Inhalt

VGH München, Urteil v. 09.03.2020 – 12 B 19.795
Titel:

Sozialrechtlicher Herstellungsanspruch im Jugendhilferecht

Normenkette:
SGB VIII § 5, § 8, § 8a, § 27 Abs. 1, § 33, § 44 Abs. 1 S. 2 Nr. 1
Leitsätze:
1. Die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Jugendhilfeart unterliegt nur der eingeschränkten gerichthlichen Überprüfung, ob allgemein gültige fachliche Maßstäbe beachtet wurden, keine sachfremden Erwägungen eingeflossen und die Adressaten umfassend beteiligt worden sind. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Vollzeitpflege gemäß §§ 27, 33 SGB VIII bei einer vom Personensorgeberechtigten gewünschten Pflegeperson setzt nicht die vorherige Erteilung einer Erlaubnis zur Vollzeitpflege voraus. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch setzt voraus, dass ein Sozialleistungsträger eine ihm obliegende Pflicht insbesondere zur Beratung und Auskunft verletzt ist, diese Pflichtverletzung ursächlicher für den erlittenen Nachteil war und dass der Nachteil der durch eine zulässige, dem  Gesetzeszweck nicht widersprechende Amtshandlung beseitigt werden kann. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege, Geeignetheit der Pflegeperson, Vermittlung der Pflegeperson durch ein Jugendamt, Sozialrechtlicher Herstellungsanspruch, Jugendhilfe, Vollzeitpflege, Pflegefamilie, Unterbringung, beschränkte verwaltungsgerichtliche Überprüfung, Pflegeerlaubnis, Kindeswohl, Willkürverbot, sozialrechtlicher Herstellungsanspruch
Vorinstanz:
VG Augsburg, Entscheidung vom 28.11.2017 – Au 3 K 16.1239
Fundstelle:
BeckRS 2020, 6668

Tenor

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 28. November 2017 (Az. Au 3 K 16.1239), der Bescheid des Beklagten vom 30. März 2016 und der Widerspruchsbescheid vom 21. Juli 2016 werden aufgehoben.
Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin in der Zeit vom 15. März 2016 bis 9. Mai 2017 für das Kind Maria Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27 Abs. 1, 33 SGB VIII zu gewähren.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
IV. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Die Klägerin ist die allein personensorgeberechtigte Mutter des am 9. Dezember 2004 geborenen Kindes Maria. Sie begehrt mit ihrer Klage die Bewilligung von Hilfe zur Erziehung für die Unterbringung von Maria in der Pflegefamilie P. in der Zeit vom 15. März 2016 bis 9. Mai 2017.
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Zu Beginn des Schuljahrs 2015/2016 brachte die Klägerin Maria wegen häuslicher Schwierigkeiten im Internat des Annakollegs in Augsburg unter und beantragte am 15. September 2016 beim Jugendamt des Beklagten Jugendhilfeleistungen. Dieses erachtete die Internatsunterbringung als für Maria nicht geeignete Betreuungsform und empfahl die Unterbringung des Kindes in einer geeigneten Vollzeitpflegestelle. Die Klägerin lehnte dies zunächst ab und äußerte erstmals am 5. Februar 2016 gegenüber einer Mitarbeiterin des Beklagten den Wunsch auf Unterbringung ihrer Tochter in einer Pflegefamilie. Die Sozialdienstmitarbeiterin benannte daraufhin der Klägerin die Pflegefamilie P. im Landkreis O.
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Mit Schreiben vom 9. März 2016 bat die Klägerin um Beschleunigung des Verfahrens für Maria und um Erlass eines rechtsmittelfähigen Bescheids. Das Jugendamt habe sie eine Familie im Allgäu kontaktieren lassen, die schon zwei Pflegekinder aus Augsburg habe. Sie seien sich mit dieser Familie einig, dass sie sich den Platz dort für Maria vorstellen könnten. Aufgrund interner Konflikte im Jugendamt verweigere dieses jedoch, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen.
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Mitte Februar 2016 beendete die Klägerin die Internatsunterbringung und verbrachte ihre Tochter am 15. März 2016 ohne Zustimmung des Beklagten in die Familie P., in der das Kind bis heute lebt.
