Inhalt

VG München, Urteil v. 16.01.2019 – M 18 K 17.3303
Titel:

Einsatz des Kindergeldes als Kostenbeitrag bei Vollwaisen

Normenketten:
SGB VIII § 92 Abs. 1 Nr. 1, § 93 Abs. 1 S. 3, § 94
BKGG § 1
Leitsätze:
1. Der Zweck des sozialrechtlichen Kindergeldes beschränkt sich bei Vollwaisen auf die Unterhaltssicherung. Wird diese bereits durch eine Heimunterbringung gewährleistet, liegt Zweckidentität zwischen der jugendhilferechtlichen Leistung und der Kindergeldleistung vor, so dass das Kindergeld nach § 93 Abs. 1 S. 3 SGB VIII einzusetzen ist. (redaktioneller Leitsatz)
2. Der steuerrechtliche Kindergeldbegriff in § 93 Abs. 1 S. 4 SGB VIII umfasst nicht auch das Kindergeld für Vollwaisen nach § 1 Abs. 2 BKGG. (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kostenbeitrag für vollstationäre Jugendhilfe, Kindergeldberechtigung einer Vollwaisen in Heimunterbringung, Einsetzen des Kindergeldes nach § 1 BKGG als Kostenbeitrag, Kostenbeitrag, vollstationäre Jugendhilfe, Kindergeldberechtigung, Vollwaise, Heimunterbringung, Kindergeld, Erkrankung, Erziehung, Kostenbeteiligung, Kostenbeitragspflicht
Fundstelle:
BeckRS 2019, 3564

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Klägerin begehrt die Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 7. Oktober 2016 in Gestalt des Bescheides der Widerspruchsbehörde vom 5. Juli 2017, mit dem von ihr ein Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes gefordert wird.
2
Die Klägerin ist am ... geboren. Am 1. September 2006 verstarb die Mutter der Klägerin. Aufgrund einer schwerwiegenden Erkrankung des Vaters der Klägerin stellte dieser am 16. April 2015 einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung in Form von Heimunterbringung für die Klägerin. Am gleichen Tag unterschrieb der Vater der Klägerin eine sogenannte Information zur Kostenbeteiligung der Beklagten, in der auf die Kostenbeitragspflicht hingewiesen wird.
3
Die Klägerin und ein Bruder der Klägerin zogen am ... in ein Heim. Mit Bescheid vom 11. Juni 2015 wurde dem Vater der Klägerin Jugendhilfe ab dem 3. Juni 2015 bis zum 3. April 2018 in Form von Hilfe zur Erziehung in Form von Heimunterbringung gewährt.
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Mit Bescheid vom 11. Juni 2015 an den Kindsvater wurde von diesem ein Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes ab dem 3. Juni 2015 bis auf weiteres gefordert. Ein Abzweigungsantrag bezüglich des Kindesgeldes für die Klägerin wurde am selben Tag bei der Familienkasse gestellt und das Kindergeld direkt an die Beklagte ausgezahlt.
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Der Kindsvater verstarb am 25. September 2015. Am 8. Oktober 2015 wurde das Jugendamt der Beklagten als Vormund der Klägerin bestellt.
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Mit Schreiben der Vormündin an die wirtschaftliche Jugendhilfe der Beklagten vom 3. März 2016 wurde mitgeteilt, dass nach § 1 BKGG die Klägerin als Vollwaise einen eigenen Anspruch auf Kindergeld habe. Ein Antrag diesbezüglich sei bereits gestellt worden. Eine Rechtsgrundlage für die Heranziehung der Klägerin selbst in Höhe des Kindergeldes gebe es in den §§ 92ff SGB VIII nicht. Die Auszahlung des Kindergeldes nach § 1 BKGG werde ab dem gewährten Zeitraum auf ein Konto der Klägerin gefordert.
