36a Abs. 3 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 SGB VIII lägen vor.
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Dem Anspruch des Klägers auf Kostenerstattung stehe auch § 111 SGB X nicht entgegen. Danach sei der Erstattungsanspruch ausgeschlossen, wenn der Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht worden sei, geltend mache. Der Lauf der Frist beginne frühestens mit dem Zeitpunkt, zu dem der erstattungsberechtigte Leistungsträger von der Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über seine Leistungspflicht Kenntnis erlangt habe. Ausweislich der Jugendhilfeakte des Beklagten wurde der den Zeitraum vom 5. Juli 2010 bis 30. September 2013 umfassende Erstattungsanspruch vom Kläger erstmals mit Schriftsatz vom 19. Dezember 2013, mithin innerhalb von zwölf Monaten nach Ablauf des Leistungszeitraums geltend gemacht.
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Auch sei der Erstattungsanspruch nicht nach § 113 SGB X verjährt. Nach § 113 Abs. 1 SGB X verjährten Erstattungsansprüche in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem der erstattungsberechtigte Leistungsträger von der Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über dessen Leistungspflicht Kenntnis erlangt habe. Da es im vorliegenden Fall an einer derartigen Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers fehle, liege hinsichtlich des Verjährungsbeginns eine unbeabsichtigte planwidrige Regelungslücke vor, die durch Anwendung der sozialhilferechtlichen Verjährungsvorschrift des § 111 Abs. 1 SGB X geschlossen werden könne. Danach sei für den Verjährungsbeginn auf den Ablauf des Kalenderjahres abzustellen, in dem der Erstattungsanspruch entstanden sei. Dies sei im vorliegenden Fall mit Eintritt der Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Kassel vom 3. November 2014 erfolgt, sodass keine Verjährung eingetreten sei.
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Damit lägen die Voraussetzungen des § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX vor: Nach der Bewilligung der Leistung durch einen Rehabilitationsträger - nämlich den Kläger - sei festgestellt worden, dass ein anderer Rehabilitationsträger - der Beklagte - für die Leistung zuständig sei. Folglich habe der Beklagte dem Kläger die Aufwendungen nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften zu erstatten. Da der Beklagte keine Einwendungen gegen die Höhe des Erstattungsanspruchs geltend gemacht habe, sei er zur Zahlung von 94.213,23 € zu verurteilen gewesen. Auch der Anspruch auf die Zahlung von Prozesszinsen in Höhe von 5% über dem Basiszinssatz (§§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB) seit Rechtshängigkeit sei begründet. Da Prozesszinsen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts weder den Verzugszinsen noch den „Lastenausgleichszinsen“ des § 108 Abs. 2 SGB X unterfielen, schließe letztere Norm die Geltendmachung von Prozesszinsen nicht stillschweigend aus. Die Klage auf Kostenerstattung sei daher in vollem Umfang begründet.
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Gleichwohl komme der Rechtssache hinsichtlich der Frage, „ob § 14 Abs. 4 SGB IX auf die vorliegende Konstellation Anwendung finden“ könne, grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zu, sodass die Berufung nach § 124a Abs. 1 VwGO zuzulassen gewesen sei.
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9. Mit Schriftsatz vom 12 Dezember 2016 legte der Beklagte die zugelassene Berufung ein. Zur Begründung wies er darauf hin, dass der Kläger im vorliegenden Fall nach § 14 SGB IX zweitangegangener Rehabilitationsträger gewesen sei und es pflichtwidrig unterlassen habe, den Antrag der Hilfebedürftigen vom 5. Juli 2010 innerhalb der gebotenen Frist des § 14 Abs. 2 Satz 3 bzw. Satz 4 SGB IX zu bescheiden. Er sei daher vom Verwaltungsgericht Kassel zu Recht verurteilt worden, der Hilfebedürftigen S. die Kosten für die selbstbeschaffte Hilfe bei der Einrichtung T. C. in Höhe von 94.213,23 € nachträglich zu erstatten. Demgegenüber bestehe für den Beklagten entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts keine Erstattungspflicht aus § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX.