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Mit Schriftsatz vom 21. März 2016 führte die Klägerbevollmächtigte aus, dass Familie P. regelmäßig als Pflegefamilie belegt werde, von der Klägerin und ihrer Tochter als Pflegefamilie konkret gewünscht werde und bislang keinerlei Anlass geboten habe, an ihrer Kompetenz zu zweifeln. Um Erlass eines Bescheides wurde erneut gebeten.
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Mit weiterem Schriftsatz vom 29. März 2016 teilte die Klägerbevollmächtigte mit, dass die Klägerin den Weg der Selbstbeschaffung wählen möchte. Der Hilfebedarf sei dem Beklagten seit ausreichend langer Zeit bekannt. Angesichts der Dringlichkeit und der mangelnden Unterstützung durch das Jugendamt habe die Klägerin nunmehr beschlossen, dass Maria bei Familie P. verbleiben solle. Der Kontakt zu der Pflegefamilie sei auf Veranlassung der Behörde hergestellt worden. Die Klägerin übe im Übrigen ihr Wunsch- und Wahlrecht nach § 5 SGB VIII aus. Auch möchte die Klägerin ihrer Tochter keine weiteren „Probekontakte“ zumuten.
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Mit Bescheid vom 30. März 2016 lehnte der Beklagte den Antrag auf Hilfe zur Erziehung in Form der Unterbringung von Maria bei der Pflegefamilie P. und die Übernahme der dafür anfallenden Kosten ab. Nach Art. 35 Abs. 2 Nr. 2 AGSG sei eine Pflegeerlaubnis nach § 44 Abs. 1 SGB VIII zu versagen, wenn die Aufnahme des Pflegekindes nicht mit dem Wohl aller in der Familie einer Pflegeperson lebenden Kinder und Jugendlichen vereinbar oder eine Pflegeperson mit der Betreuung eines weiteren Kindes überfordert sei, wovon in der Regel auszugehen sei, wenn sich bereits drei Pflegekinder in der Pflegestelle befinden. Die Pflegefamilie betreue neben zwei eigenen Kindern im Alter von - damals - 14 und 12 Jahren bereits drei Pflegekinder im Alter von - damals - 11, 9 und 6 Jahren, wobei bei zwei Pflegekindern ein erhöhter Pflege- und Erziehungsbedarf bestehe. Auch das für die Pflegefamilie örtlich zuständige Jugendamt bestätige diesen erhöhten Bedarf und spreche sich gegen die Aufnahme eines weiteren Pflegekindes aus. Aufgrund der besonderen Umstände (erhöhter Pflege- und Erziehungsbedarf bei zwei bereits vorhandenen Pflegekindern wie auch der Tochter der Klägerin) sei nach Einschätzung der beteiligten Fachkräfte des Jugendamts des Beklagten wie auch der des Jugendamts des Pflegestellenortes ein Abweichen vom gesetzlichen Regelfall nicht möglich. Ein Verstoß gegen das Wunsch- und Wahlrecht der Klägerin sei darin nicht zu sehen.
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Einen Antrag der Pflegeeltern auf Erteilung einer Pflegeerlaubnis lehnte das hierfür zuständige Jugendamt des Landkreises O. mit Bescheid vom 18. Mai 2016 ab.
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Den gegen den Bescheid des Beklagten vom 30. März 2016 eingelegten Widerspruch wies die Regierung von Schwaben mit Widerspruchsbescheid vom 21. Juli 2016 zurück. Mit Schriftsatz vom 29. August 2016 ließ die Klägerin Klage zum Verwaltungsgericht Augsburg erheben.
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Aufgrund einer von der Pflegefamilie P. eingebrachten Petition an den Bayerischen Landtag beschloss der Ausschuss für Arbeit und Soziales, Jugend, Familie und Integration am 24. November 2016, die Eingabe der Eheleute P. der Staatsregierung zur Berücksichtigung zu überweisen.
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Mit Bescheid vom 24. Mai 2017 wurde der Pflegefamilie P. vom dortigen Jugendamt mit Wirkung vom 10. Mai 2017 die Erlaubnis zur Aufnahme der Tochter der Klägerin erteilt.
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Der Beklagte hob mit Bescheid vom 21. Juli 2017 den streitgegenständlichen Bescheid vom 30. März 2016 mit Wirkung vom 10. Mai 2017 auf und gewährte der Klägerin ab dem 10. Mai 2017 Hilfe zur Erziehung in Form der Unterbringung ihrer Tochter in der Pflegefamilie P.