7
Mit E-Mail vom 20. April 2016 wies die Beklagte das Ansinnen der Vormündin mit dem Argument, dass das Kindergeld von der Klägerin auf Grundlage des § 93 Abs. 1 S. 3 SGB VIII als zweckidentische Leistung eingefordert werden könne, zurück.
8
Nachdem eine hausinterne Klärung nicht möglich war, erließ die Beklagte am 7. Oktober 2016 den streitgegenständlichen Bescheid, adressiert an die Vormündin, mit dem die Klägerin verpflichtet wird, einen Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes vom 25. September 2015 bis auf weiteres zu leisten. Als Rechtsgrundlage wird § 93 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII angegeben.
9
Die Vormündin der Klägerin legte am 11. Oktober 2016 Widerspruch gegen den Bescheid ein. Kindergeldberechtigt sei im vorliegenden Fall kein Elternteil, sondern nach § 1 BKGG die Klägerin selbst. Minderjährige seien gemäß § 92 Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII nach Maßgabe der §§ 93, 94 SGB VIII aus ihrem Einkommen an den Kosten der Jugendhilfemaßnahme zu beteiligen. Kindergeld zähle hierbei nach § 93 Abs. 1 Satz 4 SGB VIII ausdrücklich nicht zum Einkommen der Klägerin. Eine Heranziehung eines kindergeldberechtigten Kindes aus dem Kindergeld als zweckgleiche Leistung im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII scheide aus. Das Bundesverwaltungsgericht habe klargestellt, dass das Kindergeld grundsätzlich nicht als zweckgleiche Leistung im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII zu werten sei, weil es der Förderung des Familien- und Leistungsausgleichs und nicht direkt dem Lebensunterhalt des Kindes diene (BVerwG, U. v. 22.12.1998 - 5 C 25.97; BVerfG vom 11.3.2010 - 1 BvR 3163/09). Diesen Zweck verliere das Kindergeld auch dann nicht, wenn es unmittelbar an das Kind ausgezahlt werde. Sinn und Zweck der Einführung eines Anspruchs sei es gewesen, eine zusätzliche finanzielle Verschlechterung der Lage des Kindes nach dem persönlichen Verlust der Eltern durch den Wegfall des Kindergeldes nicht eintreten zu lassen (SG Landshut, 17.4.2012 - S 10 KG 1/12 ER mit Verweis auf Bt-Drs. 10/2886, 9). Kindergeld werde auch in den Empfehlungen des Bayerischen Landesjugendamtes zur Berechnung von Kostenbeiträgen (Stand 1.1.2016) nicht bei Leistungen, die dem gleichen Zweck dienen, aufgeführt (vgl. Nr. 93.01.02). Ergänzend wurde darauf hingewiesen, dass im Entwurf zur Änderung des SGB VIII zu § 94 SGB VIII neu aufgenommen werden solle, dass auch der junge Mensch als selbst Kindergeldberechtigter das Kindergeld einsetzen müsse. Daraus ergebe sich, dass dies eben gerade nicht vorgesehen sei und insoweit eine Regelungslücke bestehe. Weiter könne ein Kostenbeitrag nach § 92 SGB VIII erst ab dem Zeitpunkt erhoben werden, ab dem ihm die Gewährung einer Jugendhilfeleistung und die weiteren Informationen aus § 92 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII mitgeteilt worden seien. Diese notwendigen Informationen seien gegenüber der Klägerin nicht erfolgt.
10
Mit Widerspruchsbescheid der Regierung von Oberbayern vom 3. Juli 2017 wurden die Widersprüche (auch bezüglich des Verfahrens des Bruders der Klägerin) zurückgewiesen. Das Kindergeld stelle eine zweckbestimmte Leistung dar, die eingesetzt werden müsse. Es liege eine ungewollte Regelungslücke des Gesetzgebers vor, da § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII, der sich nur auf die kindergeldberechtigten Eltern nach dem Wortlaut beziehe, nicht direkt anwendbar sei. Nach Sinn und Zweck der Regelung sei jedenfalls auch in der vorliegenden Sachlage das Kindergeld durch die Klägerin einsetzbar. Sinn und Zweck der Kindergelder der Eltern und der Vollwaisen sei derselbe, nämlich die Unterhaltssicherung. Auch das aktuelle Gesetzgebungsverfahren zeige, dass es sich um eine unbeabsichtigte Regelungslücke handle. Rechtsgrundlage für die Kostenbeitragsforderung sei wegen der vergleichbaren Sachlage daher § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII analog.
