Inhalt

VG Würzburg, Beschluss v. 24.07.2019 – W 8 S 19.50602
Titel:

Abschiebungsanordnung nach Frankreich

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5, § 154 Abs. 1
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2, Art. 12 Abs. 4, Art. 17 Abs. 1
AufenthG § 60 Abs. 7, § 60 a Abs. 2c
Leitsatz:
Das französische Asylsystem leidet nicht an systemischen Mängeln, da der französische Staat willens und in der Lage ist Schutz vor strafbaren Handlungen zu gewähren, sodass bei eine Rücküberstellung eines Asylbewerbers keine unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlungen zu befürchten sind. (Rn. 9 – 14) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
einstweiliger Rechtsschutz, Dublin-Verfahren, algerischer Staatsangehöriger, Abschiebungsanordnung nach Frankreich, keine systemischen Mängel des Asylverfahrens in Frankreich, angebliche Bedrohung durch Privatpersonen, französischer Staat schutzfähig und schutzwillig, medizinische Versorgung auch bei psychischen Erkrankungen gewährleistet, keine qualifizierten ärztlichen Bescheinigungen, Abschiebungsanordnung, systemische Mängel
Fundstelle:
BeckRS 2019, 18896

Tenor

I. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller ist algerischer Staatsangehöriger. Er reiste am 25. März 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein, äußerte am 2. April 2019 ein Asylgesuch und stellte am 10. April 2019 einen Asylantrag.
2
Nach den Erkenntnissen der Antragsgegnerin lagen Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO) vor. Auf ein Übernahmeersuchen vom 10. Mai 2019 erklärten die französischen Behörden mit Schreiben vom 9. Juli 2019 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrages gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO.
3
Mit Bescheid vom 10. Juli 2019 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag als unzulässig ab (Nr. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Die Abschiebung nach Frankreich wurde angeordnet (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf zehn Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
4
Am 18. Juli 2019 erhob der Antragsteller zu Protokoll des Urkundsbeamten im Verfahren W 8 K 19.50601 Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid und beantragte im vorliegenden Sofortverfahren:
5
Die aufschiebende Wirkung der Klage wird angeordnet.
6
Zur Begründung verwies der Antragsteller auf seine Angaben beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und brachte im Wesentlichen weiter vor: Er habe Probleme mit algerischen Geschäftsleuten in Algerien und Frankreich bekommen. Er habe ein Unternehmen gehabt, welches Kleider in Frankreich gekauft und in Algerien an Geschäftsleute weiterverkauft habe. Von den Geschäftsleuten habe er Geld für die Kleider erhalten. Der Antragsteller sei nach Frankreich, um wieder Kleider zu kaufen. Dabei habe er jedoch das Geld verloren. Er sei von den Geschäftsleuten bedroht worden. Diese hätten ihm mitgeteilt, dass sie ihn töten würden. Sie würden ihn auch in Frankreich finden. In Frankreich gebe es viele algerische Staatsangehörige. Der Bruder des Antragstellers sei von Leuten der Geschäftsleute zusammengeschlagen worden und zwei Monate im Krankenhaus gewesen, davon zwei Tage im Koma. Der Antragsteller könne nicht nach Algerien zurück und auch nicht in Frankreich bleiben. Er könne nicht schlafen und habe Albträume. Er sei in psychologischer Behandlung. Er habe jede Woche einen Termin. Er habe auch Knieprobleme und brauche eine Operation. Er wolle noch Dokumente nachreichen.
7
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte des Klageverfahrens W 8 K 19.50601) und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
8
Bei verständiger Würdigung des Vorbringens des Antragstellers ist der Antrag dahingehend auszulegen, dass er die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des Bundesamtsbescheides vom 10. Juli 2019 begehrt.
9
Der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO - betreffend die Abschiebungsanordnung unter Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids - ist zulässig, aber unbegründet.
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Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 10. Juli 2019 ist bei der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung in Nr. 3 rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten, so dass das öffentliche Vollzugsinteresse das private Interesse des Antragstellers, vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache noch im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, überwiegt.
11
Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die zutreffenden Gründe des streitgegenständlichen Bescheides verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Das Vorbringen in der Antragsbegründung führt zu keiner anderen Beurteilung.
12
Frankreich ist für die Durchführung des Asylverfahrens gemäß den Vorschriften der Dublin III-VO zuständig (§§ 34a, 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG i.V.m. der Dublin III-VO). Die Zuständigkeit Frankreichs ergibt sich vorliegend aus Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO. Die französischen Behörden haben ausdrücklich ihre Zuständigkeit anerkannt.
13