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Mit Urteil vom 28. November 2017 (Au 3 K 16.1239) wies das Verwaltungsgericht Augsburg die Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 30. März 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung von Schwaben vom 21. Juli 2016 mit dem zuletzt beantragten Ziel der Verpflichtung des Beklagten, der Klägerin Hilfe zur Erziehung für ihre Tochter durch Unterbringung in der Pflegefamilie P. vom 15. März 2016 bis 9. Mai 2017 zu gewähren, ab. Die Unterbringung des Kindes im Haushalt der Eheleute P. sei mangels Pflegeerlaubnis bereits keine geeignete Hilfe im Sinne von § 27 Abs. 1 SGB VIII. Eine Pflegeerlaubnis wäre nach § 44 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB VIII allenfalls dann entbehrlich gewesen, wenn Maria im Rahmen von Hilfe zur Erziehung aufgrund einer Vermittlung durch das Jugendamt untergebracht worden wäre. Damit könne nur das Jugendamt desjenigen örtlichen Jugendhilfeträgers gemeint sein, der für die Entscheidung über die Pflegeerlaubnis zuständig sei. Selbst wenn eine Pflegeerlaubnis nicht erforderlich gewesen wäre, sei die vom Beklagten getroffene Prognose, dass die Vollzeitfamilienpflegestelle P. nicht die geeignete und notwendige Hilfe zur Erziehung sei, nicht zu beanstanden. Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagte den ihm zustehenden Spielraum bei der Beurteilung der Eignung der Pflegestelle nicht ordnungsgemäß ausgeübt hätte, lägen nicht vor. Insbesondere habe der Beklagte zu Recht auf die in Art. 35 Satz 2 Nr. 2 AGSG enthaltene gesetzgeberische Wertung abgestellt, die für eine Pflegeerlaubnis nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ausdrücklich einen Regelversagungsgrund für den Fall vorsieht, dass sich bereits drei Pflegekinder in der Pflegestelle befinden. Das Jugendamt des Beklagten habe die besonderen Umstände in der Pflegefamilie ausdrücklich berücksichtigt. An der Einschätzung ändere auch die Entscheidung des Ausschusses für Arbeit und Soziales, Jugend, Familie und Integration des Bayerischen Landtags nichts, durch die weder der Beklagte noch das Verwaltungsgericht gebunden seien. Dass den Pflegeeltern nunmehr aufgrund erneuten Antrags eine Pflegeerlaubnis in Bezug auf Maria erteilt worden sei, stelle die Rechtmäßigkeit der vom Beklagten getroffenen prognostischen Beurteilung für den vorhergehenden Zeitraum nicht in Frage. Auch das Wunsch- und Wahlrecht der Klägerin nach § 36 Abs. 1 Satz 4 SGB VIII sei nicht verletzt, da es sich um keine geeignete Pflegestelle im Sinne von § 27 Abs. 1 SGB VIII gehandelt habe.
