Inhalt

OLG Nürnberg, Beschluss v. 06.02.2023 – 17 U 3476/21
Titel:

Unzulässige Umstellung von "großem" Schadensersatz auf "kleinen" Schadensersatz in der Berufungsinstanz (hier: Diesel-Fall)

Normenketten:
BGB § 445a, § 823 Abs. 2
ZPO § 148, § 520 Abs. 3, § 522 Abs. 1, Abs. 2
VO (EG) Nr. 715/2007 Art. 5 Abs. 2
RL 2007/46/EG Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1, Art. 46
AEUV Art. 267
Leitsätze:
1. Wurde die Beklagte erstinstanzlich antragsgemäß zur Zahlung "großen Schadensersatzes" Zug um Zug gegen Übereignung des Fahrzeugs verurteilt, erweist sich eine klägerseitige Berufung, mit welcher nunmehr "kleiner Schadensersatz" verfolgt wird (ohne Zug-um-Zug-Übereignung) als unzulässig. (Rn. 3 – 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Pressemitteilung des BGH vom 01.07.2022 kann nicht entnommen werden, dass der BGH nunmehr davon ausginge, dass im Hinblick auf die Schlussanträge des Generalanwalts in der Rechtssache C-100/21 in Deutschland keine Situation des „acte clair“ mehr vorläge. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, Nutzungsentschädigung, Gesamtlaufleistung, Minderwert, großer Schadensersatz, kleiner Schadensersatz, Zug um Zug, vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten, Generalanwalt, Schlussanträge
Vorinstanz:
LG Nürnberg-Fürth, Urteil vom 25.08.2021 – 16 O 1669/21
Fundstellen:
NJOZ 2023, 1273
LSK 2023, 2520
BeckRS 2023, 2520

Tenor

1. Der Antrag der Klagepartei auf Aussetzung des Verfahrens gemäß § 148 analog ZPO wird abgelehnt.
2. Die Berufung der Klagepartei gegen das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 25.08.2021, Aktenzeichen 16 O 1669/21, wird hinsichtlich des Berufungsantrags Ziffer 2 gemäß § 522 Abs. 1 Satz 3 ZPO verworfen. Im Übrigen wird die Berufung hinsichtlich der Kosten des außergerichtlichen Vorgehens gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen.
3. Die Klagepartei hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
4. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
5. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 23.400,24 € festgesetzt.