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Hiergegen spreche bereits der Wortlaut der Norm. So habe der Kläger als zweitangegangener Leistungsträger der Hilfebedürftigen gerade keine Leistung bewilligt, sondern seine Verpflichtung, zumindest vorläufig tätig zu werden, pflichtwidrig verkannt, sodass sich die Hilfebedürftige die notwendige Rehabilitationsmaßnahme selbst habe beschaffen müssen. § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX schütze indes nur denjenigen zweitangegangenen Rehabilitationsträger, der seiner Leistungspflicht innerhalb der gesetzlich in § 14 SGB IX vorgesehenen Fristen nachkomme.
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Dass dem Kläger im vorliegenden Fall kein Erstattungsanspruch zukomme ergebe sich auch aus der vom Gesetzgeber mit § 14 SGB IX verfolgten Intention, die Zuständigkeitsregelung in Rehabilitationsfällen rasch herbeizuführen. Zuständigkeitsstreitigkeiten sollten nicht zu Lasten behinderter Menschen bzw. der Schnelligkeit und Qualität der Leistungserbringung gehen. Im vorliegenden Fall habe der Kläger jedoch gerade nicht schnell eine Leistung erbracht, diese vielmehr pflichtwidrig verweigert, sodass er nicht in den „Schutzbereich der erstattungsberechtigten Träger nach § 14 Abs. 4 SGB IX“ falle.
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Das pflichtwidrige Verhalten des Klägers habe den Beklagten auch der Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf die zu erbringende Hilfeleistung beraubt. Hätte der Kläger seiner Pflicht zur Leistungserbringung als zweitangegangener Träger genügt, hätte es zugleich in seinem Interesse gelegen, den Hilfefall schnellstmöglich an den eigentlich zuständigen Träger - im vorliegenden Fall den Beklagten - abzugeben. Diesem wären daher bei Übernahme des Hilfefalls noch Gestaltungsmöglichkeiten verblieben. Dieser Umstand spreche dagegen, dass § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX auch auf die Fälle Anwendung finde, in denen der zweitangegangene Träger die Hilfeleistung pflichtwidrig unterlasse.
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Da weiterhin nach § 14 Abs. 4 Satz 3 SGB IX für erstangegangene Rehabilitationsträger, die die Frist zur Weiterleitung des Antrags an den zuständigen Rehabilitationsträger versäumt haben, ein Kostenerstattungsanspruch nach § 105 SGB X ausscheide, müsse dies in sinngemäßer Anwendung bei einem pflichtwidrigen Leistungsversäumnis des zweitangegangenen Trägers erst recht gelten. Wie sich bereits aus der Gesetzesbegründung ergebe, sei es gerade nicht Sinn und Zweck von § 14 Abs. 4 SGB IX, die Kostentragungspflicht immer dem an und für sich zuständigen Träger aufzuerlegen. Vielmehr gehe es um die Beschleunigung des Verfahrens im Interesse des hilfsbedürftigen Menschen.
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Der Beklagte beantragt daher:
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1. Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach, AN 6 K 15.01197, wird aufgehoben.
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2. Die Klage des Berufungsbeklagten wird abgewiesen.
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Demgegenüber beantragt der Kläger,
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die Berufung gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 20.10.2016, AN 6 K 15.01197, zurückzuweisen.
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Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und verweist darauf, dass nach dem Rechtsgedanken des § 14 Abs. 4 SGB IX der zuständige Rehabilitationsträger letztlich die Kosten einer Hilfemaßnahme tragen solle. Zuständig für die Hilfeleistung für S. sei im vorliegenden Fall - auch nach seinem eigenen Vorbringen - der Beklagte gewesen. Dieser sei demzufolge dem Kläger zur Erstattung der Aufwendungen verpflichtet. § 14 Abs. 4 SGB IX setze gerade nicht die „Schutzwürdigkeit“ der erstattungsberechtigten Rehabilitationsträgers voraus.
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In diesem Zusammenhang sei anzumerken, dass der Beklagte, der augenscheinlich in Kenntnis seiner eigenen Zuständigkeit die Leistung gegenüber der Hilfebedürftigen nicht erbracht habe, nicht im Nachhinein dem unzuständigen, zur Leistung verurteilten zweitangegangenen Rehabilitationsträger seine angeblich fehlende Schutzwürdigkeit vorhalten dürfe. Hätte er seinerzeit selbst die Leistung erbracht, wäre es zu keinem Verwaltungsrechtsstreit gekommen.