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Mit der vom Senat zugelassenen Berufung (vgl. Beschluss vom 29. März 2019 - 12 ZB 18.527) verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
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Zur Begründung trägt sie vor, dass die Einschätzung der mangelnden Geeignetheit der gewünschten Pflegefamilie im Sinne von § 27 Abs. 1 SGB VIII nicht auf die dieser vom dortigen Jugendamt zunächst versagte Pflegeerlaubnis gestützt werden könne. Das erstinstanzliche Gericht habe weder berücksichtigt, dass der Beklagte die Eignung der Pflegefamilie ab dem 10. Mai 2017 ausdrücklich anerkannt habe, ohne dass die maßgeblichen Rahmenbedingungen ab diesem Zeitpunkt geändert worden wären, noch die negative Prognose des Beklagten anhand der konkreten Situation der Pflegefamilie hinterfragt. Es wäre auch zu berücksichtigen gewesen, dass der Kontakt zwischen der Klägerin und der Pflegefamilie ausschließlich auf Initiative des Beklagten zustande gekommen sei. Es habe keine ausdrückliche Prüfung der Eignung der Pflegefamilie in Bezug auf die Fähigkeit zur Erziehung der Tochter der Klägerin stattgefunden, sondern der Beklagte habe zur Begründung der Ablehnung ausschließlich auf die gesetzgeberische Regelvermutung des Art. 35 Satz 2 Nr. 2 Buchst. a AGSG verwiesen. Der Beklagte habe jedoch zu keinem Zeitpunkt den Versuch unternommen, die Tochter der Klägerin aus der Pflegefamilie herauszunehmen. Es sei offensichtlich, dass keinesfalls erst ab dem 10. Mai 2017 die Eignung der Pflegefamilie vorgelegen habe. Bis heute habe der Beklagte keine Ausführungen dazu gemacht, warum trotz positiver Feststellung der Geeignetheit der Pflegeperson ab dem 10. Mai 2017 bei gleicher Gesamtsituation im davor liegenden Zeitraum das Wohl des Kindes nicht ebenso gewährleistet gewesen sei. Der Beklagte habe nie eine konkrete negative Prognose für das Kindeswohl der Tochter der Klägerin in der Pflegefamilie gestellt, sondern ausschließlich festgestellt, dass die Voraussetzungen des Art. 35 Satz 2 Nr. 2 Buchst. a AGSG vorgelegen hätten. Eine persönliche Beteiligung der Klägerin und ihrer Tochter sowie der Pflegefamilie nach § 8 SGB VIII und § 36 SGB VIII habe nicht stattgefunden. Trotz der behaupteten negativen Einschätzung der Pflegefamilie habe das Jugendamt des Beklagten diese gleichwohl als geeignet für die Unterbringung eines Kindes über den Jahreswechsel 2015/2016 angesehen. Da es sich bei der Hilfe zur Erziehung um einen Dauerverwaltungsakt handele, habe für die Beklagte zu jedem Zeitpunkt der Unterbringung des Pflegekindes Anlass bestanden, die Bewilligung der Hilfe zu prüfen.
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Die Klägerin beantragt zuletzt,
unter Abänderung des Urteils vom 28. November 2017 den Beklagten zu verpflichten, seinen Bescheid vom 30. März 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. Juli 2016 aufzuheben und der Klägerin Hilfe zur Erziehung für die Zeit vom 15. März 2016 bis zum 9. Mai 2017 in Form der Unterbringung ihrer Tochter in der Pflegefamilie zu gewähren und das Pflegegeld nach § 39 Abs. 4 SGB VIII zu bewilligen.
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Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
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Der Beklagte hält an seiner Auffassung fest, dass bei der zu treffenden Prognoseentscheidung über die Notwendigkeit und Geeignetheit einer Hilfe nicht alle künftig möglichen Veränderungen oder Entwicklungen berücksichtigt werden könnten. Prognostisch sei aufgrund der Kenntnis der Situation in der Pflegefamilie als auch der des Jugendamtes des Landratsamtes Oberallgäu von einer Überforderung der Pflegefamilie im Sinne von Art. 35 AGSG zum Beurteilungszeitpunkt auszugehen gewesen. Eine Ausnahme von der Regelvermutung dieser Vorschrift sei bei pflichtgemäßer Ermessensausübung nicht möglich gewesen. Die Entscheidung des Jugendamtes des Landratsamtes Oberallgäu, der Pflegefamilie ab 10. Mai 2017 eine Pflegeerlaubnis zu erteilen, sei Anlass gewesen, die Prognoseentscheidung vom März 2016 zu überprüfen. Für eine frühere Überprüfung habe keine Veranlassung bzw. Berechtigung bestanden. § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII und auch Art. 35 AGSG seien nicht so zu verstehen, dass das Wohl des Kindes nur dann nicht gewährleistet sei, wenn die Voraussetzungen einer konkreten Kindeswohlgefährdung gegeben seien. Eine Pflichtverletzung, die zu einem sozialrechtlichen Wiederherstellungsanspruch führen könnte, liege nicht vor. Wegen des Beharrens der Klägerin seien weitere Unterbringungsmöglichkeiten nicht weiter verfolgt worden.
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Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung verzichtet.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Verfahrens wird auf die dem Senat vorliegenden Gerichts- und Behördenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Mit Einverständnis der Beteiligten konnte der Senat ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden (§§ 125 Abs. 1, 101 Abs. 2 VwGO).
