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OLG München, Urteil v. 28.03.2019 – 29 U 2297/18
Titel:

Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke (Vorrang von Art. 9 Abs. 5 VO (EU) 609/2013 gegenüber § 21 Abs. 2 Nr. 1 DiätV)

Normenketten:
VO (EU) 609/2013 Art. 9 Abs. 5, Art. 21
DiätV § 21 Abs. 2 Nr. 1
UWG § 3a
Leitsatz:
Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke dürfen jedenfalls seit 20.07.2016 gemäß Art. 9 Abs. 5 VO (EU) 609/2013 nicht mehr mit der Angabe „zur diätetischen Behandlung von…" ergänzt durch die Krankheit, Störung oder Beschwerden, für die das Lebensmittel bestimmt ist, beworben werden, da Art. 9 Abs. 5 VO (EU) 609/2013 gegenüber § 21 Abs. 2 Nr. 1 DiätV Vorrang hat. (Rn. 17)
Schlagworte:
Lebensmittelwerbung, medizinische Zwecke, diätisches Lebensmittel, Nahrungsergänzungsmittel, Zeitpunkt, Übergangszeitraum
Vorinstanz:
LG München II, Urteil vom 18.06.2018 – 2 HK O 3022/17
Fundstellen:
MD 2019, 611
ZLR 2019, 581
WRP 2019, 1636
LSK 2019, 10572
BeckRS 2019, 10572
GRUR-RR 2019, 450
LMuR 2019, 275

Tenor

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts München II vom 18.06.2018 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
III. Dieses Urteil und das Urteil des Landgerichts sind vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung aus Ziffer I. des Tenors des landgerichtlichen Urteils durch Sicherheitsleistung in Höhe von 30.000,00 € abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Im Übrigen kann die Beklagte die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 115% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 115% des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

I.
1
Der Kläger macht gegen die Beklagte wettbewerbsrechtliche Unterlassungsansprüche wegen zweier Werbeaussagen geltend.
2
Der Kläger ist ein eingetragener Verein, zu dessen satzungsmäßigen Aufgaben die Wahrung der gewerblichen Interessen seiner Mitglieder, insbesondere die Achtung darauf gehört, dass die Regeln des lauteren Wettbewerbs eingehalten werden. Ihm gehören u.a. die Apothekerkammer Nordrhein und mehrere Apotheken an.
3
Die Beklagte vertreibt das Mittel „Lyandra“ als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke (LbmZ) und hat dieses am 19. Juni 2017 im Internet wie aus der nachfolgend eingeblendeten Anlage K 3 ersichtlich mit den Aussagen „Zur diätetischen Behandlung von Lippenherpes“ und „L-Lysin für die ernährungsmedizinische Behandlung von Lippenherpes“ beworben:
4
Der Kläger ist der Auffassung, dass die Werbeaussagen gemäß Art. 9 Abs. 5 der VO (EU) 609/2013 für das Produkt unzulässig seien.
5
Die Beklagte ist der Auffassung, die VO (EU) 609/2013 sei zum Zeitpunkt der Verletzungshandlung zeitlich noch nicht anwendbar gewesen. Aufgrund der Übergangsvorschrift des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 der VO (EU) 609/2013 gelte diese erst seit dem 22.02.2019.
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Das Landgericht hat den zuletzt gestellten Anträgen des Klägers vollumfänglich entsprochen und wie folgt erkannt:
I. Die Beklagte wird verurteilt, es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung zu verhängenden Ordnungsgeldes bis zu 250.000,00 €, ersatzweise Ordnungshaft oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, die Ordnungshaft zu vollziehen an den Geschäftsführern der persönlich haftenden Gesellschafterin, zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr für das Mittel „Lyandra“ mit der Angabe zu werben:
1. „Zur diätetischen Behandlung von Lippenherpes.“
2. „L-Lysin für die ernährungsmedizinische Behandlung von Lippenherpes“ sofern dies geschieht wie in Anlage K 3 wiedergegeben.
II. [Kosten]
III. [vorläufige Vollstreckbarkeit]
Gegen dieses Urteil wendet sich die Beklagte unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags mit ihrer Berufung. Sie beantragt,
das Urteil des Landgerichts München II vom 18.06.2018, Az. 2 HK O 3022/17, abzuändern und die Klage abzuweisen.
7
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
8
Im Übrigen wird auf die im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 28.03.2019 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