33
Soweit § 14 SGB IX dem Bedürfnis Rechnung trage, im Interesse behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen durch rasche Klärung von Zuständigkeiten möglichen Nachteilen des gegliederten Sozialsystems entgegenzuwirken, habe dies nicht zur Folge, dass ein Leistungserbringer einen Anspruch nicht ablehnen dürfe, wenn es nach seiner Ansicht an den Anspruchsvoraussetzungen fehle. Ebenso wenig entziehe dies dem zweitangegangenen Leistungsträger im Falle seiner Verurteilung zur Leistung den Anspruch auf Erstattung seiner Aufwendungen.
34
Der Beigeladene hat im Berufungsverfahren keinen Antrag gestellt. Mit Schriftsätzen vom 23. Februar 2017, 17. April 2019 und 23. April 2019 haben die Verfahrensbeteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die dem Senat vorliegenden Gerichts- und Behördenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

36
Der Senat konnte über die Berufung des Beklagten nach §§ 125 Abs. 1 Satz 1, 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da alle Verfahrensbeteiligten hiermit ihr Einverständnis erklärt hatten.
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Die zulässige Berufung erweist sich als unbegründet, da dem Kläger der geltend gemachte Erstattungsanspruch nach § 14 Abs. 4 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in der bis einschließlich 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (im Nachfolgenden SGB IX a.F.) zusteht. Danach erstattet derjenige Rehabilitationsträger, der für die Erbringung einer Leistung zuständig ist, demjenigen Rehabilitationsträger, der die Leistung erbracht hat, dessen Aufwendungen nach den für diesen geltenden Rechtsvorschriften, wenn nach „Bewilligung der Leistung“ nach § 14 Abs. 1 Satz 2 bis 4 SGB IX a.F. festgestellt wird, dass ein anderer Rehabilitationsträger für die Leistung zuständig ist.
38
1. Insoweit sind zunächst dem Kläger als zweitangegangenem Rehabilitationsträger der Höhe nach unstreitig „Aufwendungen“ gegenüber der Hilfebedürftigen S. H. entstanden. Zwar hat er die von S. H. beantragte Leistung, nämlich die Übernahme der Kosten für die vollstationäre Unterbringung bei T. C. in H. aufgrund des Obsiegens im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zunächst abgelehnt und wurde er erst im Hauptsacheverfahren zur Erstattung der durch die Unterbringung von S. H. bei T. C. angefallenen Kosten auf der Grundlage von § 36a Abs. 3 SGB VIII verurteilt. „Aufwendungen“ im Sinne von § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a.F. sind jedoch alle Individualkosten des Einzelfalls (Luik in jurisPK SGB IX, 2. Aufl. 2015, § 14 Rn. 121). Die Erstattungsleistungen nach § 36a Abs. 3 SGB VIII treten insoweit als „Surrogat“ an die Stelle der eigentlichen Leistungspflicht (Kunkel/Pattar in Kunkel/Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, 7. Aufl. 2018, § 36a Rn. 23). Der Anwendungsbereich der gegenüber den Vorschriften der §§ 102 ff. SGB X für den zweitangegangenen Leistungsträger spezielleren Erstattungsvorschrift des § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX (vgl. Luik in jurisPK SGB IX, 2. Aufl. 2015, § 14 Rn. 119; Joussen in Dau/Düwell/Joussen, Sozialgesetzbuch IX, 4. Aufl. 2014, § 14 Rn. 22; Götze in Hauck/Noftz, SGB IX, Stand Dezember 2012, § 14 Rn. 25, 27; BSG, U.v. 26.6.2007 - B 1 KR 34/06 R - BSGE 98, 267 = BeckRS 2007, 46154 Rn. 18) ist damit grundsätzlich eröffnet.