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Die Berufung der Klägerin hat in vollem Umfang Erfolg. Die Klägerin hat auch für den streitgegenständlichen Zeitraum vom 15. März 2016 bis 9. Mai 2017 einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27 Abs. 1, 33 SGB VIII und auf die damit verbundenen Annexleistungen nach § 39 SGB VIII.
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1. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass im streitbefangenen Zeitraum für das Kind Maria ein Hilfebedarf vorlag und dieser grundsätzlich durch Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege nach §§ 27, 33 SGB VIII gedeckt werden konnte. Im Streit steht allein die Geeignetheit der konkret gewünschten Pflegefamilie.
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1.1 Die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart ist nach § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII im Zusammenwirken der Fachkräfte des Jugendamts zu treffen. Bei der Entscheidung über die Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfe handelt es sich um das Ergebnis eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung mehrerer Fachkräfte, welches nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, jedoch eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthält, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss. Daraus folgt, dass sich die verwaltungsgerichtliche Überprüfung darauf zu beschränken hat, ob allgemein gültige fachliche Maßstäbe beachtet wurden, ob keine sachfremden Erwägungen eingeflossen und die Adressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind (BayVGH, Beschluss v. 16.10.2013 - 12 C 13.1599 - juris; Beschluss v. 29.7.2013 - 12 C 13.1183 - juris). Dabei setzt die Gewährung von Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 33 SGB VIII die Eignung der Pflegeperson voraus, wobei bei der Beurteilung der Eignung maßgeblich die Versagungsgründe aus Art. 35 AGSG zu berücksichtigen sind und zwar auch dann, wenn für eine geleistete Betreuung keine Pflegeerlaubnis im Sinne von § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII erforderlich ist.
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1.2 Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts und des Beklagten kann die Einschätzung der mangelnden Geeignetheit der gewünschten Pflegefamilie im Sinne von § 27 Abs. 1 SGB VIII nicht schon auf die dieser zunächst versagte Pflegeerlaubnis gestützt werden. Insoweit gehen sowohl das Verwaltungsgericht als auch der Beklagte von unzutreffenden Prognosetatsachen aus. Denn die Gewährung einer Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege gemäß §§ 27, 33 SGB VIII bei einer von den Personensorgeberechtigten gewünschten Pflegeperson setzt gerade nicht die vorherige Erteilung einer Erlaubnis zur Vollzeitpflege gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII für diese Person voraus. Der in § 44 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB VIII verwendete Begriff der „Vermittlung“ durch das Jugendamt ist weit im Sinne einer Einschaltung des Jugendamts als fachlich verantwortlicher „Mittler“ zu verstehen (Nellissen in: Schlegel/Voelzke, juris PK-SGB VIII, 2. Aufl. 2018, § 33 SGB VIII Rn. 70). In einem solchen Fall bedarf es einer Erlaubnis nicht, da das Jugendamt im Rahmen der Entscheidung über die im Einzelfall geeignete und notwendige Hilfe zur Erziehung ohnehin die Eignung der gewünschten Pflegeperson zu überprüfen hat, was die Feststellung nach § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII, dass das Wohl des jeweiligen Kindes oder des Jugendlichen im Einzelfall in der Pflegestelle gewährleistet ist, mit einschließt (OVG Lüneburg, Beschluss v. 7.6.2017 - 4 LA 281/16 - juris, m.w.N.). Durch die Gewährung einer Hilfe zur Erziehung ist sichergestellt, dass das dann eingeschaltete Jugendamt Gefahren für das Kindeswohl bereits im Vorfeld zu begegnen weiß, sodass das Bedürfnis des Jugendamts nach Informationen im Rahmen der Aufsicht nach § 44 SGB VIII im Wesentlichen nur in den Fällen bestehen bleibt, in denen keine Hilfe zur Erziehung geleistet wird, und dass der Erlaubnisvorbehalt daher keine eigenständige Funktion mehr hat, wenn das Jugendamt das Kind oder den Jugendlichen auf Wunsch des Personensorgeberechtigten im Rahmen der Hilfe zur Erziehung in eine Pflegefamilie vermittelt (vgl. BT-Drs. 11/5948, S. 82). Dabei ist die Vermittlung nicht etwa als zeitlich „vorgeschaltet“ (vgl. Mörsberger in: Wiesner, SGB VIII, 4. Aufl., § 44 Rn. 13), sondern als Tatbestandsmerkmal ab dem Augenblick der Leistungsgewährung im Sinne von § 33 SGB VIII zu verstehen. In den Fällen, in denen das Pflegeverhältnis zunächst ohne Einschaltung des Jugendamts zustande gekommen ist, übernimmt das Jugendamt mit der Gewährung einer Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege die fachliche Verantwortung für die Geeignetheit der Pflegeperson in dem konkreten Pflegeverhältnis, sodass auch dann eine Vermittlung der Pflegeperson durch das Jugendamt vorliegt. Da das Jugendamt des Beklagten letztlich ab dem 10. Mai 2017 die begehrte Hilfe zur Erziehung gewährt hat, bedurfte es einer gesonderten Pflegeerlaubnis für die Pflegefamilie nicht.