11
Die Vormündin der Klägerin erhob für diese am 19. Juli 2017 Klage beim Verwaltungsgericht München mit dem Antrag,
den Bescheid der Beklagten vom 7. Oktober 2016 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 3. Juli 2017 aufzuheben.
12
Zur Begründung wurde auf die detaillierte Widerspruchsbegründung verwiesen.
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Mit weiterem Schriftsatz vom 8. März 2018 erklärte die Vormündin der Klägerin, dass mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren Einverständnis bestehe. Die Beklagte verzichtete mit Schreiben vom 8. Oktober 2018 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
14
Mit Schriftsatz der Beklagten vom 17. Oktober 2018 wurde beantragt,
die Klage abzuweisen.
15
Zur Begründung wurde auf die interne Stellungnahme der Beklagten vor Vorlage des Widerspruchs bei der Regierung von Oberbayern Bezug genommen. Nach dieser Stellungnahme diene das Kindergeld bei einer eigenen Kindergeldberechtigung von Vollwaisen dem Lebensunterhalt des Kindes und könne daher als zweckgleiche Leistung eingesetzt werden. Dies werde durch die Empfehlungen des Bayerischen Landesjugendamtes, der gemeinsamen Empfehlung der Arbeitsgemeinschaft der Jugendämter sowie deren Empfehlungen aus Hessen gestützt. Da bei stationären Jugendhilfeleistungen der Lebensunterhalt des Kindes sichergestellt werde, bestehe hier Zweckidentität. Dem anders lauteten Rechtsgutachten des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht (DIJuF) vom 30. Juli 2015 schließe sich die Beklagte nicht an, da das DIJuF die Rechtsprechung (BVerwG, 22.12.1998 - 5c 25.97 und BVerfG, 11.3.2010 - 1 BvR 3163/09) nicht korrekt interpretiere. Das Bundesverwaltungsgericht bejahe in seinem Urteil grundsätzlich die Zweckidentität, verneine sie jedoch in dem dem Urteil zugrunde liegenden besonderen Fall. Auch aus den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts ergebe sich, dass das Kindergeld dazu diene, die wirtschaftliche Lage von Familien mit Kindern zu verbessern und deren Lebensunterhalt zu sichern.
16
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Gerichtssowie die beigezogen Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist unbegründet.
18
Der streitgegenständliche Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
19
Die Klägerin kann aus dem von ihr als Vollwaise bezogenen Kindergeld nach § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Alt. 1 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) von der Beklagten nach § 92 Abs. 2 i.V.m. 93 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII herangezogen werden, da Kindergeld nach § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Alt. 1 BKGG (im Folgenden: sozialrechtliches Kindergeld) dem gleichen Zweck wie die der Klägerin geleistete Jugendhilfe dient.
20
Nach § 93 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII zählen Geldleistungen, die dem gleichen Zwecke wie die jeweilige Leistung der Jugendhilfe dienen, nicht zum Einkommen und sind unabhängig von einem Kostenbeitrag einzusetzen. Eine Doppelverwendung staatlicher Mittel für denselben Zweck soll dadurch vermieden werden (Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Auflage 2019, § 93 Rn. 11). Die Prüfung der Zweckidentität muss jeweils bezogen auf die konkrete Maßnahme der Jugendhilfe ermittelt werden (BVerwG, U.v.22.12.1998 - 5 C 25/97 - juris Rn. 18).