Gründe

1
1. Hinsichtlich der Darstellung des Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand im angefochtenen Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 25.08.2021 Bezug genommen.
2
2. Die Klagepartei beantragte vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth (16 O 1669/21), die Beklagte zu verurteilen, Zug um Zug gegen Herausgabe und Übereignung des streitgegenständlichen Fahrzeugs an die Klagepartei den Kaufpreis in Höhe von 86.622,00 € nebst Rechtshängigkeitszinsen unter Anrechnung einer Nutzungsentschädigung gemäß angegebener Formel zu erstatten, den Annahmeverzug festzustellen und die Kosten des außergerichtlichen Vorgehens in Höhe von 3.398,64 € nebst Rechtshängigkeitszinsen zu erstatten. Als Rechtsanwaltskosten für das außergerichtliche Vorgehen machte die Klagepartei eine 2,00 Geschäftsgebühr gemäß Nr.2300 VVG aus einem Gegenstandswert von 86.622,00 € zuzüglich Pauschale gemäß Nr.2300 VVG und Mehrwertsteuer geltend.
3
Mit Urteil vom 25.08.2021 verurteilte das Landgericht Nürnberg-Fürth die Beklagte in der Hauptsache zur Zahlung in Höhe von 41.050,45 € Zug um Zug gegen Herausgabe des streitgegenständlichen Fahrzeugs. Die Nutzungsentschädigung berechnete das Gericht ausgehend von dem Kilometerstand zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in Höhe von 157.829 km und ausgehend von einer Gesamtlaufleistung von 300.000 km. Antragsgemäß wurde Annahmeverzug festgestellt. Von den geltend gemachten vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten wurden bei Klageabweisung im Übrigen nur 1.693,90 €, entsprechend einer Geschäftsgebühr von 1,3 zzgl. Auslagenpauschale und Mehrwertsteuer, ausgehend von einem Geschäftswert in Höhe des zugesprochenen Betrags zugesprochen.
4
Mit Schriftsatz vom 18.10.2021 beantragte die Klagepartei im Wege der Berufung, das erstinstanzliche Urteil bezüglich der Verurteilung in der Hauptsache abzuändern. Statt der Herausgabe des Kaufpreises Zug um Zug gegen Übereignung des Fahrzeugs werde nunmehr die Zahlung eines in das Ermessen des Gerichts zu stellenden Schadensersatzes in Höhe von mindestens 25% des Kaufpreises, somit mindestens 21.655,50 € nebst Zinsen geltend gemacht; daneben die in erster Instanz nicht zugesprochenen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.173,74 € nebst Zinsen.
II.
5
Die Berufung ist gemäß § 522 Abs. 1 S. 2 ZPO als unzulässig zu verwerfen und im übrigen gemäß § 522 Abs. 2 S. 1 ZPO hinsichtlich der Geltendmachung außergerichtlicher Rechtsanwaltskosten als unbegründet zurückzuweisen.
6
1. Zur Begründung wird auf den vorausgegangenen Hinweis des Senats vom 22.12.2022 Bezug genommen. In ihrer Gegenerklärung nimmt die Klagepartei zum Hinweis auf die teilweise Unzulässigkeit der Berufung nicht Stellung. Die Ausführungen sind lediglich allgemeiner Natur zu den Voraussetzungen des Schadenersatzes in Form des Minderwerts. Eine Auseinandersetzung mit den Argumenten des Senats zur teilweisen Unzulässigkeit hinsichtlich der Voraussetzungen des § 520 Abs. 3 ZPO findet nicht statt.
7
2. Die Ausführungen in der Gegenerklärung zu den außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten geben zu einer Änderung keinen Anlass. Insoweit ist die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil nach einstimmiger Auffassung des Senats das Rechtsmittel offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
8
Die Klagepartei wiederholt in ihrer Stellungnahme zum gerichtlichen Hinweis im wesentlichen ihr Argument aus der Berufungsbegründung, wonach vorliegend aufgrund der tatsächlichen Schwierigkeiten der Angelegenheit, dem Bearbeitungsumfang und der wirtschaftlichen Bedeutung für die Mandantschaft eine Geschäftsgebühr über den Mittelwert von 1,3 hinaus angemessen sei. Neue Gesichtspunkte oder weiteren Sachvortrag zeigt die Klagepartei nicht auf. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf den erteilten Hinweis des Senats Bezug genommen.
III.
9
Des Senats sieht sich im vorliegenden Fall zu einer Aussetzung des Verfahrens gemäß § 148 ZPO analog nicht veranlasst. Es handelt sich auch nicht um eine Rechtssache, die die Zulassung der Revision rechtfertigen würde.
10
Weder die Pressemitteilung des BGH vom 01.07.2022 noch die Schlussanträge des Generalsanwalts Rantos im Verfahren C-100/21 vom 02.06.22 haben eine Bindungswirkung. Die im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens erforderliche Abwägung zwischen einerseits den Erfolgsaussichten des anderen Verfahrens (BGH NJW-RR 1992, 1149 (1150); OLG München BeckRS 2022, 23404; OLG Bamberg BeckRS 2022, 23415; Zöller/Greger Rn. 7; vgl. auch Skamel NJW 2015, 2460 (2463); BeckOK ZPO/Wendtland, 47. Ed. 1.12.2022, ZPO § 148 Rn. 13) und andererseits der mit der Aussetzung eintretenden Verfahrensverzögerung führt zu dem Ergebnis, dass eine Verfahrensaussetzung unterbleibt.
11
Der Senat versteht die Pressemitteilung vom 01.07.2022 lediglich dahingehend, dass der BGH nur vorsorglich einen Termin bestimmt hat, um sich ggf. zeitnah mit einer Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C-100/21 befassen zu können. Dem kann nach Auffassung des Senats aber jedenfalls nicht entnommen werden, dass der BGH nunmehr davon ausginge, dass im Hinblick auf die Schlussanträge des Generalanwalts in Deutschland keine Situation des „acte clair“ mehr vorläge.
12