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1.3 Nicht tragfähig ist auch die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Pflegeerlaubnis im Sinne des § 44 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB VIII sei nur dann entbehrlich, wenn die Unterbringung aufgrund einer Vermittlung durch das Jugendamt und zwar das für die Entscheidung über die Pflegeerlaubnis zuständige erfolgt. Diese Auffassung findet bereits im Gesetzeswortlaut keine Stütze (s. auch Mörsberger in: Wiesner, SGB VIII, a.a.O., § 44 Rn. 13: „… durch ein Jugendamt vermittelt wurden“). Bei Auseinanderfallen der Zuständigkeiten für die Hilfe zur Erziehung und der Erteilung einer Pflegeerlaubnis, wie hier, würde dies zudem zu einer Verdopplung der Entscheidung führen, die nicht dem Gesetzeszweck des § 44 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB VIII entspricht (vgl. hierzu JAmt, 2004, S. 173).
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2. Entgegen der Auffassung der Klägerbevollmächtigten hat das Verwaltungsgericht die begehrte Jugendhilfeleistung auch nicht allein aufgrund der fehlenden Pflegeerlaubnis für die Pflegefamilie als nicht geeignet erachtet, sondern darüber hinaus eine Prüfung der geeigneten und notwendigen Hilfe anhand der in Art. 35 AGSG geregelten Kriterien für die Versagung einer Pflegeerlaubnis nach § 44 Abs. 1 SGB VIII vorgenommen. Dies ist grundsätzlich nicht zu beanstanden. Es hat jedoch nicht hinreichend die mit der Bewilligung von Hilfe zur Erziehung in der Pflegefamilie ab dem 10. Mai 2017 verbundene Feststellung der Geeignetheit der Pflegestelle trotz unverändert gebliebener Umstände, insbesondere im Hinblick auf die Anzahl und den Betreuungsbedarf der zu betreuenden Kinder, die entscheidend die Einschätzung der Ungeeignetheit wegen Überforderung der Pflegemutter im Sinne des Art. 35 Satz 2 Nr. 2 AGSG durch den Beklagten bestimmten, berücksichtigt. Eine bloße Teilrevision der Prognosetatsachen ohne entsprechende rechtfertigende Umstände für eine solche nachträgliche Differenzierung kommt nicht in Betracht.
