Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 20.02.2019 – W 3 K 18.31910
Titel:

Flüchtlingseigenschaft wegen Gefahr der Zwangsheirat

Normenketten:
RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4, Art. 10 Abs. 1d
AsylG § 3, § 3a Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4, § 3c Nr. 3
Leitsätze:
1. Eine Zwangsverheiratung mit dem Vergewaltiger ist eine Verfolgungshandlung iSd § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der eritreische Staat ist nicht willens und in der Lage, Frauen, die von ihrer Familie bedroht oder gegen ihren Willen zwangsverheiratet werden, Schutz zu bieten.  (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Eritrea, Vergewaltigung, Zwangsheirat, geschlechtsspezifische Verfolgung, nichtstaatliche Akteure, kein staatlicher Schutz zu erlangen, Flüchtlingseigenschaft, sexualisierte Gewalt, Verfolgungshandlung, Zwangsverheiratung
Fundstelle:
BeckRS 2019, 5158

Tenor

I. Ziffer 1 und Ziffern 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28. August 2018 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

I.
1
Die Klägerin ist nach eigenen Angaben eritreische Staatsangehörige. Sie reiste zusammen mit ihrem Sohn (Kläger im abgetrennten Verfahren W 3 K 19.30352) am 15. März 2018 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 24. Mai 2018 einen Asylantrag. Wegen ihrer Angaben zu ihren Asylgründen wird auf das Anhörungsprotokoll Bezug genommen.
2
Mit Bescheid vom 28. August 2018 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) den Antrag auf Asylanerkennung ab. Die Flüchtlingseigenschaft und der subsidiäre Schutzstatus wurden nicht zuerkannt. Außerdem wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen und die Klägerin unter Androhung der Abschiebung nach Eritrea aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. In Ziffer 6 wurde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot befristet. Auf die Begründung des Bescheides wird Bezug genommen.
II.
3
Mit ihrer am 10. September 2018 erhobenen Klage beantragte die Klägerin, den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28. August 2018 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise, der Klägerin subsidiären Schutz zuzuerkennen,
weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Absatz 7 AufenthG bestehen.
4
Die Beklagte beantragte,
die Klage abzuweisen.
(Mit Beschluss vom 5. Dezember 2018 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.)
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In der mündlichen Verhandlung wurde die Klägerin zu ihren persönlichen Verhältnissen und zu ihren Asylgründen informatorisch befragt. Wegen ihrer Angaben wird auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung und wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

