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SG Würzburg, Gerichtsbescheid v. 08.12.2020 – S 4 KR 219/20
Titel:

Versorgung, Bescheid, Widerspruchsbescheid, Krankheit, Arzneimittel, Krankenbehandlung, Widerspruch, Gerichtsbescheid, Attest, Anspruch, Verschlimmerung, Gewichtsreduktion, Adipositas, Klage, Anspruch auf Versorgung, Verordnung von Arzneimitteln, kraft Gesetzes

Schlagworte:
Versorgung, Bescheid, Widerspruchsbescheid, Krankheit, Arzneimittel, Krankenbehandlung, Widerspruch, Gerichtsbescheid, Attest, Anspruch, Verschlimmerung, Gewichtsreduktion, Adipositas, Klage, Anspruch auf Versorgung, Verordnung von Arzneimitteln, kraft Gesetzes
Rechtsmittelinstanzen:
LSG München, Urteil vom 12.10.2021 – L 20 KR 3/21
BSG Kassel, Beschluss vom 04.08.2022 – B 1 KR 98/21 B
Fundstelle:
BeckRS 2020, 59298

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1
Die Klägerin begehrt die Versorgung mit dem Arzneimittel Saxenda (Wirkstoff Liraglutid) durch die Beklagte.
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Die Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert.
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Am 25.09.2019 beantragte die Klägerin bei der Beklagten unter Vorlage eines Privatrezeptes von Frau Dr. K vom 24.09.2019, mit dem „Saxenda 6mg/ml Pen 5x3 ml ILO“ verordnet wurde, die Versorgung mit dem Arzneimittel Saxenda. Ihr Orthopäde habe ihr die sofortige Gewichtsabnahme angeraten.
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Mit Bescheid vom 27.09.2019 lehnte die Beklagte unter Hinweis darauf, dass es sich bei Saxenda um ein Lifestyle-Arzeimittel handelt und diese Arzneimittel grundsätzlich keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung sind, die Versorgung ab.
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Mit Schreiben vom 14.10.2019 legte die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten Widerspruch gegen den Bescheid der Beklagten vom 27.09.2019 ein. Sie habe, aufgrund orthopädischer Leiden, seit Längerem versucht, ihr Gewicht zu reduzieren; leider erfolglos. Die Klägerin sei mehrfach an der Wirbelsäule operiert worden. Das hohe Gewicht der Klägerin wirke sich ungünstig auf die Wirbelsäule aus. Eine Gewichtsreduktion sei nötig, um Folgeschäden zu vermeiden. Die Klägerin legte ein fachärztliches Attest der Ärztin Dr. K vom 15.11.2019 vor, wonach die Klägerin an einer Adipositas WHO Grad III leidet. Darin gibt Dr. K an, dass aufgrund der schwerwiegenden orthopädischen Erkrankungen und Beschwerden eine dauerhafte Gewichtsreduktion medizinisch dringend notwendig ist. Aus endokrinologischer Sicht wird ein Therapieversuch mit Saxenda dringend empfohlen.
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In einer durch die Beklagte veranlassten gutachterlichen Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Bayern (MDK) vom 14.02.2020 kommt der MDK zu dem Ergebnis, dass eine Gewichtsreduktion bei einer Adipositas mit Krankheitswert (aktueller BMI 39,8 kg/m² bei Gewicht 108,4 kg) dringend empfehlenswert sei, eine Verordnung des Arzneimittels Saxenda zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung aber ausgeschlossen sei. Im Hinblick auf die Anwendung von Liraglutid bei Adipositas führt der MDK aus: „In der aktuellen S3 Leitlinie Interdisziplinäre Leitlinie der Qualität S3 zur „Prävention und Therapie der Adipositas“ AWMF-Register Nr. 050/001 Version 2.0 (April 2014) ist der Stellenwert von Liraglutid nur in Verbindung mit einem Diabetes mellitus zu entnehmen (Empfehlung 0) Lo 1b, auch dieser niedrigen Empfehlungsstufe konnte sich die DEGAM nicht anschließen und formulierte folgendes Sondervotum: „Für GLP1-Analoga besteht eine unzureichende Studienlage bezüglich klinischer Endpunkte. Zusätzlich besteht möglicherweise ein erhöhtes Risiko der Auslösung einer Pankreatitis und/oder von Pankreastumoren, sodass diese Substanzgruppe nach Auffassung der DEGAM nicht empfohlen werden kann.“
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Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20.04.2020 zurück.