21
Die der Klägerin konkret geleistete Heimunterbringung nach § 27 Abs. 1 i.V.m. § 34 Satz 1 und 2 Nr. 3 SGB VIII soll ihr eine auf längere Zeit angelegte Lebensform bieten und sie auf ein selbstständiges Leben vorbereiten. Diese jugendhilferechtliche Leistungen stellt neben der Heimunterbringung und Erziehung der Klägerin auch den notwendigen Lebensunterhalt sowie Krankenhilfe sicher, §§ 34, 39, 40 SGB VIII.
22
Der Zweck des sozialrechtlichen Kindergeldes beschränkt sich bei Vollwaisen auf die Unterhaltssicherung. Da diese im vorliegenden Fall bereits durch die von der Beklagten gewährleisteten Heimunterbringung gewährt wird, liegt Zweckidentität zwischen den jugendhilferechtlichen Leistung und der Kindergeldleistung vor.
23
Nach § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 BKGG erhält Kindergeld für sich selbst, wer Vollwaise ist. Zweck hierbei ist es, eine finanzielle Schlechterstellung von Vollwaisen nach dem Tod ihrer Eltern zu verhindern.
24
Aus der Gesetzeshistorie ergibt sich, dass das Kindergeld zum Familienlastenausgleich eingeführt wurde, um die wirtschaftliche Lage der Familien zu stärken (Bt-Drs. IV/818, S. 11f.). Bereits in dem Entwurf eines Bundeskindergeldgesetzes vom 7. Dezember 1962 erhielten Eltern und andere, Kinder an Eltern statt betreuende Personen Kindergeld ab dem zweiten betreuten Kind. Darunter fielen auch Geschwister, die ihre Geschwister in ihren Haushalt aufnehmen oder überwiegend unterhalten (Bt-Drs. IV/818, S. 2). Die im Jahr 1985 vorgenommene Änderung des Wortlautes der Vorschrift auf den Kindergeldbezug für Vollwaisen hatte den Zweck, haushaltsführenden Geschwistern nach dem Tod der Eltern neben dem Anspruch auf Kindergeld für die betreuten Geschwister einen eigenen Kindergeldanspruch für sich selbst einzuräumen, da ansonsten - neben dem Verlust des Einkommens der Eltern - eine (weitere) Verschlechterung der Finanzen durch den Verlust des Kindergeldes für das nun haushaltsführende bzw. das jüngste Geschwister wegen der Gewährung ab dem zweiten Kind eintreten würde (so BT-Drs. 10/2886, S. 9 Punkt 4). Der Kindergeldanspruch für Vollwaisen wurde dem o.g. Zweck entsprechend in § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Alt. 1 BKGG a.F. übernommen, ohne im Gesetzestext auf das Merkmal der Haushaltsführung einzugehen (BT-Drs. 10/3369 S. 11f.). 1996 erfolgte die Aufsplittung des Kindergeldes in ein Kindergeld nach § 31 i.V.m. Abschnitt X des Einkommensteuergesetz (im Folgenden: steuerrechtliches Kindergeld) für Personen, die dem EStG unterliegen und einem Kindergeld für andere Personenkreise (Jahressteuergesetz 1996 vom 11.Oktober 1995, BGBl. I S. 1250, 1378f.).
25
Mit Urteil vom 5. Mai 2015 bestätigte das Bundessozialgericht die Zwecksetzung des sozialrechtlichen Kindergelds, finanzielle Belastungen durch die Personensorge für Kinder und finanzielle Mehrbelastungen durch die Kindererziehung bzw. besonderen Bedürfnisse von Kindern und Heranwachsenden auszugleichen („Kinder kosten“). Im Fall von alleinstehenden Vollwaisen dient es als Ausgleich für die eigenen Belastungen (Az. B 10 KG 1/14 R - juris Rn. 10, 27).