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Darüber hinaus ist es zwischen den Verfahrensbeteiligten unstreitig und wird vom Beklagten auch ausdrücklich zugestanden, dass er für die Erbringung von Leistungen nach §§ 35a, 34, 41 SGB VIII an S. H. im vorliegend streitgegenständlichen Zeitraum zwischen der Antragstellung am 5. Juli 2010 und dem 30. September 2013 örtlich zuständig gewesen wäre.
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2. Auch soweit § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX verlangt, dass „nach Bewilligung der Leistung“ durch den zweitangegangenen Rehabilitationsträger „festgestellt“ wird, dass ein anderer Rehabilitationsträger für die Leistung zuständig ist, liegen die Tatbestandsvoraussetzungen der Norm entgegen der Auffassung des Beklagten vor. Zwar hat der Kläger im vorliegenden Fall - gestützt auf die im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ergangenen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Kassel und des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs - mangels Glaubhaftmachung der Anspruchsvoraussetzungen der begehrten Hilfeleistung deren „Bewilligung“ mit Bescheid vom 27. März 2012 abgelehnt. Dies schließt indes den Erstattungsanspruch nach § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a.F. nicht aus.
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Denn soweit der Wortlaut der Vorschrift vorsieht, dass die Feststellung der anderweitigen Zuständigkeit erst nach der Bewilligung der Leistung erfolgen soll, kann dieser Formulierung keine eigenständige Bedeutung zukommen. Da der zweitangegangene Rehabilitationsträger unabhängig von der Frage, ob er für die zu gewährende Leistung tatsächlich nach den Leistungsgesetzen zuständig wäre, zur Leistung verpflichtet ist, kann es keinen Unterschied machen, ob die Feststellung seiner Unzuständigkeit im Innenverhältnis vor oder nach der Leistungsbewilligung erfolgt. Es wäre nicht nachvollziehbar, dem Rehabilitationsträger, dem eine Leistungszuständigkeit durch die rechtzeitige Weiterleitung des Antrags an ihn aufgedrängt wird, einen Erstattungsanspruch zu versagen, wenn er seine Unzuständigkeit bereits vor der Leistungserbringung erkannt hat. Die gesetzliche Formulierung ist mithin ungenau und verfehlt, weil der zweitangegangene Leistungsträger ohne Rücksicht auf die eigentliche Zuständigkeit die Leistung erbringen muss (BSG, U.v. 25.4.2013 - B 8 SO 12/12 R - BeckRS 2013, 70866 Rn. 10; vgl. auch Grauthoff in Kossens/von der Heide/Maaß, SGB IX, 4. Aufl. 2015, § 14 Rn. 24). Demzufolge kommt es auf den Umstand, dass im vorliegenden Fall gerade keine „Bewilligung“ der Leistung durch den Kläger erfolgte, nicht maßgeblich an. Vielmehr besteht ein Erstattungsanspruch auch dann, wenn die Unzuständigkeit des leistenden Trägers bereits vor Anfang an festgestanden hat.
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3. Entgegen der Auffassung des Beklagten steht einem Erstattungsanspruch des Klägers auch die gesetzgeberische Intention der Regelung in § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a.F. nicht entgegen. Wie der Senat bereits entschieden hat (vgl. BayVGH, U.v. 7.10.2013 - 12 B 11.1886 - BeckRS 2013, 57178 Rn. 21 ff. mit weiteren Nachweisen aus Literatur und Rechtsprechung) zielt § 14 SGB IX a.F. zwar in erster Linie darauf ab, zwischen den betroffenen behinderten Menschen und etwaigen Rehabilitationsträgern die Zuständigkeit für eine bestimmte Hilfeleistung schnell und dauerhaft zu klären. Die Vorschrift trägt damit dem Bedürfnis Rechnung, im Interesse behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen durch rasche Klärung von Zuständigkeiten Nachteilen des gegliederten Sozialsystems entgegen zu wirken. Streitigkeiten über die Zuständigkeitsfrage einschließlich der vorläufigen Leistungserbringung bei ungeklärter Zuständigkeit sollen nach den Vorgaben von § 14 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IX a.F. nicht zulasten der behinderten Menschen gehen. Vielmehr haben sowohl der erstwie der zweitangegangene Rehabilitationsträger unverzüglich die Leistungspflicht festzustellen und bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen die Hilfeleistung zu erbringen.