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Hiergegen richtet sich die am 18.05.2020 beim Sozialgericht Würzburg erhobene Klage.
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Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 27.09.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.04.2020 zu verurteilen, die Klägerin mit dem Präparat Saxenda zu versorgen.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

I.
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Das Gericht konnte über den Rechtsstreit gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Nach ausführlichem richterlichen Hinweis vom 22.09.2020 wurden die Beteiligten mit gerichtlichem Schreiben vom 27.10.2020 auf den beabsichtigten Erlass eines Gerichtsbescheides hingewiesen und hatten bis zum 30.11.2020 Gelegenheit, sich zu äußern. Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 09.11.2020 ausdrücklich ihr Einverständnis erklärt. Die Klägerin hat sich nicht geäußert.
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Die form- und fristgerecht (§§ 90, 92, 87 Abs. 1 Satz 1 SGG) zum sachlich und örtlich zuständigen Sozialgericht Würzburg (§§ 51 Abs. 1, 57 Abs. 1 Satz 1 SGG) erhobene Klage ist zulässig.
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Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 27.09.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.04.2020 ist rechtlich nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Versorgung mit dem Arzneimittel Saxenda. Zur Begründung nimmt das Gericht insbesondere auf den Widerspruchsbescheid vom 20.04.2020 ausdrücklich Bezug und schließt sich diesem in vollem Umfang an (§ 136 Abs. 3 SGG).
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Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass die Versorgung der Klägerin mit dem Arzneimittel Saxenda (Wirkstoff Liraglutid) nach §34 Abs. 1 Sätze 7 und 8 SGB V i.V. m. Anlage II der Arzneimittel-Richtlinie ausgeschlossen ist.
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Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Nach §27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V umfasst die Krankenbehandlung die Versorgung mit Arzneimitteln. Gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach §34 SGB V oder durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V ausgeschlossen sind. Nach § 34 Abs. 1 Satz 7 SGB V sind von der Versorgung Arzneimittel ausgeschlossen, bei deren Anwendung eine Erhöhung der Lebensqualität im Vordergrund steht. § 34 Abs. 1 Satz 8 SGB V bestimmt, dass insbesondere Arzneimittel ausgeschlossen sind, die überwiegend zur Behandlung der erektilen Dysfunktion, der Anreizung sowie Steigerung der sexuellen Potenz, zur Raucherentwöhnung, zur Abmagerung oder zur Zügelung des Appetits, zur Regulierung des Körpergewichts oder zur Verbesserung des Haarwuchses dienen.
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Nach der im Internet verfügbaren Gebrauchsinformation für Saxenda (Stand 06/2017) ist Saxenda ein rezeptpflichtiges Arzneimittel zur Gewichtsabnahme, das den Wirkstoff Liraglutid enthält. Weitere Anwendungsgebiete werden nicht genannt. In der Gebrauchsinformation heißt es: „Saxenda wirkt auf Rezeptoren im Gehirn, die den Appetit regulieren, und löst so bei Ihnen ein gesteigertes Sättigungsgefühl und abgeschwächtes Hungergefühl aus. Das kann Ihnen helfen, weniger zu essen und Ihr Körpergewicht zu reduzieren.“ Bereits danach ergibt sich, dass es sich bei Saxenda um ein Arzneimittel handelt, das überwiegend zur Regulierung des Körpergewichts dient und somit nach § 34 Abs. 1 Satz 8 SGB V von der Versorgung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen ist.
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Dieser Versorgungsausschluss tritt kraft Gesetzes ein. Trotz des dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) in § 34 Abs. 1 Satz 9 SGB V erteilten Auftrages zur Regelung des Näheren wirkt die Aufnahme der bereits in den Sätzen 7 und 8 bezeichneten Arzneimittel in die Arzneimittel-Richtlinie nicht konstitutiv, sondern nur deklaratorisch.