26
Die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Zweck des steuerrechtlichen Kindergeldes steht einer Klageabweisung nicht entgegen:
27
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes dient das steuerrechtliche Kindergeld dem allgemeinen Zweck des Familienlastenausgleiches, wobei den Eltern ein weiter Verwendungsrahmen zugunsten des Kindes für das Geld zukommt (BVerwG, U.v. 22.12.1998 - 5 C 25/97 - juris Rn. 18; BVerwG, U.v. 12.5.2011 - 5 C 10/10 - juris Rn.15). Systematisch handelt es sich hierbei um die steuerliche Freistellung des Elterneinkommens in Höhe des Existenzminimums eines Kindes einschließlich der Bedarfe für Betreuung und Erziehung oder Ausbildung, § 31 Abs. 1 S. 1 EStG. Soweit das Kindergeld dafür nicht erforderlich ist, dient es der Förderung der Familie, § 31 Abs. 1 Satz 2 EStG (BVerwG, U.v. 12.5.2011 - 5 C 10/10 - juris Rn.14).
28
Im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. Dezember 1998 (a.a.O.) wurde bei der jugendhilferechtlichen Unterbringung einer (halbwaisen) Leistungsberechtigten in einem Heim eine Zweckidentität mit dem steuerrechtlichen Kindergeld, das der Vater bezog, verneint. Das Bundesverwaltungsgericht stützte sich hierbei auf den dem Vater eingeräumten weiten Verwendungsrahmen des Kindergeldes. Wegen der in diesem Fall noch fortbestehenden Eltern-Kind-Kontakte und erheblichen finanziellen Belastungen des Vaters durch das Aufkommen für Schulgeld und Hobbys der Klägerin lasse die Heimunterbringung unter Berücksichtigung des weiten Verwendungsrahmens noch Raum für die besondere Zweckbestimmung des Kindergeldes.
29
Der dem Urteil zu Grunde liegende Fall ist insoweit jedoch mit dem der Klägerin nicht vergleichbar, da vorliegend kein Eltern-Kind-Kontakt mehr bestehen kann und eine (finanzielle) Entlastung der „Herkunftsfamilie“ von den für die Klägerin getätigten Aufwendungen durch den Status der Klägerin als Vollwaise denklogisch nicht mehr möglich ist.
30
Weiter erklärte das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 12. Mai 2011 (Az. 5 C 10/10 - juris Rn. 11, 14ff.) ausdrücklich, dass das steuerrechtliche Kindergeld kostenbeitragsrechtlich dem Einkommen der Eltern des Leistungsberechtigten zuzurechnen sei, da der Zweck des Familienlastenausgleichs durch die Bedarfsdeckung und Sicherstellung des notwendigen Unterhalts des leistungsberechtigten Kindes in der Jugendhilfe erreicht werde. Dies ergebe sich auch aus der Einführung des § 94 Abs. 3 S. 1 SGB VIII im Jahr 2005.
31
Auch das Bundesverfassungsgericht sieht das steuerrechtliche Kindergeld als eine Leistung zur Förderung der Familie, die dazu dient, die wirtschaftliche Lage von Familien mit Kindern im Verhältnis zu solchen ohne Kinder zu verbessern und deren Lebensunterhalt zu sichern (BVerfG, B.v.11.3.2010 - 1 BvR 3163/09 - juris Rn. 5). Das Kindergeld für Vollwaisen nach § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BKGG dient damit ausschließlich dem Unterhalt und ist als zweckidentische Leistung nach § 93 Abs. 1 S. 3 SGB VIII einzusetzen.
32
§ 93 Abs. 1 S. 4 SGB VIII steht einer Subsumtion des Kindergeldes nach § 1 Abs. 2 BKGG unter § 93 Abs. 1 S. 3 SGB VIII nicht entgegen.
33
Nach dem Wortlaut des § 93 Abs. 1 S. 4 SGB VIII ist Kindergeld nicht als Einkommen zu berücksichtigen. Eine Unterscheidung bezüglich der Rechtsgrundlage des Kindergeldes ist der Vorschrift nach dem Wortlaut nicht zu entnehmen.
