Inhalt

VGH München, Urteil v. 11.03.2020 – 15 N 19.1613
Titel:

Gesamtunwirksamkeit eines Bebauungsplans wegen Abwägungsmangels

Normenketten:
VwGO § 47
BauGB § 1 Abs. 7, § 2 Abs. 3, § 215 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Die Stärkung der Zentren durch Konzentration von Einzelhandelsnutzungen ist grundsätzlich ein Ziel, das den Ausschluss von Einzelhandelsbetrieben (bzw. Sortimentsbeschränkungen) in nicht zentralen Lagen städtebaulich rechtfertigen kann. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Plangeber ist verpflichtet, die durch die „Erstplanung“ vorgegebene rechtliche Situation der überplanten Grundstücke nicht zu ignorieren und das Interesse des Planbetroffenen an der Beibehaltung des bisherigen Zustands bei der Änderungsplanung in die Abwägung einzustellen. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die gesetzliche Forderung, einen Mangel des Bebauungsplanes gegenüber der Gemeinde geltend zu machen (§ 215 Abs. 1 S. 1 BauGB), erfüllt auch ein im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens übermittelter Schriftsatz, der die den Mangel begründenden Umstände ausreichend erläutert. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
4. Parallelurteil zu BayVGH 15 N 19.667 (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Normenkontrollverfahren, Bebauungsplan, Änderung, Abwägungsgebot, Ausschluss von Einzelhandelsbetrieben, Sortimentsbeschränkungen, Erhaltung einer funktionsfähigen Innenstadt, Abwägungsmangel, Gesamtunwirksamkeit, Fristablauf
Fundstelle:
BeckRS 2020, 9514

Tenor

I. Der am 15. Mai 2019 öffentlich bekannt gemachte Bebauungsplan „An der A. straße I, 4. Änderung“ der Antragsgegnerin ist unwirksam.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1
Die Antragstellerin wendet sich gegen den am 15. Mai 2019 öffentlich bekannt gemachten Bebauungsplan „An der A. straße I, 4. Änderung“ der Antragsgegnerin, weil die Änderung für das seit dem Jahr 1976 festgesetzte Gewerbegebiet folgende textliche Festsetzung enthält:
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„Gewerbegebiet (GE) nach § 8 BauNVO (Baunutzungsverordnung)
3
Grundsätzlich ausgeschlossen sind Einzelhandelsbetriebe und andere Handelsbetriebe mit den in der nachfolgenden Liste genannten innenstadtrelevanten Sortimenten:
4
Liste der innenstadtrelevanten Sortimente gem. Gutachten:
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Arzneimittel, medizinische und orthopädische Produkte
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Bekleidung
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Brillen, Optik
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Bücher, Zeitschriften, Medien
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Drogerie- und Parfümwaren
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Foto, Film
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Geschenkartikel, Wohnaccessoires, Dekorationsartikel, Kunst u.-handwerk
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Glas, Porzellan, Keramik, Haushaltswaren
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Handarbeits- und Bastelbedarf
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Schuhe und Lederwaren
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Spielwaren
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Sportartikel
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Telekommunikation
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Uhren und Schmuck
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Als Randsortimente sind die nachfolgend genannten Sortimente bis zu einer Verkaufsfläche von insgesamt max. 100 m² je Nutzungseinheit zulässig.
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Liste begrenzt zulässiger Randsortimente gem. Gutachten:
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Foto, Film, Geschenkartikel, Wohnaccessoires, Dekorationsartikel, Kunst und Handwerk, Glas, Porzellan, Keramik, Haushaltswaren, Telekommunikation“
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Die Antragstellerin ist Eigentümerin mehrerer im Plangebiet liegender Grundstücke und plant dort die Errichtung von Einzelhandelsbetrieben und ein Produktionsgebäude. Einen entsprechenden Bauantrag hatte das Landratsamt mit Bescheid vom 23. November 2015 aufgrund einer von der Antragsgegnerin beschlossenen Veränderungssperre abgelehnt. Über die hiergegen gerichtete Verpflichtungsklage hat das Verwaltungsgericht bisher nicht entschieden.