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Entgegen der Ansicht des Prozessbevollmächtigten der Klägerin ist es im Rahmen des §34 Abs. 1 Satz 7 und 8 SGB V nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 06.03.2012 - B 1 KR 10/11 R) nicht möglich, nach der Ursache der Erkrankung mit der Folge zu differenzieren, dass der Leistungsausschluss bei bestimmten Erkrankungen nicht greift. Das Bundessozialgericht führt dazu aus, dass der Anwendungsbereich dieses Leistungsausschlusses nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Regelungssystem und -zweck nicht auf Fälle teleologisch reduziert werden kann, in denen Arzneimittel nicht erforderlich sind (vgl. zitiertes BSG Urteil sowie Urteil vom 18.07.2006 - B 1 KR 10/05 R). Die gesetzliche Regelung will vielmehr den Ausschluss der aufgeführten Arzneimittel aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung umfassend sicherstellen. Ausnahmemöglichkeiten sind deshalb nicht vorgesehen (Axer in Becker/Kingreen, SGB V, Gesetzliche Krankenversicherung, 6. Auflage 2018, § 34 Rn. 15). Entscheidend für die Beurteilung eines Leistungsausschlusses ist die überwiegende Zweckbestimmung des Arzneimittels (Axer in Becker/Kingreen, SGB V, Gesetzliche Krankenversicherung, 6. Auflage 2018, § 34 Rn. 14) - vorliegend also die Tatsache, dass es sich bei Saxenda um ein Arzneimittel zur Regulierung des Körpergewichts handelt; die individuellen gesundheitlichen Verhältnisse der Klägerin können insofern keine Berücksichtigung finden.
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Auch die Arzneimittel-Richtlinie enthält einen expliziten Ausschluss von Saxenda. Die Richtlinie des G-BA über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Arzneimittel-Richtlinie) wiederholt in ihrem II. Teil unter Buchst. F in § 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 weitgehend den Text des §34 Abs. 1 Satz 7 und 8 SGB V (AM-RL i.d.F. vom 18.12.2008/22.1.2009, BAnz Nr. 49 <Beilage> vom 31.3.2009, zuletzt geändert am 16.04.2020 BAnz AT 26.06.2020 B2). Nach § 14 Abs. 3 AM-RL sind die nach Abs. 2 ausgeschlossenen Fertigarzneimittel in einer Übersicht als Anlage II der AM-RL zusammengestellt. In dieser Übersicht ist das Arzneimittel Saxenda mit dem Wirkstoff Liraglutid aufgeführt. Die Richtlinien des G-BA sind nach übereinstimmender Auffassung aller damit befassten Senate des Bundessozialgerichts untergesetzliche Normen (vgl. Urteil vom 12.12.2012 - B 6 KA 50/11 R, m.w.N.) und damit grundsätzlich verbindlich für Krankenkassen und Versicherte.
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Schließlich ergibt sich auch aus § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V kein Sachleistungsanspruch der Klägerin auf das Arzneimittel Saxenda. Nach dieser Vorschrift kann der Vertragsarzt Arzneimittel, die auf Grund der Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V von der Versorgung ausgeschlossen sind, ausnahmsweise in medizinisch begründeten Einzelfällen mit Begründung verordnen. Diese Regelung lässt dem Vertragsarzt die Möglichkeit, im Einzelfall auch solche Arzneimittel ausnahmsweise zu verordnen, die durch die Arzneimittel-Richtlinie von der vertragsärztlichen Versorgung ausgeschlossen sind. Diese Möglichkeit ausnahmsweiser Verordnung hat der Vertragsarzt aber nicht in den Fällen, in denen der Versorgungsausschluss in der Arzneimittel-Richtlinie einer gesetzlichen Vorgabe nach § 34 Abs. 1 Satz 8 SGB V (hier: Regulierung des Körpergewichts) folgt. Insoweit ist die Versorgung schon unmittelbar durch Gesetz, nicht erst aufgrund der Arzneimittel-Richtlinie, wie von § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V vorausgesetzt, ausgeschlossen. Die Arzneimittel-Richtlinie wiederholt nur - deklaratorisch (siehe oben) - den gesetzlichen Ausschluss (vgl. Flint in Hauck/Noftz, SGB V, Stand Erg.-Lfg. 7/12, § 31 Rn. 87).
II.
22
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.