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2.1 Ob sich der Beklagte bei seiner zunächst getroffenen Entscheidung maßgeblich von der Versagung der Pflegeerlaubnis für die Pflegeeltern durch das hierfür zuständige Jugendamt bzw. später durch den Beschluss des Petitionsausschusses des Bayerischen Landtags vom 24. November 2016 hat leiten lassen, kann letztlich dahingestellt bleiben, da er jedenfalls mit Gewährung der Hilfe zur Erziehung ab dem 10. Mai 2017 die Geeignetheit der Pflegestelle festgestellt hat. Dass die nunmehr getroffene Entscheidung insoweit auf einer Veränderung der Gesamtsituation beruhen würde, ist aus den Akten nicht ersichtlich und wird auch vom Beklagten nicht behauptet. Er hat jedenfalls nicht dargetan, dass die Pflegefamilie vor dem 10. Mai 2017 trotz unveränderter Gesamtsituation mit der Betreuung der Pflegekinder überfordert gewesen wäre. Zu Recht weist deshalb die Klägerbevollmächtigte darauf hin, dass sich im Nachhinein die Prognose als falsch erwiesen hat. Behördliche Bedenken hinsichtlich der Eignung einer Pflegeperson müssen substantiiert und mit konkreten Ereignissen belegt werden, um tragfähig zu sein (BayVGH, Beschluss v. 16.10.2013 - 12 C 13.1599 - juris; Beschluss v. 29.7.2013 - 12 C 13.1183 - juris). Denn das Jugendamt trägt im Hinblick darauf, ob das Wohl des Kindes in der Pflegestelle nicht gewährleistet ist, grundsätzlich die Darlegungs- und Beweislast (VG München, Urteil v. 11.12.2013 - M 18 K 12.5685 - juris m.w.N.). Der Beklagte hat indes nicht dargetan, warum trotz positiver Feststellung der Geeignetheit der Pflegeperson ab dem 10. Mai 2017 bei gleicher Gesamtsituation im davor liegenden Zeitraum das Wohl des Kindes nicht ebenso gewährleistet war. Offensichtlich hat der Beklagte selbst das Kind in der Pflegefamilie gut aufgehoben gewusst, andernfalls er geeignete Alternativen hätte aufzeigen müssen. Entgegen der Auffassung des Beklagten hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 29. März 2019 an keiner Stelle die Eröffnung eines Verfahrens bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung gemäß § 8a SGB VIII gefordert. Vielmehr ist der hier zu beachtende Maßstab, die Geeignetheit einer Pflegeperson für die Gewährung einer Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege zu beurteilen. Zu Recht verweist die Klägerbevollmächtigte auf die Unvereinbarkeit zwischen dem Kindeswohl und dem Verbleib in einer für ungeeignet erachteten Pflegestelle. Mit dem Kindeswohl wäre es auch nicht vereinbar, bei vorliegendem Hilfebedarf erst nach Zeitablauf und einer Erprobungs- bzw. „Bewährungs“-phase ab diesem Zeitpunkt die Geeignetheit einer Pflegeperson festzustellen. Auf die den Pflegeeltern ebenfalls ab dem 10. Mai 2017 erteilte Pflegeerlaubnis durch das hierfür zuständige Jugendamt kommt es nicht an, da eine solche, wie ausgeführt, nicht erforderlich war.
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2.2 Auch wenn der Senat grundsätzlich keine Entscheidung über die geeignete und notwendige Hilfeart treffen kann, ist bei der vorliegenden Fallkonstellation des Vorliegens aller Tatbestandsvoraussetzungen nach § 27 SGB VIII ausnahmsweise der Beklagte zur Gewährung der konkret beantragten Jugendhilfeleistung zu verpflichten. Der Beklagte kann nicht einerseits rückwirkend zum 10. Mai 2017 Hilfe zur Erziehung gewähren und andererseits für den davor liegenden Zeitraum versagen, ohne dass sich der zugrunde liegende Sachverhalt insoweit wesentlich anders gestalten würde. Ein solches Vorgehen verstößt nicht nur gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens (venire contra factum proprium); es verletzt zugleich auch das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG), denn sachlich rechtfertigende Gründe für eine entsprechende Differenzierung sind insoweit nicht ersichtlich. Eine bloße Teilrevision kommt deshalb nicht in Betracht.
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3. Ungeachtet dessen lässt sich ein Anspruch auf die begehrte Leistung, insbesondere auf die Zahlung des Pflegegeldes als Annexleistung nach § 39 SGB VIII, auch aus den Grundsätzen über den in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts entwickelten sozialrechtlichen Herstellungsanspruch begründen. Dieser ist darauf gerichtet, in Fällen von Pflichtverletzungen eines Sozialleistungsträgers den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zuständige Sozialleistungsträger die ihm aus dem Sozialrechtsverhältnis erwachsenen Pflichten ordnungsgemäß erfüllt hätte (BGS, Urteil v. 12.10.1979 - 12 RK 47/77 - BSGE 49, 76, 79). Diese für das Sozialrecht entwickelten Grundsätze sind nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts jedenfalls dort anwendbar, wo Pflichtverletzungen in einem sozialrechtlich geprägten Verwaltungsverfahren durch Naturalrestitution auszugleichen sind und keine Spezialregelungen bestehen (vgl. z.B. BVerwG, Urteil v. 30.6.2011 - 3 C 36/10 -, BVerwGE 140, 103 bis 113).
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3.1 Das Vorliegen eines sozialrechtlichen Verhältnisses ist vorliegend offenkundig und auch die weiteren Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sind gegeben.