Die Voraussetzungen für die Einordnung einer Norm als Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB ergeben sich allein aus deutschem Recht und sind dort aus der Gesamtsystematik des Deliktsrechts zu entwickeln. Der EuGH kann im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV nur die Zwecksetzung und Schutzrichtung einer unionsrechtlichen Norm bindend ermitteln. Für die Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts ist er nicht zuständig. (OLG München BeckRS 2022, 23404). Soweit Generalanwalt Rantos eine drittschützende Zielrichtung der Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 Art. 46 Rahmenrichtlinie hinsichtlich des Interesses des Erwerbers, kein Fahrzeug zu erwerben, dass mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, annimmt, steht dies der Rechtsprechung des EuGH (EuGH v. 4.10.2018 – C-668/16 –, juris Rz. 87) und des BGH zu den deutschen Umsetzungsvorschriften der EG-FGV (BGH v. 25.05.2020 – VI ZR 252/19, ZIP 2020, 1179) entgegen. Hiernach besteht der Zweck der Übereinstimmungsbescheinigung nur darin, das Zulassungsverfahren zu erleichtern. Einen Drittschutz der Vorschriften der Emissionsverordnung nimmt ebenso wie der BGH selbst Generalanwalt Rantos nicht an (vgl. Schlussanträge vom 02.06.2022 – C-100/21; ZIP 2022, 2309, Rz. 40f.; BGH v. 30.07.2020 – VI ZR 5/20; ZIP 2020, 1715, Rz. 12ff.).
13
Nicht einmal Generalanwalt Rantos behauptet, dass die unionsrechtlichen Normen konkret die wirtschaftliche Selbstbestimmung der Fahrzeugerwerber vor unerwünschten Kaufverträgen schützen. Gerade dies wäre aber erforderlich, um die deliktsrechtliche Haftung für Vermögensschäden nach deutschem Recht zu begründen. Auch der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung verpflichtet deutsche Gerichte nicht zur Durchbrechung der zentralen Wertungen des deutschen Haftungsrechts, insbesondere nicht zur Einführung einer unmittelbaren Herstellerhaftung für fahrlässig herbeigeführte unerwünschte Vertragsschlüsse (Riehm, ZIP 2022, 2309, 2320). Konsequenterweise hat auch der BGH nach den Schlussanträgen des Generalanwalt Rantos in seinem Urteil vom 13.06.2022, VIa ZR 680/21 an seiner diesbezüglichen Rechtsprechung festgehalten.
14
Darüber hinaus schlägt der Generalanwalt inhaltlich zwar vor, die erste und zweite Vorlagefrage dahingehend zu beantworten, dass Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der RL 2007/46 dahin auszulegen sind, dass sie die Interessen eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs schützen, insbesondere das Interesse, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gemäß Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 ausgestattet ist (IV B. 50 der Schlussanträge vom 02.06.2022). Hinsichtlich der Vorlagefragen 3-6 beschränkt sich der Antrag jedoch auf die Feststellung, dass ein Erwerber eines Fahrzeugs einen Ersatzanspruch gegen einen Hersteller hat, wenn dieses Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gemäß Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 ausgestattet ist. Es sei jedoch Sache der Mitgliedstaaten, die Regeln für die Art und Weise der Berechnung des Ersatzes des Schadens, der dem Erwerber entstanden ist, festzulegen, sofern dieser Ersatz in Anwendung des Effektivitätsgrundsatzes dem erlittenen Schaden angemessen ist (Nr. 65 der Schlussanträge vom 02.06.2022). Damit stünde es den Mitgliedstaaten, selbst wenn der Europäische Gerichtshof den Anträgen des Generalanwalts folgen sollte, weiterhin frei, einen Anspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrages wegen einer Verletzung des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts ganz zu verneinen (OLG München Beschluss vom 5.9.2022 – 28 U 1587/22, BeckRS 2022, 23404 Rn. 33, 34, beck-online).
15
Soweit Generalanwalt Rantos in Rz. 55 der Schlussanträge zur Verwirklichung des Schutzes der Bürger wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen im nationalen Schadensersatzrecht als erforderlich ansieht, so sieht diese das deutsche Recht bereits vor. Hiernach bestehen – zum Teil verschuldensunabhängige – wirksame und abschreckende kaufvertragliche Ansprüche gegen den Fahrzeugverkäufer innerhalb der 2-jährigen Gewährleistungsfrist. Der Fahrzeughersteller unterliegt bereits in diesem Zeitraum im Rahmen der Gewährleistung gemäß § 445 a BGB dem Rückgriff des Händlers (vgl. OLG München, Beschluss vom 01.07.2022 – 8 U 1671/22, juris).
16
Aufgrund der Eindeutigkeit der Rechtslage stellt sich diesbezüglich keine entscheidungserhebliche, der einheitlichen Auslegung bedürfende Frage des Unionsrechts, die (anderenfalls) ein Vorabentscheidungsersuchen im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV erforderlich mache (vgl. BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19, Rn. 72 ff., 77 bei juris). Andere Senate haben sich der Beurteilung des 6. Zivilsenats in der Folge angeschlossen (vgl. z.B. BGH, Beschluss vom 14. Februar 2022 – VIa ZR 204/21, juris; Beschluss vom 24. November 2021 – VII ZR 217/21, Rn. 1 ff bei juris).
17
Ohnehin hätte, da vorliegend bereits ein erstinstanzlich zusprechendes Urteil vorliegt, die Auffassung des Generalanwalts Rantos nur geringe Auswirkung, nämlich beschränkt auf den für die Berechnung der Geschäftsgebühr maßgeblichen Streitwert.
IV.
18
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
19
Die Feststellung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des angefochtenen Urteils erfolgte gemäß § 708 Nr. 10 ZPO.
20
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wurde in Anwendung der § 3 ZPO, §§ 47, 48 GKG bestimmt. Auch insoweit wird auf die Begründung des Hinweisbeschlusses vom 22.12.2022 Bezug genommen.