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Bliebe es dagegen im Innenverhältnis der Rehabilitationsträger untereinander bei der von § 14 Abs. 1, Abs. 2 SGB IX a.F. vorgezeichneten Zuständigkeitsverteilung und wäre die dort geregelte Zuständigkeitsverteilung auch dafür maßgeblich, wer letztlich die Lasten der Rehabilitation zu tragen hat, erwiesen sich die bisher geltenden Zuständigkeitsnormen außerhalb des Neunten Buchs Sozialgesetzbuch als im Wesentlichen obsolet. Die damit einhergehende Lastenverschiebung ohne Ausgleich würde die Grundlagen des gegliederten Sozialsystems in Frage stellen.
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Notwendiges Korrelat der schnellen und strikten Zuständigkeitsklärung im Außenverhältnis zum Hilfebedürftigen unter Beibehaltung des gegliederten Sozialsystems ist deshalb ein umfassender Ausgleichsmechanismus, der sicherstellt, dass der Rehabilitationsträger seine Zuständigkeit im Rahmen von § 14 SGB IX a.F. bejahen kann, ohne allein deshalb verpflichtet zu sein, im Verhältnis zu anderen Rehabilitationsträgern diese Lasten endgültig tragen zu müssen. Letzteres hat der Gesetzgeber mit Einführung von § 14 SGB IX a.F. nicht bezweckt. Die Zuständigkeit der einzelnen Zweige der sozialen Sicherheit soll vielmehr für Rehabilitationsleistungen grundsätzlich unberührt bleiben.
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Obligatorisches Gegenstück der schnellen und strikten Zuständigkeitsklärung im Außenverhältnis unter Beibehaltung des gegliederten Sozialsystems ist deshalb ein umfassender Ausgleichsmechanismus, der verhindert, dass Zufälligkeiten und Entlastungsstrategien im Zusammenhang mit der Zuständigkeitsordnung des § 14 SGB IX zu einer nicht der Intention des Gesetzgebers entsprechenden Lastenverschiebung zwischen den einzelnen Rehabilitationsträgern führen. Nicht im Verhältnis zum behinderten Menschen, sondern vielmehr im Erstattungsverhältnis der Rehabilitationsträger untereinander wird dem gegliederten Sozialsystem Rechnung getragen.
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Demzufolge trägt § 14 Abs. 4 Satz 1 und 2 SGB IX a.F. der Sondersituation des zweitangegangenen Rehabilitationsträgers Rechnung, indem er für ihn einen speziellen Erstattungsanspruch begründet. Demgegenüber steht dem erstangegangenen Rehabilitationsträger ein vergleichbar privilegierter Erstattungsanspruch nicht zu, da er anders als der zweitangegangenen Träger nicht in gleicher Weise schutzwürdig ist. Denn der erstangegangene Träger ist nicht einer „aufgedrängten“ Zuständigkeit aus § 14 Abs. 1, 2 SGB IX a.F. ausgesetzt, der er sich nicht entziehen kann. Er kann seine Zuständigkeit vielmehr prüfen und verneinen. Hat der erstangegangene Träger seine Zuständigkeit verneint und leistet er, obwohl nach dem Ergebnis seiner Prüfung ein anderer Rehabilitationsträger zuständig ist, kann er indes nach § 14 Abs. 4 Satz 3 SGB IX a.F. keine Erstattung beanspruchen, weil er zielgerichtet in fremde Zuständigkeiten eingreift und er zugleich das Weiterleitungsgebot des § 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX missachtet. Entgegen der Auffassung des Beklagten lässt sich daher die Regelung des Verlustes des Erstattungsanspruchs des erstangegangenen Rehabilitationsträgers nach § 14 Abs. 4 Satz 3 SGB IX a.F. nicht auf den zweitangegangenen Rehabilitationsträger im Rahmen von § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a.F. übertragen.