II.
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Die Berufung ist zulässig, aber nicht begründet. Dem Kläger stehen die geltend gemachten Unterlassungsansprüche zu.
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Die geltend gemachten Unterlassungsansprüche sind gemäß § 8 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 2, § 3, § 3a UWG i.V.m. Art. 9 Abs. 5 VO (EU) 609/2013 begründet.
11
1. Der Kläger ist gemäß § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG klagebefugt.
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2. Gemäß Art. 9 Abs. 5 VO (EU) 609/2013 darf die Kennzeichnung und Aufmachung von sowie die Werbung für Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke (vgl. Art. 1 Abs. 1 c) VO (EU) 609/2013) diesen Erzeugnissen keine Eigenschaften der Vorbeugung, Behandlung oder Heilung einer menschlichen Krankheit zuschreiben oder den Eindruck dieser Eigenschaften erwecken.
13
a) Bei Art. 9 Abs. 5 VO (EU) 609/2013 handelt es sich um eine Marktverhaltensregelung, da sie dem Schutz der Verbraucher dient.
14
b) Die Beklagte vertreibt ihr Produkt „Lyandra“ unstreitig als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke. Ob sie dazu berechtigt ist, kann im Rahmen dieses Rechtsstreits dahinstehen.
15
c) Mit der Angabe „Zur diätetischen Behandlung von Lippenherpes“ wirbt sie mit der Eignung ihres Produkts zur Behandlung einer Krankheit.
16
Das gleiche gilt für die Angabe „L-Lysin für die ernährungsmedizinische Behandlung von Lippenherpes“ wie in der Anlage K 3 wiedergegeben. Die Beklagte stellt in der Anlage K 3 zunächst dar, dass „Lyandra“ hochdosiertes L-Lysin enthält, und wirbt sodann mit dem angegriffenen Slogan, so dass auch diese Angabe dahingehend zu verstehen ist, dass „Lyandra“ zur Behandlung von Lippenherpes geeignet ist.
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d) Die Beklagte kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, sie sei gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 1 DiätV zu der Angabe „zur diätetischen Behandlung von …“ ergänzt durch die Krankheit, Störung oder Beschwerden, für die das Lebensmittel bestimmt ist, zu der beanstandeten Angabe gesetzlich verpflichtet und gesetzliche Pflichtkennzeichnungen müssten sich nicht an lebensmittelrechtlichen Werbevorschriften messen lassen. § 21 Abs. 2 Nr. 1 DiätV dient der Umsetzung der RL 1999/21/EG, nach deren Art. 4 Abs. 4 a) die Kennzeichnung ganz entsprechend § 21 Abs. 2 Nr. 1 DiätV den Hinweis „Zur diätetischen Behandlung von …“ ergänzt durch die Krankheit(en), Störung(en) oder Beschwerden enthalten muss, für die das Erzeugnis bestimmt ist. Allerdings ist in Art. 20 Abs. 4 der gemäß ihres Art. 22 seit 20.07.2016 geltenden Verordnung (EU) 609/2013 ausdrücklich geregelt, dass, wenn die RL 1999/21/EG zur VO (EU) 609/2013 im Widerspruch steht, letztere Vorrang hat. Die Beklagte kann sich somit wegen des Vorrangs von Art. 9 Abs. 5 VO (EU) auf eine entsprechende Kennzeichnungspflicht nach § 21 Abs. 2 Nr. 1 DiätV, soweit diese nach bisherigem Recht tatsächlich bestanden haben sollte, nicht (mehr) berufen. Der Vorrang der Regelung des Art. 9 Abs. 5 VO (EU) 609/2013 gegenüber § 21 Abs. 2 Nr. 1 DiätV ergibt sich zudem auch aus Art. 6 Abs. 2 VO (EU) 609/2013.