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Die Antragstellerin begründet ihre am 14. August 2019 bei Gericht eingegangene Normenkontrollklage dahin, der Bebauungsplan sei nicht ordnungsgemäß zustande gekommen. Bei dem im vereinfachten Verfahren (§ 13 BauGB) aufgestellten Bebauungsplan fehle es - weil sich hierzu in der Normaufstellungsakte nichts finden lasse - an einer ordnungsgemäßen Öffentlichkeitsbeteiligung (§ 3 Abs. 2 BauGB). Darin liege ein beachtlicher Verfahrensfehler (§ 214 Abs. 1 Nr. 2 BauGB), der zur Unwirksamkeit des Bebauungsplans führe. Zudem sei der Bebauungsplan unter Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz zustande gekommen, da die Tagesordnung zur Sitzung des Stadtrats, in der über den Bebauungsplan beschlossen worden sei, vor der Sitzung (am 16.4.2019) nicht ortsüblich bekannt gemacht worden sei (Art. 52 Abs. 1 GO). Auch dieser Verfahrensfehler führe zur Unwirksamkeit des Bebauungsplans. Der Bebauungsplan leide im Übrigen auch an materiellen Fehlern (beachtlichen Abwägungsfehlern gemäß § 214 Abs. 3 BauGB), weil - mangels entsprechender Dokumentation in der Normaufstellungsakte - nicht erkennbar sei, ob die Antragsgegnerin die betroffenen (öffentlichen und privaten) Belange ordnungsgemäß ermittelt und bewertet habe. Insbesondere habe die Antragsgegnerin nicht ermittelt, welche konkreten Nutzungen innerhalb des Plangebiets bisher zulässig gewesen seien und inwieweit sie diese nunmehr einschränke. In der Planbegründung werde lediglich „auf ein Einzelhandelsgutachten aus dem Jahr 2009 und eine 2017 aktualisierte Liste innenstadtrelevanter Einzelhandelssortimente verwiesen“. Eine Auseinandersetzung mit einem von der Antragstellerin vorgelegten Einzelhandelsgutachten aus dem Jahr 2015 habe demgegenüber erkennbar nicht stattgefunden. Damit habe die Antragsgegnerin - neben dem Eigentumsrecht (Art. 14 GG) - auch die zu berücksichtigenden Belange der Wirtschaft (§ 1 Abs. 6 Nr. 8a BauGB) nicht mit dem erforderlichen Gewicht in die Abwägung eingestellt.
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Die Antragstellerin beantragt,
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den Bebauungsplan „An der A. straße I, 4. Änderung“ der Antragsgegnerin für unwirksam zu erklären.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakte in diesem Verfahren sowie im Parallelverfahren 15 N 19.667 (betreffend die 3. Änderung des Bebauungsplans „An der A. straße I“) und die Normaufstellungsakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Der Normenkontrollantrag hat Erfolg.
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1. Der Normenkontrollantrag ist zulässig, insbesondere ist die Antragstellerin antragsbefugt, weil sie Eigentümerin mehrerer im Plangebiet gelegener Grundstücke ist und sich gegen die (u.a.) ihre Grundstücke betreffenden Festsetzungen des Bebauungsplans wendet, welche mit den dort normierten Nutzungsbeschränkungen in ihr Eigentumsrecht eingreifen und dieses dauerhaft belasten.
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2. Der Normenkontrollantrag ist auch begründet.
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a) Der streitgegenständliche Bebauungsplan ist unwirksam, weil er den Anforderungen des Abwägungsgebots nicht genügt.