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Es liegt daher in der vom Gesetzgeber mit § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a.F. verfolgten Intention, als notwendiges Gegenstück zur schnellen Zuständigkeitsklärung die Zuständigkeitsordnung des gegliederten Sozialsystems durch Zubilligung eines entsprechenden Erstattungsanspruchs des zweitangegangenen Rehabilitationsträgers sicherzustellen. Diesen Aspekt des Regelungssystems blendet der Beklagte indes im Rahmen seiner Berufung vollständig aus. Entgegen seiner Auffassung zielt der Gesetzgeber mit § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a.F. gerade darauf ab, dass die Lasten einer Rehabilitationsmaßnahme nach Durchführung eines Erstattungsverfahrens im Ergebnis auch beim zuständigen Sozialleistungsträgers verbleiben.
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4. Entgegen der Auffassung des Beklagten scheidet ein Erstattungsanspruch des Klägers aus § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX auch nicht deshalb aus, weil der Kläger nicht „schutzwürdig“ ist. Anhaltspunkte dafür, dass nur derjenige zweitangegangene Rehabilitationsträger gegen den zuständigen Leistungsträger einen Erstattungsanspruch besitzt, der seinerseits „unverzüglich“ bzw. ohne „pflichtwidrige Verzögerung“ die Leistung an den Hilfebedürftigen erbracht hat, bietet das Gesetz nicht. Es lässt sich, wie bereits dargestellt, auch nicht mit einer entsprechenden Absicht des Gesetzgebers begründen, da dieser seinem Regelungskonzept neben der schnellen Hilfeleistung auch und gerade die Beibehaltung des gegliederten Sozialleistungssystems durch Gewährung von Erstattungsansprüchen zugrunde gelegt hat.
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Im Übrigen übersieht der Beklagte, dass es bei der vorliegenden Fallkonstellation an einer „Pflichtwidrigkeit“ der unterlassenen Leistungserbringung augenscheinlich mangelt. Denn allein der Umstand, dass der erstangegangene Leistungsträger einen Antrag weiterleitet, führt nicht automatisch dazu, dass der zweitangegangene Träger ohne Prüfung des Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen die beantragte Hilfeleistung unverzüglich zu gewähren hat. Vielmehr obliegt es dem zweitangegangenen Träger, das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen nach dem jeweils maßgeblichen Leistungsgesetz zu prüfen. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen der beantragten Hilfeleistung nicht vor, hat auch der zweitangegangene Träger den Leistungsantrag abzulehnen. Im vorliegenden Fall hat der Kläger als zweitangegangener Träger die Voraussetzungen für die Übernahme der Kosten der vollstationären Unterbringung von S. H. bei T. C. nach §§ 35a, 34, 41 SGB VIII nicht für gegeben erachtet, nachdem ein vorläufiger Rechtsschutzantrag von S. H. vom Hessischen Verwaltungsgerichtshof abgelehnt worden war. Inwieweit angesichts dessen in der Antragsablehnung durch den Kläger eine „Pflichtwidrigkeit“ liegen soll, die im Hinblick auf einen Erstattungsanspruch zur mangelnden „Schutzwürdigkeit“ des Klägers führen soll, erschließt sich dem Senat nicht. Profitiert der (eigentlich) zuständige Leistungsträger mit Blick auf ein Erstattungsverfahren zunächst davon, dass der zweitangegangene Rehabilitationsträger im Rahmen der ihm „aufgedrängten“ Zuständigkeit das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des maßgeblichen Leistungsgesetzes prüft und gegebenenfalls die Leistungserbringung ablehnt, muss er für den Fall, dass sich im Nachhinein die Leistungsablehnung als ungerechtfertigt herausstellt, auch die vom zweitangegangenen Träger geleisteten Aufwendungen für eine vom Hilfebedürftigen selbstbeschaffte Maßnahme im Rahmen des Erstattungsverfahrens übernehmen. Anhaltspunkte für einen Ausschluss des Erstattungsanspruchs aus § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a.F. aufgrund mangelnder „Schutzwürdigkeit“ des Klägers bestehen daher im vorliegenden Fall nicht.