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e) Entgegen der Auffassung der Beklagten ergibt sich auch aus Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 VO (EU) 609/2013 nicht, dass Art. 9 Abs. 5 VO (EU) 609/2013 vor dem 22.02.2019 und somit zum Zeitpunkt der Verletzungshandlung am 19.06.2017 noch nicht galt. Gemäß Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 VO (EU) 609/2013 dürfen Lebensmittel im Sinne von Art. 1 Abs. 1 VO (EU) 609/2013, die den Anforderungen dieser Verordnung und gegebenenfalls der Verordnung (EG) 953/2009 sowie der Richtlinien 96/8/EG, 1999/21/EG, 2006/125/EG und 2006/141/EG genügen, jedoch nicht den Anforderungen der delegierten Rechtsakte gemäß Art. 11 Abs. 1 VO (EU) 609/2013, und vor dem Zeitpunkt der Anwendung dieser delegierten Rechtsakte in Verkehr gebracht oder gekennzeichnet wurden, auch nach diesem Datum bis zur Erschöpfung der Bestände des betreffenden Lebensmittels vermarktet werden. Die delegierte Verordnung (EU) 2016/128, in deren Art. 5 die Pflichtangaben für Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke geregelt sind, gilt seit dem 22.02.2019. Aus Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 VO (EU) 609/2013 ergibt sich somit, dass Lebensmittel, die vor dem 22.02.2019 in den Verkehr gebracht oder gekennzeichnet wurden, und den Anforderungen der VO (EU) 609/2013 entsprechen, auch noch nach dem 22.02.2019 abverkauft werden dürfen, selbst wenn sie den Anforderungen der delegierten Verordnung (EU) 2016/128 nicht entsprechen. Ganz abgesehen davon, dass es vorliegend nicht um die Zulässigkeit des Abverkaufs bestimmter Produktbestände, sondern um die Zulässigkeit zweier Werbeaussagen unabhängig von der Produktkennzeichnung geht, entsprechen die streitgegenständlichen Werbeaussagen gerade nicht den Anforderungen des Art. 9 Abs. 5 VO (EU) 609/2013, so dass sich aus Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 VO (EU) 609/2013 die Zulässigkeit der streitgegenständlichen Werbeaussagen nicht ergeben kann.
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f) Die Zulässigkeit der Werbung ergibt sich auch nicht aus Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 VO (EU) 609/2013. Gemäß Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 VO (EU) 609/2013 dürfen Lebensmittel, die vor dem 20.07.2016 in den Verkehr gebracht oder gekennzeichnet wurden, auch nach dem 20.07.2016 bis zur Erschöpfung der Bestände des betreffenden Lebensmittels vermarktet werden, wenn sie zwar nicht den Anforderungen der VO (EU) 609/2013, jedoch den Anforderungen der RL 1999/21/EG (sowie weiteren aufgeführten Richtlinien) entsprechen. Zum einen ist vorliegend nicht die Zulässigkeit des Abverkaufs bestimmter Produktbestände, sondern die Zulässigkeit zweier Werbeaussagen streitgegenständlich und des Weiteren beruft sich auch die Beklagte nur auf die vermeintliche Zulässigkeit des Abverkaufs der am 22.02.2019 vorhandenen Bestände und nicht darauf, dass noch Bestände von vor dem 20.07.2016 gekennzeichneten oder in den Verkehr gebrachten Produkten zum Abverkauf stehen oder zum Zeitpunkt der Verletzungshandlung noch standen.
20
g) Der Verstoß ist auch geeignet, die Interessen von Verbrauchern iSd § 3a UWG spürbar zu beeinträchtigen. Das Verbot der Bewerbung von Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke mit Eigenschaften zur Behandlung, Vorbeugung und Heilung von Krankheiten dient dem Schutz der Verbraucher im besonders sensiblen Bereich der gesundheitsbezogenen Werbung.
III.
1. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
2. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
3. Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO) und auch die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO liegen nicht vor.