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aa) Das Abwägungsgebot verpflichtet die Antragsgegnerin, die für die Planung bedeutsamen öffentlichen und privaten Belange (Abwägungsmaterial) zu ermitteln und zu bewerten (§ 2 Abs. 3 BauGB) sowie sie gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen (§ 1 Abs. 7 BauGB). Das Abwägungsgebot gilt gemäß § 1 Abs. 8 BauGB auch für die Änderung und Ergänzung von Bebauungsplänen. Gegen das rechtsstaatlich fundierte Gebot gerechter Abwägung wird verstoßen, wenn eine Abwägung überhaupt nicht stattfindet (Abwägungsausfall), in die Abwägung an Belangen nicht eingestellt wird, was nach Lage der Dinge in sie eingestellt werden muss (Abwägungsdefizit), wenn die Bedeutung dieser Belange verkannt wird (Abwägungsfehleinschätzung) oder wenn der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten Belangen in einer Weise vorgenommen wird, die zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht (Abwägungsdisproportionalität). Für die Abwägung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Beschlussfassung über den Bebauungsplan maßgebend (§ 214 Abs. 3 Satz 1 BauGB).
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bb) Die Antragsgegnerin hat - ausweislich der Begründung zur 4. Änderung des Bebauungsplans - beabsichtigt, „zur Erhaltung einer funktionsfähigen Innenstadt und zur Attraktivitätssteigerung des Gesamt-Einzelhandelsstandortes…, die Ansiedlung von Einzelhandelsbetrieben und anderen Handelsbetrieben mit innenstadtrelevanten Sortimenten“ im Geltungsbereich des Bebauungsplans „nicht zuzulassen“. Die Stärkung der Zentren durch Konzentration von Einzelhandelsnutzungen ist grundsätzlich ein Ziel, das den Ausschluss von Einzelhandelsbetrieben (bzw. Sortimentsbeschränkungen) in nicht zentralen Lagen städtebaulich rechtfertigen kann (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 11.10.2012 - 15 NE 12.1687 - juris Rn. 23 m.w.N.). Die Antragsgegnerin konnte dementsprechend diese Planungsabsicht grundsätzlich auch im Rahmen der „Feinsteuerung“ der in einem Gewerbegebiet allgemein zulässigen Art der baulichen Nutzung nach Maßgabe des § 1 Abs. 5 BauNVO regeln. Sie hat jedoch im Planaufstellungsverfahren die hierbei zu berücksichtigenden privaten (eigentumsbezogenen) Belange der Antragstellerin nicht hinreichend ermittelt und bewertet. Sie hat insbesondere zu keiner Zeit in ihre Erwägungen einbezogen, dass auf den Grundstücken der Antragstellerin nach Maßgabe der bisher geltenden und auf der Grundlage der BauNVO 1968 erlassenen Festsetzungen des Bebauungsplans ohne weiteres auch die Errichtung (großflächiger) Einzelhandelsbetriebe und sonstiger (großflächiger) Handelsbetriebe zulässig gewesen wäre (vgl. § 8 BauNVO 1968) und im bisher festgesetzten Gewerbegebiet nur Einkaufszentren und Verbrauchermärkte, die vorwiegend der übergemeindlichen Versorgung dienen und deshalb außerhalb von Kerngebieten nur in einem Sondergebiet festgesetzt werden dürfen (§ 11 Abs. 3 BauNVO 1968), ausgeschlossen gewesen wären (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO 1968). Der von der Antragsgegnerin für das Gewerbegebiet beabsichtigte streitgegenständliche Ausschluss von „Einzelhandelsbetrieben und anderen Handelsbetrieben mit innenstadtrelevanten Sortimenten“ bzw. die damit verbundenen Sortimentsbeschränkungen, welche erst auf der Grundlage der seit der BauNVO 1977 geltenden normativen Möglichkeit einer Feindifferenzierung der planungsrechtlichen Zulässigkeit bestimmter Arten von Nutzungen im Baugebiet in Betracht kommen (vgl. § 1 Abs. 5 BauNVO in der seit der BauNVO 1977 geltenden und seitdem im Wesentlichen unveränderten Fassung), unterstellt demgegenüber das bisher auf der Grundlage der BauNVO 1968 festgesetzte Gewerbegebiet der nun aktuell geltenden Fassung der BauNVO mit der Folge, dass - von den Sortimentsbeschränkungen abgesehen - nunmehr auch großflächige Einzelhandelsbetriebe und