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5. Soweit nunmehr das Bundesteilhabegesetz (Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen - Bundesteilhabegesetz - vom 23.12.2016, BGBl I, 3234) mit Wirkung vom 1. Januar 2018 die §§ 14 ff. SGB IX neu gefasst hat, lässt auch die Neuregelung den Schluss zu, dass im Falle einer vom Hilfebedürftigen selbstbeschafften Hilfeleistung der „leistende“ Sozialleistungsträger gegen den eigentlich zuständigen Leistungsträger einen Erstattungsanspruch besitzen soll. So bestimmt § 16 Abs. 5 Satz 1 SGB IX n.F., dass der leistende Rehabilitationsträger, der in den Fällen des § 18 SGB IX n.F. Aufwendungen für selbstbeschaffte Leistungen nach dem Leistungsgesetz eines nach § 15 beteiligten Rehabilitationsträgers zu erstatten hat, von dem beteiligten Rehabilitationsträger einen Ausgleich verlangen kann, soweit dieser durch die Erstattung nach § 18 Abs. 4 Satz 2 SGB IX n.F. von seiner Leistungspflicht befreit wurde. Beabsichtigt ist mit dieser Regelung „im Innenverhältnis der beteiligten Träger (…) eine angemessene Verteilung des jeweiligen Risikos“ (Joussen in Dau/Düwell/Joussen, Sozialgesetzbuch IX, 5. Aufl. 2019, § 16 Rn. 11). Führt die Selbstbeschaffung der Leistung durch den Hilfebedürftigen infolge der nicht rechtzeitigen Hilfeerbringung durch den zweitangegangenen Leistungsträger zu einem Ersatzanspruch des Hilfebedürftigen, kann dieser nach der Neuregelung gegenüber dem (eigentlich) zuständigen Leistungsträger einen Erstattungsanspruch geltend machen.
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6. Der Kläger hat im Übrigen den Erstattungsanspruch gegenüber dem Beklagten auch innerhalb der Ausschlussfrist des § 111 Satz 1 SGB X, die auch auf Erstattungsansprüche nach § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a. F. Anwendung findet, geltend gemacht. Nach der genannten Norm ist der Erstattungsanspruch dann ausgeschlossen, wenn „der Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde“, geltend macht. Während das Bundessozialgericht bei monatlich wiederkehrenden Leistungen den Beginn der Ausschlussfrist jeweils monatsbezogen bestimmt, stellt das Bundesverwaltungsgericht für Jugendhilfeleistungen demgegenüber auf die jeweilige Gesamtleistung ab (vgl. BVerwG, U.v. 19.8.2010 - 5 C 14.09 - BVerwGE 137, 368 Ls. 2; U.v. 17.12.2015 - 5 C 9.15 - BVerwGE 154, 1 Ls. 2). Damit fällt der Fristbeginn der Ausschlussfrist vorliegend frühestens auf den 1. Oktober 2013. Erstmals hat der Kläger gegenüber dem Beklagten jedoch bereits am 19. Dezember 2013 einen Erstattungsanspruch geltend gemacht. Die Ausschlussfrist ist damit gewahrt.
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7. Auf die vom Verwaltungsgericht angesprochene Frage, ob der Erstattungsanspruch möglicherweise nach § 113 Abs. 1 Satz 1 SGB X verjährt ist, kommt es vorliegend nicht entscheidungserheblich an, da - soweit aus den vorliegenden Akten ersichtlich - der Beklagte die Einrede der Verjährung nicht erhoben hat und sie auch nicht von Amts wegen zu berücksichtigen ist. Art. 71 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BayAGBGB, wonach auf Geldzahlungen gerichtete öffentlich-rechtliche Ansprüche gegen einen bayerischen Gemeindeverband in drei Jahren erlöschen, kommt aufgrund der insoweit vorrangigen Regelung des § 113 Abs. 1 SGB X vorliegend nicht zur Anwendung (vgl. BayVGH, B.v. 31.5.2019 - 12 ZB 14.1513 - BeckRS 2019, 12014 Rn. 44).
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Demzufolge steht dem Kläger der geltend gemachte Erstattungsanspruch in - unstrittiger - Höhe von 94.213,33 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu. Hinsichtlich der Berechtigung der geltend gemachten Prozesszinsen wird auf die Gründe der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung verwiesen.
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8. Der Beklagte trägt nach § 154 Abs. 2 VwGO die Kosten des Berufungsverfahrens.
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9. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.