6
Die zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Bescheid des Bundesamtes vom 28. August 2018 ist - soweit er dem entgegensteht - rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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Gemäß § 3 Abs. 4 des Asylgesetzes (AsylG) i.d.F. der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798), zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Juli 2017 (BGBl I S. 2780) wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Abs. 1 ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling i.S. des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl 1953, II, Seite 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Als Verfolgung i.S. des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, BGBl 1952 II, S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Als Verfolgung in diesem Sinne können u.a. gelten die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden (§ 3a Abs. 2 AsylG).
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§ 3b AsylG beschreibt in Übereinstimmung mit Art. 10 Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) die Verfolgungsgründe. Insbesondere kann nach § 3b Abs. 4 AsylG (Art. 10 Absatz 1d RL 2011/95/EU) eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn die Bedrohung allein an das Geschlecht anknüpft.
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Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und in den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
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Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es gemäß § 3b Abs. 2 AsylG unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
11
Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung in diesem Sinn ausgehen vom Staat (Nr. 1) bzw. von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren (siehe Art. 6 RL 2011/95/EU). Nichtstaatliche Akteure im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG können Organisationen ohne Gebietsgewalt, oder auch Einzelpersonen sein, von denen eine Verfolgung ausgeht, sofern erwiesenermaßen weder der Staat noch Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen, noch internationale Organisationen in der Lage oder willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten. Nach § 3e AsylG ist aber eine Verfolgung in diesem Sinn ausgeschlossen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht.
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Ausgehend davon, ist es Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Heimatland vielfach befinden, genügt dafür in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
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Gemessen an diesen Maßstäben hat die Klägerin zur Überzeugung des Gerichts Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, da sie glaubhaft gemacht hat, dass sie in ihrem Herkunftsland der Gefahr der geschlechtsspezifischen Verfolgung ausgesetzt war.
14
Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft und widerspruchsfrei vorgetragen, dass sie in ihrem Heimatdorf vergewaltigt wurde, und dass ihre Familie sie zwingen wollte, den Vergewaltiger zu heiraten. Dieser Zwangsverheiratung hat sich die Klägerin durch ihre Flucht aus Eritrea entzogen. Bei einer Zwangsverheiratung mit dem Vergewaltiger handelt es sich um eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Eine Zwangsverheiratung beeinträchtigt die betroffene Frau in ihrem Recht auf individuelle und selbstbestimmte Lebensführung und in ihrem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Die mit der Zwangsverheiratung verbundene Zwangslage liefert die Frau dauerhaft und ohne Aussicht auf Hilfe als reines Objekt der Befriedigung oder zu Fortpflanzungszwecken den sexuellen Trieben des auserwählten Ehemannes aus. Damit handelt es sich bei den mit einer aufgenötigten Eheschließung einher gehenden Rechtsverletzungen um eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG (VG Ansbach, U.v. 16.3.2017 - AN 1 K 16.32047 - juris Rn. 76). Außerdem verstößt eine Zwangsverheiratung auch gegen die Freiheit der Eheschließung, die in internationalen Konventionen (Art. 13 EMRK, Art. 9 GR-Charta, Art. 16 Abs. 2 UN-Menschenrechtserklärung) garantiert ist (vgl. hierzu BayVGH, U.v. 17.3.2016 - 13a B 15.30241- juris).
15
Die Verfolgung knüpft an das Geschlecht der Klägerin an. Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft.
16
Die Verfolgung ging von der Familie, also nichtstaatlichen Akteuren im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG aus. Der eritreische Staat ist jedoch zur Überzeugung des Gerichts nicht willens und in der Lage, Frauen, die von ihrer Familie bedroht oder gegen ihren Willen zwangsverheiratet werden, Schutz zu bieten. In der überwiegend ländlichen Bevölkerung herrscht ein von traditionellen Wertvorstellungen geprägtes Rollenverständnis von Frauen vor (Kindererziehung, Haus- und Feldarbeit, keine sexuelle Selbstbestimmung). Viele unverheiratete Mütter, auch wenn die Schwangerschaft auf sexuelle Gewalt zurückzuführen ist, sind von gesellschaftlicher Ächtung, oft auch in der eigenen Familie betroffen. Familiäre Gewalt und sexuelle Ausbeutung innerhalb der Familie einschließlich Zwangsheirat wurde von vielen unbegleiteten Mädchen, die Eritrea alleine verlassen haben, in einer Studie von UNHCR und Danish Refugee Council als Grund für das Verlassen des Landes angegeben (Auswärtiges Amt, Lagebericht zu Eritrea vom 25.2.2018, S. 14). Nach einer Schnellrecherche der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Länderanalyse vom 13.2.2018 zu sexualisierter Gewalt gegen Frauen in Eritrea) sind die Rechtssysteme zum Schutz, Prävention, Bestrafung und Beseitigung von Gewalt gegen Frauen beschränkt und unwirksam. Sexualisierte Gewalt in Eritrea sei ein Tabuthema. Frauen würden aufgrund kultureller Normen und Scham davon abgehalten, sexualisierte Gewalt zur Anzeige zu bringen. Wenn eine Frau den Vorfall vor Gericht bringen würde, würde die ganze Nachbarschaft vom Geschehenen erfahren und in der Folge würde diese Schande über die Familie bringen und niemand würde das vergewaltigte Mädchen heiraten. Auch viele Eltern von Betroffenen würden aus Angst vor Stigmatisierung und Ausgrenzung des Mädchens eine Anzeige vermeiden. Diese Feststellungen der Schweizer Flüchtlingshilfe stimmen überein mit der Situation, die die Klägerin dem Gericht in der mündlichen Verhandlung geschildert hat. Sie hat von ihren Eltern keinerlei Unterstützung erhalten und für die Familie wäre die Zwangsverheiratung mit dem Vergewaltiger die einzige Möglichkeit gewesen, „die Schande“ zu tilgen. Nach der Berichtslage werden z. B. auch (wohl häufig stattfindende) Vergewaltigungen von Frauen während ihres Nationaldienstes nicht geahndet. Es muss daher davon ausgegangen werden, dass die Klägerin keinen staatlichen Schutz gegen die beabsichtigte Zwangsverheiratung erreichen konnte, zumal sie noch minderjährig war und ihre Eltern sie nicht unterstützt haben. Die Klägerin konnte auch keine interne Schutzalternative (§ 3e AsylG) in einem Teil ihres Herkunftsland erlangen.
17
Da die Klägerin somit vorverfolgt ausgereist ist, ist dies gemäß Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status von Flüchtlingen oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (RL 2011/95/EU) ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. dass der Schutzsuchende tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Schutzsuchende erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Solche Gründe sind jedoch nicht ersichtlich, da die Klägerin, die mittlerweile Mutter eines Kleinkindes ist, im Falle einer Rückkehr nach Eritrea zwangsläufig zu ihren Eltern zurück kehren müsste, um überhaupt das Existenzminimum für sich und ihr Kind sicherzustellen.
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Die Klägerin hat daher einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 AsylG.
19
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.