34
Aus der Gesetzesbegründung bezüglich der Einfügung der Formulierung „Kindergeld“ in § 93 Abs. 1 S. 4 SGB VIII ergibt sich, dass der Gesetzgeber mit der Einfügung lediglich die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht nachvollziehen wollte, die jedoch nur das steuerrechtlichen Kindergeld betraf (Bt-Drs. 17/13023, S. 14 Punkt 7a). Aus dem Zusammenhang der Begründung mit der Begründung zur Änderung des § 94 Abs. 3 S. 1 SGB VIII unter Nr. 8a) (Bt-Drs. 17/13023 S. 15) folgt, dass der Gesetzgeber bei der Einfügung des Begriffs „Kindergeld“ in § 93 Abs. 1 S. 4 SGB VIII lediglich das steuerrechtliche Kindergeld, das die Eltern der Leistungsempfänger beziehen, bedacht hatte.
35
Auch ist der Grund, weshalb das steuerrechtliche Kindergeld in § 93 Abs. 1 S. 4 SGB VIII ausgenommen wurde, nicht für die Situation des Kindergelds nach § 1 Abs. 2 BKGG anwendbar. Das steuerrechtliche Kindergeld sollte nach § 94 Abs. 3 S. 1 SGB VIII unabhängig von einem etwaigen einkommensbezogenen Kostenbeitrag nach § 93 Abs. 1 SGB VIII als eigenständiger Kostenbeitrag erhoben werden, um eine Ungleichbehandlung der Elternteile bei der Kostenheranziehung zu verhindern. Da nur ein Elternteil das steuerrechtliche Kindergeld bezieht, konnte dieser das Kindergeld zur Erfüllung des Kostenbeitrags heranziehen und musste nur die Differenz zwischen dem Kindergeld und Kostenbeitrag aus seinem Einkommen bestreiten, während der andere Elternteil den gesamten Kostenbeitrag aus seinem Einkommen bezahlen musste. Deshalb sollte zur Gleichbehandlung der Eltern untereinander ein eigenständiger Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes nur beim kindergeldbeziehenden Elternteil erfolgen, während der einkommensabhängige Kostenbeitrag ohne das steuerrechtliche Kindergeld berechnet wurde (Bt-Drs. 17/13023 S. 15 unter Punkt 8a); Wiesner, Kommentar SGB VIII, § 93 Rn. 13f.). Dieser Zweck der Ausgliederung des Kindergeldes aus dem Einkommensbegriff im Sinne des § 93 Abs. 1 SGB VIII durch die Aufnahme in § 93 Abs. 1 S. 4 SGB VIII kann offensichtlich im Fall des hier vorliegenden Kindergeldes für Vollwaise nicht erreicht werden. Der Kindergeldbegriff in § 93 Abs. 1 S. 4 SGB VIII umfasst daher nicht auch das Kindergeld für Vollwaisen nach § 1 Abs. 2 BKGG.
36
Entgegen der Ansicht der Klagepartei fehlt es auch nicht an einer vorherigen Aufklärung der Klägerin über ihre Beitragspflicht nach § 92 Abs. 3 S. 1 SGB VIII. Denn sowohl nach dem Wortlaut, als auch nach dem Telos des § 92 Abs. 3 S. 1 SGB VIII kommt eine Anwendung dieser Vorschrift auf den Fall der Klägerin als kindergeldberechtigter Leistungsempfängerin nicht in Betracht. Denn § 92 Abs. 3 S. 1 SGB VIII nimmt lediglich auf die Personengruppen des § 92 Abs. 1 Nr. 4 und 5 SGB VIII Bezug, während die Klägerin nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 bzw. Nr. 2 SGB VIII herangezogen wird.
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Einer Analogie zu § 94 Abs. 3 S. 1 SGB VIII - wie von der Widerspruchsbehörde angenommen -bedarf es wegen der Subsumtion des Kindergeldes für Vollwaisen unter § 93 Abs. 1 S. 3 SGB VIII nicht.
38
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 188 S. 2 VwGO.
39
Die Regelung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 ZPO.