sonstige großflächige Handelsbetriebe - anders als bisher - im Gewerbegebiet nicht mehr zulässig sind (vgl. § 11 Abs. 3 Nr. 2 und 3 BauNVO). Diese erhebliche und die Antragstellerin belastende Beschränkung des Eigentumsrechts hat die Antragsgegnerin im Planaufstellungsverfahren - ausweislich der Normaufstellungsakten - nicht berücksichtigt und auch in ihre Abwägung der betroffenen öffentlichen und privaten Belange nicht einbezogen. Die der Abwägung im Stadtrat zugrunde liegende Beschlussvorlage befasst sich dementsprechend lediglich mit den von den Behörden und Trägern öffentlicher Belange im Planaufstellungsverfahren abgegebenen Stellungnahmen, nicht jedoch mit den von der Planung betroffenen privaten Belangen. Hierzu hätte jedoch - auch wenn die Antragstellerin während der Öffentlichkeitsbeteiligung keine Einwendungen erhoben hat - deshalb Anlass bestanden, weil die Antragsgegnerin verpflichtet gewesen ist, die durch die „Erstplanung“ vorgegebene rechtliche Situation der überplanten Grundstücke nicht zu ignorieren und das Interesse des Planbetroffenen an der Beibehaltung des bisherigen Zustands bei der Änderungsplanung in die Abwägung einzustellen (vgl. z.B. BVerwG, B.v. 18.5.2016 - 4 BN 7/16 - juris Rn. 4 m.w.N.). Dass sie dies unterlassen hat, begründet schon für sich allein einen beachtlichen Abwägungsmangel (§ 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB). Denn die Antragsgegnerin hat damit einen von der Planung berührten wesentlichen Belang, der ihr bekannt war oder hätte bekannt sein müssen, nicht zutreffend ermittelt und bewertet. Dieser Mangel ist auch offensichtlich und auf das Ergebnis des Verfahrens von Einfluss gewesen. Die Antragsgegnerin hätte bei hinreichender Berücksichtigung der - von ihr nur als geringfügig betroffen angesehenen - privaten Belange der Antragstellerin die streitgegenständlichen Festsetzungen des Bebauungsplans möglicherweise nicht oder mit anderem Inhalt beschlossen.
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Der genannte Ermittlungs- und Bewertungsmangel ist nicht durch Fristablauf unbeachtlich geworden (§ 215 Abs. 1 Satz 1 BauGB), weil die Antragstellerin mit der Stellung des Normenkontrollantrags diesen Mangel innerhalb eines Jahres seit Bekanntmachung der Satzung (rechtzeitig) schriftlich (auch) gegenüber der Antragsgegnerin unter Darlegung des die Verletzung begründenden Sachverhalts geltend gemacht hat. Die gesetzliche Forderung, den Mangel gegenüber der Gemeinde geltend zu machen, erfüllt auch der im Rahmen des Normenkontrollverfahrens der Antragsgegnerin übermittelte Schriftsatz der Antragstellerin, der die den Mangel begründenden Umstände ausreichend erläutert (vgl. z.B. BayVGH, U.v. 18.10.2016 - 15 N 15.2613 - juris Rn. 16).
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cc) Der Abwägungsmangel in Bezug auf die Festsetzungen zum Gewerbegebiet führt zur Gesamtunwirksamkeit des streitgegenständlichen Bebauungsplans, weil die Antragsgegnerin nach ihrem im Planungsverfahren zum Ausdruck gekommenen Willen den Bebauungsplan ohne den unwirksamen (wesentlichen) Teil betreffend das Gewerbegebiet insgesamt nicht beschlossen hätte.
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b) Nach alledem kommt es für die gerichtliche Entscheidung nicht mehr darauf an, ob der Bebauungsplan ebenfalls wegen der von der Antragstellerin gerügten Verfahrensfehler unwirksam ist.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V. mit §§ 708 ff. ZPO.
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4. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 132 Abs. 2 VwGO).
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5. Gemäß § 47 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO muss die Antragsgegnerin die Ziffer I. der Entscheidungsformel nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils in derselben Weise veröffentlichen, wie die Rechtsvorschrift bekanntzumachen wäre.