Außergewöhnliche Umstände, die möglicherweise für ein Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO bzw. für eine entsprechende Pflicht der Antragsgegnerin nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO sprechen könnten, sind vorliegend nicht glaubhaft gemacht. Insbesondere ist nach derzeitigem Erkenntnisstand und unter Berücksichtigung der hierzu einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 - C-411/10 u.a. - NVwZ 2012, 417) nicht davon auszugehen, dass das französische Asylsystem an systemischen Mängeln leidet, aufgrund derer die dorthin rücküberstellten Asylbewerber einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Grundrechtscharta (GRCharta) ausgesetzt wären.
14
Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen bestehen keine Anhaltspunkte für das Vorliegen solcher Mängel im französischem Asylsystem (ebenso VG Lüneburg, B.v. 14.3.2019 - 8 B 41/19 - juris m.w.N.), zumal der Antragsteller nichts Dahingehendes vorgebracht hat. In Frankreich existiert ein rechtsstaatliches Asylverfahren mit gerichtlicher Beschwerdemöglichkeit. Anträge von Dublin-Rückkehrern werden wie jeder andere Asylantrag behandelt. Dublin-Rückkehrer haben denselben Zugang zur Unterbringung wie reguläre Asylbewerber. Sie erhalten eine Beihilfe. Sie haben Anspruch auf medizinische Versorgung, einschließlich psychischer und psychologischer Hilfe. Außerdem haben Asylbewerber Zugang zum Arbeitsmarkt, wenn über ihren Asylantrag nicht innerhalb von neun Monaten entschieden ist (siehe BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Frankreich vom 29.1.2018 m.w.N.).
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Ferner ist nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin ermessensfehlerhaft keinen Gebrauch von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Dublin III-VO gemacht hat.
16
Das Vorbringen des Antragstellers, er werde von algerischen Geschäftsleuten wegen des Verlustes von Geld auch in Frankreich bedroht, führt zu keiner anderen Beurteilung. Denn Frankreich ist ein Rechtsstaat. Der französische Staat ist willens und in der Lage, die in seinem Staatsgebiet sich aufhaltenden Personen vor strafbaren Handlungen zu schützen, wenn auch ein absoluter Schutz nicht möglich ist. Dem Antragsteller ist es zuzumuten, sich bei drohenden Gefahren, wie die von ihm behaupteten, an die französische Polizei oder an sonstige Institutionen zu wenden, um Hilfe und Schutz zu erhalten. Der Antragsteller hat nicht vorgebracht, dass er dies schon erfolglos versucht habe. Abgesehen davon ist schon fraglich, ob die Geschäftsleute den Antragsteller überhaupt in Frankreich finden würden.
17
Auch sonst liegen beim Antragsteller weder zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse noch nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG - bezogen auf Frankreich - noch inlandsbezogene Vollzugshindernisse vor.
18
Insbesondere sind keine gewichtigen Erkrankungen (psychische Probleme, Kniebeschwerden) ersichtlich, die in Frankreich nicht behandelt bzw. weiterbehandelt werden könnten. Medizinische Behandlungsmöglichkeiten sind in Frankreich - wie generell in der EU - in ausreichendem Maße verfügbar. Der Antragsteller hat überdies keine qualifizierten ärztlichen Atteste gemäß § 60a Abs. 2c AufenthG vorgelegt, denen zu entnehmen wäre, dass die Behandlung bzw. die Weiterbehandlung der Erkrankungen des Antragstellers gerade und nur in der Bundesrepublik Deutschland erfolgen könnte und nicht auch in Frankreich möglich wäre. Das ärztliche Attest vom 18. Juli 2019 enthält neben der Diagnose (Innenmeniskusriss, Kreuzbandruptur) lediglich die Aussage, dass zur Behebung der Beschwerden beim Landratsamt eine Athroskopie beantragt worden sei; eine Kostenzusage sei noch nicht erfolgt.
19
Der Antragsteller ist zudem von Rechts wegen gehalten, alsbald und mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden wesentlichen bzw. lebensbedrohlichen Gesundheitsverschlechterungen im Rahmen des zur Verfügung stehenden französischen Gesundheitssystems zu begegnen und die dortigen Möglichkeiten auszuschöpfen, um eventuelle Gesundheitsgefahren zu vermeiden bzw. jedenfalls zu minimieren und ihnen die Spitze zu nehmen. Außerdem liegt nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur bei lebensbedrohlichen und schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Für die Annahme einer solchen Gefahr fehlen greifbare Anhaltspunkte.
20
Des Weiteren geht das Gericht davon aus, dass die mit der Rückführung befassten deutschen Behörden im vorliegenden Einzelfall - soweit überhaupt erforderlich - geeignete Vorkehrungen zum Schutz des Antragstellers treffen werden und insbesondere vor bzw. bei der Überstellung den zuständigen Mitgliedsstaat die nötigen Informationen über die besonderen Bedürfnisse des Antragstellers bezüglich seiner Gesundheit übermitteln werden (vgl. Art. 29 Abs. 1 UA 2 Dublin III-VO, Art. 32 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO).
21
Schließlich sind auch inlandsbezogene Abschiebungshindernisse, die die Antragsgegnerin selbst zu berücksichtigen hätte, nicht ersichtlich.
22
Im Ergebnis hat der Antragsteller keinen Anspruch, dass die Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung vorläufig ausgesetzt wird.
23
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage war daher abzulehnen.
24
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.