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3.1.1 Dieser setzt voraus, dass ein Sozialleistungsträger eine ihm aufgrund Gesetzes oder eines Sozialrechtsverhältnisses obliegende Pflicht, insbesondere zur Beratung und Auskunft (§§ 14, 15 Erstes Buch Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - SGB I) verletzt hat. Ferner ist erforderlich, dass zwischen der Verpflichtung des Sozialleistungsträgers und dem Nachteil des Betroffenen ein ursächlicher Zusammenhang besteht und schließlich muss der durch das pflichtwidrige Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden können. Eine Korrektur durch den Sozialrechtlichen Herstellungsanspruch darf dabei dem Gesetzeszweck nicht widersprechen (vgl. BayVGH v. 24.9.2012 - 12 ZB 11.712 - juris; v. 24.9.2008, BayVBl 2009, 212 ff. m.w.N.).
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3.1.2 Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben.
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Zu Recht weist die Klägerbevollmächtigte darauf hin, dass die Kontaktaufnahme zur Pflegefamilie durch den Beklagten, der der Klägerin die Pflegefamilie benannt hat, selbst initiiert wurde und nur aufgrund dieses Kennenlernens die Unterbringung des Kindes in der dortigen Pflegefamilie erfolgt ist. Deshalb verfängt der Einwand des Beklagten hinsichtlich der selbst beschafften Maßnahme nicht. Wenn der Beklagte meint, aufgrund der nunmehr im Berufungsverfahren erhobenen Vorwürfe gegen die Pflegefamilie, deren vermeintliche Ungeeignetheit in der Vergangenheit begründen zu können, übersieht er, dass er sich dadurch nicht der Verantwortung für die Einleitung der Unterbringung des Kindes entziehen kann. Darüber hinaus legt er auch nach wie vor nicht dar, in wieweit diese „Mängel“ ab Gewährung der Hilfe zur Erziehung bei weitest gleichgebliebener Sachlage entfallen wären.
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Dass zugleich die erste Kontaktaufnahme zwischen dem Kind und der Pflegefamilie positiv verlaufen ist und die Klägerin deshalb und auch mangels konkreter Alternativen das Kind dort belassen hat, kann ihr nicht angelastet werden. Wenn der Beklagte nunmehr meint, dass eine Unterbringung dort lediglich für kurze Zeit angedacht gewesen sei, dann muss er sich entgegen halten lassen, dies nicht von Anbeginn in dieser Deutlichkeit kommuniziert und der Klägerin in der Folge auch keine andere Möglichkeit der Unterbringung, nunmehr auf Dauer, aufgezeigt zu haben. Der Beklagte hat es versäumt, im Hinblick auf den unbestritten vorliegenden Hilfebedarf zeitnah eine geeignete Alternative aufzuzeigen, auch wenn sich die Klägerin dahingehend geäußert hat, das Kind in der Pflegestelle belassen zu wollen. Der Beklagte verkennt seine Verantwortung, wenn er trotz Initiierens der Unterbringung diese nunmehr als zwischenzeitlich eigenmächtig von der Klägerin vorgenommen erachtet und der Klägerin ihr Beharren darauf vorwirft. Der durch das pflichtwidrige Verwaltungshandeln bei der Klägerin eingetretene Nachteil kann durch die rückwirkende Gewährung von Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 33 SGB VIII beseitigt werden.
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4. Da sich nach alledem der Bescheid des Beklagten vom 30. März 2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21. Juli 2016 als rechtswidrig erweist, ist er aufzuheben und der Beklagte zu verpflichten, der Klägerin für die Zeit vom 15. März 2016 bis zum 9. Mai 2017 Hilfe zur Erziehung in Form der Unterbringung ihrer Tochter in der Pflegefamilie Prinz und der damit verbundenen Annexleistung nach § 39 Abs. 4 SGB VIII zu gewähren.
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5. Der Beklagte trägt nach § 152 Abs. 1 VwGO die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen. Gerichtskosten werden nach § 188 Satz 2, 1 VwGO nicht erhoben. Die Entscheidung ist nach § 167 Abs. 2 VwGO nur hinsichtlich der Kosten für vorläufig vollstreckbar zu erklären.
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Gründe, nach § 132 Abs. 2 VwGO die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.